"Bilder der Erwartung" und "Warten auf Erlösung". Projektmodelle von Norbert Kottmann

Jan Winkelmann

"Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild."
Caspar David Friedrich

"Bilder der Erwartung" und "Warten auf Erlösung" so Norbert Kottmann, umschreiben die zentralen Themen seiner Arbeit. Erstgenanntes könnte als ein Hinweis auf den formalen Rahmen, das Zweite als die grundlegende ethische Haltung des Künstlers gesehen werden. Als eine Synthese zweier gegensätzlicher Faktoren wurde diese durch seine ländlich katholische Herkunft beeinflußt, deren Verhaltensmuster von Religiosität, insbesondere von Schicksalsglauben geprägt sind. Hinzu kommt eine Vorstellung von Vergeistigung der Natur, auf der eine Wesensverwandtschaft des Künstlers zu den deutschen Romantikern beruht. In Gegensatz hierzu tritt der Einfluß der zeitgenössischen Kunst, der sich auf formaler und methodischer Ebene niederschlägt. Abgesehen von den frühen Skulpturen sind seine Arbeiten in erster Linie keine autonomen Werke, sondern zeichnen sich überwiegend durch ihren Modell- und Verweischarakter aus. Es steht nicht die Umsetzung von inhaltlichen und ästhetisch-formalen Fragestellungen im Vordergrund, sondern die Visualisierung einer Idee innerhalb eines größeren Kontextes.

Der Gegenstand dient hierbei nicht per se zur Darstellung oder als Illustration einer Idee, sondern steht als pars pro toto in einem Gesamtzusammenhang. Dem endgültigen Produkt kommt in diesem Sinne kein auf sich selbst bezogener Absolutheitsanspruch zu, sondern es stellt eine von vielen möglichen Lösungen dar. Keineswegs läßt sich aus dieser Tatsache eine formale Beliebigkeit ableiten. Die Objekte Kottmanns sind auf ein Minimum der zu ihrer Funktionalität benötigten Eigenschaften reduziert. Man vergleiche hierzu die frühen Arbeiten wie Büro Standard, 1990, Geheimschrank, 1989/90 und Stadtschreiberstuhl, 1991, und auch die Einrichtungsgegenständen der verschiedenen Projektbüros. Durch die Minimalisierung der Formen wird jede über das Objekt hinausgehende und dadurch von der wesentlichen Idee ablenkende Assoziation vermieden. Dem Arbeitsmaterial kommt eine überwiegend konzeptionelle Bedeutung zu. Die Beschränkung auf hauptsächlich ein Arbeitsmaterial und das Material an sich, unbearbeiteter Rohspan, verstärken nicht nur die bereits erwähnte formale Reduktion, sondern evozieren einen bewußt provisorischen und modellhaften Charakter der Objekte, der durch die überwiegende Farblosigkeit zusätzlich verstärkt wird.

Seit 1992 arbeitet der Künstler hauptsächlich an umfangreichen Projekten, die in der Regel in mehreren Stufen realisiert werden. Die Baut Tatlin Kampagne umfaßt den Zeitraum von 1989 bis 1993. Ausgehend von der Beschäftigung mit den revolutionären Ideen des russischen Konstruktivismus nimmt der Turm für die III. Internationale von Vladimir Tatlin in Kottmanns Werk eine zentrale Rolle ein. Für ihn ist Tatlins Entwurf nicht nur ein herausragendes Beispiel für die künstlerisch architektonische Umsetzung des Strebens der russischen Avantgardisten nach einer gesellschaftlichen Erneuerung, die alle Bereiche des menschlichen Lebens einschließt. Über diese inhaltliche Dimension hinaus wird Tatlins Turm aufgrund der Tatsache, daß er nie gebaut wurde, zum Sinnbild künstlerischer und gesellschaftlicher Utopie schlechthin.

