Es ist immer alles anders

Jan Winkelmann

Eine merkwürdige Situation, ich sitze an meinem Schreibtisch, an einem Abend im April, und mache mir Gedanken zu einem Text über Andreas M. Kaufmann. Ganz ähnlich wie zu Beginn meines ersten Textes über ihn bin ich von dem hypnotischen, vor meinem Fenster sich abspielenden Lichtspiel gefangen. Die Welt vor der Scheibe wird von der untergehenden Abendsonne in einer Vielzahl rot-gelb-bunter Farbnuancen in die Dunkelheit entlassen. Denken Sie nicht, ich würde sentimental beim Anblick des zugegebenermaßen eindrucksvollen Farbenspiels am Horizont, obgleich ich nicht verhehlen kann, dass ich unterdessen fast ein wenig versucht bin, ins Memory-Surfing zu entgleiten. Dabei kommt mir der Einfall, dass es vielleicht gar keine schlechte Idee sein könnte, anstatt eines nach bestimmten diskursiven Kriterien aufgebauten oder einer stringenten Argumentation folgenden Textes ein Stück zu schreiben, das auf meinen persönlichen Begegnungen mit den Werken von Andreas M. Kaufmann in den letzten acht Jahren beruht.

Mit der "Kleinen Kunstgeschichtsmaschine" (1991/92) steht am Beginn unserer Freundschaft und meiner Auseinandersetzung mit seinem künstlerischen Werk eine der für mich immer noch faszinierendsten von Kaufmanns Arbeiten, vielleicht sogar ein frühes Schlüsselwerk. Zu sehen war sie erstmals in der von Roland Scotti und mir veranstalteten Ausstellung "TIEFGANG", die 1992 in einem alten Tiefbunker unter dem Mannheimer Schloss stattfand. Andreas M. Kaufmanns Arbeit war unter den 40 ausgestellten eine der aufregendsten und eindrücklichsten, weil sie mit der gegebenen Situation auf einfachste und gleichzeitig auch verblüffendste Weise umging.

In dem längsrechteckigen Bunkerraum projizierte ein um die eigene Achse rotierender Diaprojektor eine vereinfachte Strichzeichnung des Armes von Gottvater aus Michelangelos Deckenfresko der "Erschaffung Adams". Er kreiste in aufregenden Runden durch den Raum, tastete unbarmherzig jede Unebenheit der Wand ab, bisweilen langsam kriechend zog er sich im nächsten Moment blitzschnell so weit zusammen, bis er sich als Lichtpunkt kaum noch wahrnehmbar und fast unerträglich langsam weiterbewegte, um sich im nächsten Augenblick wieder explosionsartig aufzublasen und mit rasender Geschwindigkeit loszustürmen bis zu dem Punkt, an dem er sich wieder verlangsamte und gestochen scharf sichtbar wurde, um sich sogleich wieder auf einen nicht mehr bildhaft wahrzunehmenden Fleck zu komprimieren. Ein fesselndes Schauspiel, das, obzwar es in einem immer wiederkehrenden, gleichen Rhythmus ablief, den Betrachter in seinen Bann zog und gefangen nahm. Der eben beschriebene Effekt beruhte ganz einfach auf verschiedenen Projektionsabständen und -winkeln, die die Bewegung der Projektion in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wahrnehmbar werden ließen, obgleich der Projektor sich objektiv mit konstanter Geschwindigkeit drehte. In einer Ecke des Raumes stehend war die Projektion auf die gegenüberliegende Wand, den weitesten Abstand, scharf gestellt.

Was Kaufmann hier mit einfachsten Mitteln erreichte, war eine verblüffende Dekonstruktion von Bild und Raum bzw. die gegenseitige Durchdringung beider. Das statische Bild wurde durch die Rotation des Projektors nicht nur in Bewegung versetzt, sondern es entstand durch die unendliche Wellenbewegung der Verzerrung und Entzerrrung eine irrsinnige Dynamik. Die Identität des Bildes löste sich auf im inszenierten Raum-Zeit-Kontinuum und der architektonische Raum wurde durch die in gleichförmiger Kontinuität stattfindende Deformation sowie die anschließende Regenese des Motivs permanent rhythmisiert. Bereits in diesem frühen Werk verdichten sich die wesentlichen Elemente, die für Kaufmanns Schaffen der darauf folgenden Jahre kennzeichnend sind: Projektion, Bewegung, Rückgriff auf vorhandenes Bildmaterial und die unmittelbare Auseinandersetzung mit vorgefundenen räumlichen Situationen.

