THE Selbst (mit großem Rasenstück)

Jan Winkelmann

„Wer ist Thomas Eller?“, ein Buch mit diesem Titel, das der Künstler und ich vor etlichen Jahren zusammen herausgegeben haben, hält, obwohl es die wichtigsten bis dato vom Künstler realisierten Projekte versammelt, eigentlich nicht was es vorgibt, zu versprechen. Denn wir erfahren nichts über Thomas Eller, oder zumindest nichts über das, was der Titel zu erfahren suggeriert. Das kommt nicht von ungefähr und ist Teil einer Strategie, die Eller 1985 in Form des Statements „Ich mache nur noch Selbstporträts“ proklamierte. Dieser zunächst normativ angelegte Verzicht auf jedwede künstlerische Äußerung, die kein Selbstporträt ist, ist im wirklichen Sinne keine Entsagung sondern öffnet dem Künstler einen unendlichen Spielraum an Möglichkeiten, den Betrachter in Form eines fotografischen Abbildes seiner selbst, quasi als eine Projektionsfläche für das rezipierende Individuum, präsent sein zu lassen.

Thomas Eller – ein Mann, vermeintlich ohne Eigenschaften? Zumindest legt dies sein stereotypes fotografisch-skultpturales Auftreten im zeitlosen schwarzen Anzug, inklusive dem neutralen, emotionslosen Gesichtsausdruck nahe. In der Tat erfahren wir nichts über seine physiognomische Erscheinung hinaus. Vielmehr vermag die Beharrlichkeit seiner Präsenz leichte Irritationen beim Betrachter hervorzurufen. Eller schafft mit seinem Abbild ein Gegenüber, ein Positionierungsangebot, fast bin ich versucht zu sagen, eine Art Falle, die im betrachtenden Subjekt eine Reaktion auslöst, sich diesem gegenüber zu behaupten, um ihn (den Betrachter) dadurch womöglich näher zu sich selbst zu führen. In dem einleitenden Text des eingangs erwähnten Kataloges schrieb ich: „In diesem Falle würde die Frage nach dem abgebildeten Individuum [...] möglicherweise [...] zu der Frage: Wer bin ich? kommen.“ Mit dem zeitlichen Abstand scheint mir die Frage: Was bin ich? von heute aus gesehen wesentlich präziser. Denn der Betrachter wird beim Betrachten betrachtet (immerhin generiert der Künstler durch den direkten „Blickkontakt“ ein Gegenüber) und reflektiert im Idealfalle diesen Zustand, wodurch er sich plötzlich in einer ambivalenten Situation des gleichzeitigen Subjekt- bzw. Objektseins wiederfindet.

Mit dem Werk „THE Selbst (mit großem Rasenstück)“ aus dem Jahre 1992 hat Eller nun dieses eben beschriebene Instrumentarium der steten Präsenz seines fotografischen Abbildes auf hintergründige Weise an eine kunsthistorische Referenz gekoppelt und diese zugleich in einen zeitgenössischen Kontext bzw. Diskurs überführt. Ausgehend von Dürers berühmtem Großen Rasenstück (1503) entwickelt Eller eine fotografische Skulptur, die aus 12 in unterschiedlichen Perspektiven aufgenommenen Wiesenpflanzen besteht. Jede einzelne auf Alucobond aufgezogen und ausgeschnitten, wurden so ihres fotografischen Bezugsrahmens entkleidet, und ergeben in räumlicher Staffelung an einer Wand wieder ein Gesamtes, daß jedoch weniger die Summe ihrer Einzelteile wiedergibt, sondern vielmehr in der disparaten Maßstab- und Perspektivordnung eine bildnerische Konstruktion darstellt, die der Betrachter nicht gleich, sondern womöglich erst auf den zweiten Blick als solche wahrnimmt.

Ganz klein am Boden steht THE, zu klein um in relationaler Beziehung zum Ganzen vordergründig eine wesentliche Rolle zu spielen und doch groß genug, um einen Bezugsrahmen zu eröffnen, der wie eine Klammer (Betrachter–Fotofigur) das Rasenstück einrahmt und durch die enorme Maßstabsverschiebung (Betrachter–Rasenstück und Rasenstück–Fotofigur) einen für den Betrachter neuartigen Erfahrungshorizont eröffnet, der es ihm erlaubt, die eigene Wahrnehmung in ihrer Komplexität und mit ihren Grenzen nicht nur zu erfahren sondern auch nachhaltig zu reflektieren.

Veröffentlicht in: I Believe in Dürer, Ausst.Kat. Kunsthalle Nürnberg (Verlag für Moderne Kunst), 2000

© 2000 Jan Winkelmann

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