Der Potsdamer Platz in Berlins Mitte schien als Standort des Turmes, der symbolisch die demokratische Gewaltenteilung visualisiert, hervorragend geeignet. Er wäre dort nicht nur ein "symbolisches Architekturdenkmal für die historische Überwindung des Ost-West-Konfliktes", sondern die Doppelspirale des Turmes würde, nicht nur im übertragenen, sondern auch im bildlichen Sinne die "geschichtliche Stadtwunde vernähen"(1). Kottmann transportiert nicht ausschließlich Vergangenheit in Gegenwart, indem er die soziopolitische Situation des revolutionären Rußlands der 10er und 20er Jahre mit der Deutschlands nach dem Fall der Mauer vergleicht, er projiziert die semantische Dimension gleichzeitig in die Zukunft, da er den Turm auf dem Potsdamer Platz als Parlamentsgebäude der noch zu gründenden Vereinigten Staaten von Eurasien projektierte. Was anfangs lediglich als eine Aufforderung, nicht ausschließlich auf Zukunftsvisionen fixiert zu sein, sondern sich auch an die nicht realisierten gesellschaftlichen und/oder kulturellen Modelle, der Vergangenheit zu erinnern, gedacht war, erlangt durch die realen politischen Veränderungen in Deutschland eine besondere Aktualität. Es geht dem Künstler weniger um die Errichtung des Turms an dem vorgesehenen Platz, sondern vielmehr um eine Transformation der Ideen der revolutionären Architektur-Avantgarde in die heutige Zeit. Der Utopie wird nicht in der Gegenwart eine neue, vielleicht veränderte Gültigkeit zuerkannt, sie wird von ihrer (kunst)historischen Dimension befreit, um im Jetzt exemplarisch zu wirken. In diesem Sinne könnte Baut Tatlin als eine Art zeitgenössisch romantische Idealisierung von Utopie umschrieben werden.

Die Grundzüge von Kottmanns künstlerischem Schaffen werden hier in klarer Form deutlich: die Modellhaftigkeit seines Engagements, die Schaffung von Kommunikationsstrukturen und der Glaube an die potentiell positiv verändernde Kraft und Wirkung der Kunst. Die Welt als zugebautes, verplantes und verwaltetes Ganzes dient ihm hierfür als Grundlage. Innerhalb dieser entdeckt er, wie er es nennt "Freiflächen", seien es architektonische, wie der Potsdamer Platz bei der Baut Tatlin Kampagne, landschaftliche bei Olympia 2004, museale bei den 12 Aposteln, oder soziale Lücken und funktionale Leerstellen, wie bei Hausmeister, oder der Bank für Potsdam die er als Ausgangspunkt seiner Arbeiten nutzt, die ihm gleichzeitig aber auch wieder als Projektionsfläche derselben dient. Es werden Szenerien entworfen, die nicht vorgeben gebrauchsfertige und unmittelbar anwendbare Lösungen zu sein. Der Betrachter, der das angebotene visuelle und geistige Material weiterdenkt und somit das Werk letztlich vollendet, ist notwendiger Bestandteil desselben. Die Tatsache, daß hierbei die Richtung weitestgehend vorgegeben ist, ist Teil der durchaus moralischen Haltung, deren Ursprung sich in dem Glauben, durch die Kunst der Vergeblichkeit allen Tuns etwas entgegenzusetzen, gründet. Einem passiven Pessimismus stellt der Künstler mit seinen Arbeiten eine überwiegend optimistische Haltung gegenüber, nicht zuletzt, um diesen Pessimismus zumindest im ästhetischen Bereich zu überwinden.

Dies tritt besonders deutlich in der Arbeit Oylmpiabüro zutage, bei der sich, ähnlich dem Baut Tatlin Büro, Wirklichkeit und Vorstellung auf für den Betrachter gelegentlich irritierende Weise vermischen. Ausgehend von der Feststellung, daß von der ursprünglichen olympischen Idee der Völkerverständigung an der Jahrtausendwende ein Großteil dem kommerziellen Schauspiel geopfert wurde, möchte Kottmann die Gestaltung der Olympischen Spiele im Jahre 2004 in die Hand von Künstlern legen. Um die Realisierung dieser Idee zu forcieren, richtete er ein Bewerbungs- und Organisationsbüro ein. "Die Ausstattung des Büros mit den Rohspanmöbeln, ... (das erstes seiner Art ) bleibt in statu nascendi, da sich Realisiertes mit Fiktivem ebenso mischt wie der Maßstab zwischen dem tatsächlichen 1:1 und dem vorgestellten gigantischen Areal einer Massenveranstaltung."(2)