Im Frühjahr 1995 wurde ich von Åsa Nacking eingeladen, in dem von ihr gemeinsam mit Mats Stjernstedt betriebenen Ausstellungsraum rum in Malmö ein Projekt zu realisieren. Ich wiederum lud Andreas M. Kaufmann und Thomas Eller ein, für den Raum ein Gemeinschaftsprojekt ("YOU!") zu erarbeiten.

In dem nahezu würfelartigen, abgedunkelten Ausstellungsraum befand sich, etwas außerhalb der Mitte, ein Gestell mit einem Drehmechanismus, auf dem zwei Diaprojektoren übereinander standen. Beide projizierten in zueinander entgegengesetzte Richtungen jeweils ein fotografisches Selbstbildnis von Thomas Eller. Die Figuren deuteten in ihrer Körperhaltung eine leichte Bewegung in Laufrichtung der Projektoren an, wodurch das dynamische Moment der sich bewegenden Projektionen zusätzlich verstärkt wurde. An einer Wand des Ausstellungsraumes war das projizierte Foto in materialisierter Form, als ein auf Aluminium geklebtes und ausgeschnittenes Foto, befestigt. Da in ihrer Größe gleich, überdeckten sich im Laufe der Drehbewegung die Projektionen mit der Skulptur jeweils für einen kurzen Moment.

Im Zusammenspiel von bewegter Projektion und statischer Skulptur entstand eine mehrfache Brechung des Erlebnisraumes. Innerhalb der Installation ergaben sich unterschiedliche Erlebnismomente, die sich den Betrachter einerseits inmitten einer stilisierten imaginären Duellsituation zweier sich gegenüberstehender Kontrahenten wiederfinden ließ, er sich aber andererseits ebenso von den bewegten Projektionen eingekreist fühlen konnte. Eine wichtige Rolle spielte hierbei auch die Blickführung. Schauten sich die Figuren gegenseitig in die Augen oder beobachteten sie den Betrachter? Stand der Betrachter als zufälliger Zeuge außerhalb oder stand er im Zentrum des Geschehens? Lediglich die Skulptur befand sich im realen dreidimensionalen Erlebnisraum des Betrachters. Obgleich es im Dunkeln schwer zu erkennen war, ob es sich hierbei um einen 'echten Menschen' oder um eine Fotografie handelte, bildete sie den einzigen Bezugspunkt vom Betrachter zur Projektion, vom Schein zur Realität.

In seiner Ausstellung im Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg 1995 sah ich erstmals eine Arbeit von Andreas M. Kaufmann, in der er sich mit bewegten Bildern an sich, d.h. dem Medium Film und den Möglichkeiten der Videoprojektion, beschäftigte. Für die Videoinstallation "Allein mit viel zuviel" (1993/95) diente Akira Kurosawas Film "Rashomon" aus dem Jahr 1950, der die Frage nach Wahrheit und deren Abhängigkeit von subjektiver Wahrnehmung thematisiert, als Bildquelle und Ausgangspunkt. In Kurosawas Film wird die Geschichte der Ermordung eines Samurai und der anschließenden Vergewaltigung seiner Frau in drei aufeinander folgenden, immer wieder von einer Rahmenhandlung unterbrochenen Berichten aus der Sicht jeweils einer der beteiligten Personen erzählt. In Kaufmanns Installation trat an die Stelle der sukzessiven Abfolge die gleichzeitige Projektion der drei verschiedenen Versionen nebeneinander. Die unterschiedlich langen Filmsequenzen wurden auf die gleiche Länge synchronisiert und tonlos wiedergegeben, wodurch die kürzeste Geschichte derart verlangsamt werden musste, dass ihr visueller Handlungszusammenhang nur bei extrem schnellen Bewegungen nachvollzogen werden konnte.