Sowohl Baut Tatlin, als auch Olympiabüro zeichnen sich in erster Linie durch ihre Konzepthaftigkeit aus. Bereits in ihrem gedanklichen Ansatz ist die bedingte Durchführbarkeit als wesentlicher Bestandteil des Werkes angelegt. Im Gegensatz dazu werden Hausmeister und Wege Münchner Künstler nicht nur zum Teil, sondern in vollem Umfang vom Künstler selbst realisiert. Hierdurch erfolgt einerseits eine Substitution des weitgehend utopischen Gehaltes durch die Wirklichkeit, und andererseits eine Erweiterung um eine soziale, kommunikative Dimension. Die zunehmende Identifizierung mit der dem Projekt zugrundeliegenden Idee, hat zur Folge, daß der Künstler durch seine Anwesenheit selbst zum Repräsentanten dieser Idee wird. Während das nüchterne Raumenvironment des Olympiabüros lediglich eine geistige Vorstellung vermittelt und sich die Auseinandersetzung mit dem Werk für den Betrachter auf eine rein gedankliche Ebene beschränkt, tritt der Künstler bei Hausmeister selbst in Erscheinung und ermöglicht dadurch eine direkte Kommunikation mit dem Betrachter. Der Besucher ist nicht nur Teil des Ganzen innerhalb des jeweiligen Planungsszenariums, sondern wird als "Gegenüber von sozialen Dienstleistungen zum Komplizen der jeweiligen Aktion"(3).

Wie bei fast allen Projekten entstand die Idee für Hausmeister in Reaktion auf eine vorgegebene Situation. Ausgangspunkt hierfür waren die strukturell-personellen Schwachpunkte innerhalb der Ausstellung TIEFGANG. Bildräume im Schloßbunker, die ohne einen organisatorisch entlastenden, institutionellen Rahmen realisiert wurde. Da es bei der Ausstellung von 40 Künstlern in einem stillgelegten Bunker aus dem 2. Weltkrieg an Personal fehlte, übernahm Kottmann die Funktion des Hausmeisters der Ausstellung, und verlegte für deren Dauer seinen Wohnsitz von Düsseldorf nach Mannheim. Er führte verschiedene im Rahmen der Ausstellung anfallende Aufgaben durch, die in einem institutionellen Rahmen üblicherweise von Angestellten erledigt werden, und richtete im Zusammenhang mit seiner Funktion mehrere Räume ein. Im Gegensatz zu den Büros der Olympia und Baut Tatlin Kampagnen sind die Einrichtungsgegenstände bei Hausmeister nicht selbst gefertigt, sondern entstammten dem privaten Haushalt Kottmanns. Hierdurch wurde das "Privatleben" des Künstlers, über den üblichen Rahmen einer Ausstellungsbeteiligung hinaus, in das Projekt eingebracht. Als eine Art Prüfung verstand Kottmann den "klaustrophobischen Druck, monatelang vorwiegend allein, ausgeliefert im Untergrund auf historisch belastetem Terrain ausharren zu müssen"(4). Hier wird demonstrativ eine Handlung mit modellhaftem Charakter vorgestellt, das Repertoire der klassischen kunsthistorischen Gattungen – Malerei, Bildhauerei, Architektur und Photographie – um die der Dienstleistung erweitert.

Das Moment der persönlichen Anwesenheit des Künstlers wird bei dem Projekt Wege Münchner Künstler, 1994 insofern modifiziert und erweitert, als Kottmann nicht in eine existierende soziale Struktur eingreift, sondern das Ausstellungskonzept zum Anlaß nimmt neue Kommunikationsstrukturen zu schaffen. Der tägliche Weg von der Wohnung zum Atelier von ca. 30 Münchner Künstlern wurde wie bei einer Feldforschungsarbeit systematisch recherchiert, kartographiert und dokumentiert, die "Ergebnisse" des Projektes im Anschluß daran in Buchform veröffentlicht. Der Künstler visualisiert auf unterschiedliche Weise eine alltägliche und in der Regel selten bewußt wahrgenommene Alltagshandlung. Der Weg zum Arbeitsplatz wird als Zurücklegen von zeitlichen, sozialen und räumlichen Distanzen dargestellt, wodurch ihm eine angemessene, üblicherweise nicht beachtete Bedeutung verliehen wird. Indem dies exemplarisch geschieht, wird eine Situation geschaffen, die einer demographischen Modellstudie gleicht.

Das zu diesem Zweck eingerichtete Büro stellt über seine Funktion als Kommunikationsträger einen Kristallisationspunkt von Idee und Ausführung dar. Kottmanns Projektbüros dienen dazu, die jeweiligen Projekte der Öffentlichkeit in einem angemessenen Rahmen vorzustellen, und dadurch eine Kommunikationsgrundlage zu schaffen. Einem Headquarter ähnlich, dienen sie als Präsentationsort, an dem die einzelnen Projektbereiche koordiniert und in ihrer Gesamtheit vorgestellt werden. Über diese nach außen gerichtete Funktion hinaus spielen sie aber auch für den Künstler selbst eine wichtige Rolle. Die mehr oder weniger isolierte Arbeitssituation im Atelier wird in den öffentlichen Raum verlagert. Der Künstler arbeitet nicht mehr privat, sondern öffentlich, in direktem Kontakt zur Außenwelt. Da der Verlauf des Projektes in diesem Stadium jedoch bereits geplant und in sich abgeschlossen ist, nimmt der Besucher nicht an der Ideenentwicklung, sondern an dem Prozeß der Konkretisierung einer Idee teil.

Eine Kombination von in die Zukunft gerichteten und gegenwärtigen Motiven wurde im jüngsten Großprojekt 11. August 1999 erreicht. An diesem Tag wird in Mitteleuropa und Teilen Asiens die letzte totale Sonnenfinsternis dieses Jahrtausends zu sehen sein. Die Tatsache, daß dieses ungewöhnliche Ereignis in die Nähe der Jahrtausendwende rückt, ist der Ausgangspunkt für eine Reihe von Arbeiten, die sich mit dieser Erscheinung in unterschiedlicher Weise beschäftigen. Zwei ähnliche, das jeweilige Ereignis begleitende psychologische Phänomene kommen hier zusammen. Einerseits die Stimmung am Ende eines Jahrhunderts, die geprägt ist von allgemeiner psychologischer Entfremdung, dem Gefühl der Entwurzelung, von Unruhe und Ängsten vor der ungewissen Zukunft. Vergleichbare apokalyptische Ängste werden andererseits durch erlebbare ungewöhnliche Ereignisse im Sonnensystem, aus deren Einflüsse auf das irdische Geschehen wiederum Schicksalsbestimmungen abgeleitet werden, ausgelöst. Durch die Parallelität beider Ereignissen ergänzen sich nicht nur die beschriebenen Stimmungen, sie verstärken und potenzieren sich gegenseitig.

Die Beschäftigung mit dem Phänomen Sonnenfinsternis interessiert Kottmann nicht nur aus wissenschaftlich-astronomischer Sicht, sondern vor allem in Verbindung zum individuellen Leben. Die apokalyptischen Ängste, die keine wirklichen Bedrohungen reflektieren, sondern mögliche Bedrohungen imaginieren, zu überwinden, versteht er als eine Art Läuterung, bzw. Katharsis. Indem er die eigene Existenz mit dem Ereignis in Verbindung bringt, beschäftigt er sich beispielhaft mit einer vorgegebenen Situation, die nicht alleine ihn, sondern in gleichem Maße die Allgemeinheit beschäftigt. Die Einladung, das lediglich 2 Minuten und 23 Sekunden dauernde Ereignis kollektiv mitzuerleben, wird mit einer gemeinschaftlichen Überwindung gleichgesetzt, die wiederum von der Hoffnung und dem eingangs erwähnten "Warten auf Erlösung" getragen wird.

(1) Baut Tatlin, Informationsblatt der Unterschriftenaktion.
(2) Renate Puvogel: Norbert Kottmann, in Artis, Juli/August 1993, S. 29.
(3) Kottmann in einem Brief an den Verfasser, vom 24. Juli 1995.
(4) Renate Puvogel: Norbert Kottmann, in Artis, Juli/August 1993, S. 26.

veröffentlicht in: Norbert Kottmann, Ausst. Kat. Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1995

© 1995 Jan Winkelmann

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