Kaufmann projizierte diese drei Videobänder auf Wände, Boden und Decke des Ausstellungsraumes. Die einzelnen Filmszenen konnten nur dann annähernd unverzerrt gesehen werden, wenn sich der Betrachter in relativer Nähe des jeweiligen Projektionsstrahls aufhielt. Den unterschiedlichen Erzählperspektiven im Film entsprachen im Raum die drei verschiedenen Projektorenstandpunkte. Dadurch konnten nie alle drei Filme gleichzeitig gesehen werden. Der Unmöglichkeit der gleichzeitigen Wahrnehmung, wie sie im Film durch die lineare Verschachtelung der drei Geschichten nacheinander gelöst ist, entsprachen in Kaufmanns Installation die verschiedenen, vom realen Standpunkt im Raum abhängigen Blickwinkel des Betrachters, wodurch die Unvollständigkeit von Wahrnehmung im Allgemeinen pointiert auf den Punkt gebracht wurde. Als Besucher erfuhr man in dieser Installation nicht nur die Grenzen und die Unzulänglichkeit der eigenen Perzeption, sondern konnte sich auch über deren Fragwürdigkeit im Sinne der Wahrnehmung von Wirklichkeit als objektiver Wahrheit bewusst werden. Wie auch in anderen Arbeiten ist hier Kaufmanns Strategie auf eine Störung der eigenen Wahrnehmung ausgerichtet. Sie ließe sich auf die folgende Frage verdichten: Ist das, was wir sehen, auch wirklich das, was wir sehen, oder ist es eben ganz anders und wir sehen nur das, was wir glauben zu sehen?

In diesem Sinne spielt auch jene Großbildprojektion Kaufmanns, die ich im darauf folgenden Jahr in der Gruppenausstellung "CL III Storage Area GE 62 E" in einer ehemaligen amerikanischen Militäranlage im Ober-Olmer Wald bei Mainz sah, mit der Wahrnehmung und ihren physiologischen Voraussetzungen. "Videopainting Nr. 3" (1996) wurde in einem überirdischen Munitionsbunker auf die dem Eingang gegenüberliegende Wand projiziert. Zu sehen war, je nachdem, wann man den Bunker betrat, eine überdimensional große Hand bzw. eine Faust. Das Bild schien zunächst ein Standbild zu sein. Unmerklich änderte sich jedoch die Projektion über einen längeren Zeitraum. Aus der Hand wurde eine Faust, die sich wieder zur Hand öffnete. Der ganze Ablauf dauerte länger als eine Stunde. Als Betrachter konnte man die Veränderung als solche nicht wahrnehmen, da die Bewegung mithilfe des Computers derart verlangsamt wurde, dass keine für eine extreme Slowmotion typischen ruckartigen Bewegungen mehr stattfanden. Das Bild änderte seine Gestalt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Nur über die Zeit und die Veränderung in der Zeit nahm man die Wandlung als Differenz, nicht aber als Bewegung an sich wahr. Wenn das Gehirn die Veränderung des Bildes realisiert hatte, war der Prozess selbst bereits abgeschlossen. Das Konzept der Monitorpräsentation der Videopaintings definiert Kaufmann in Anlehnung an Erik Saties "Musique d’ameumblement" als "Video d’ameumblement". Ihre Existenz soll, so der Künstler, "so selbstverständlich sein wie beispielsweise die eines Gemäldes, das an der Wand hängt". Die als offene Serie konzipierten Videopaintings zeigen alltägliche Handlungen in isolierter Form, die allesamt als repetitive Endlosbewegungen angelegt sind. Die Einfachheit und Klarheit der in den Videopaintings dargestellten Handlungen lässt sie als allgemeine, generalisierbare und interpretierbare Gesten offen. Diese öffnen dann einen Assoziationsrahmen, der sich nicht zuletzt auch über den Kontext determiniert, in dem sie gezeigt werden.

Im Rahmen der Ausstellung "fast nichts/almost invisible", die ich für ein stillgelegtes Umspannwerk in Singen am Hohentwiel im Sommer 1996 konzipierte, reagierte Kaufmann auf die in ihrer Wirkung immer noch überaus stark von ihrer früheren Nutzung geprägten Ausstellungsräume mit einem kleinen, wie bei fast allen in dieser Ausstellung versammelten Arbeiten, fast unsichtbaren oder kaum wahrnehmbaren Eingriff. Er installierte in einer Wand, hinter der sich ein für die Besucher nicht zugänglicher Raum befand, einen Türspion. "Ohne Titel" (1996) erlaubte damit zwar den Blick in einen nicht einsehbaren Teil des Gebäudes, die Art und Weise jedoch, wie diese Sicht in Form der starken Verzerrung des Spions dem 'normalen' Sehen widersprach, machte ihn für den Betrachter zu keinem vermeintlich natürlichen, sondern durch die Wahl des optischen Geräts zu einem von diesem vorgegebenen Blick. Einerseits war eine starke Weitwinkellinse notwendig, um durch ein nur ein Zentimeter großes Loch in der Wand den dahinter liegenden Raum als Raum überhaupt sehen zu können, andererseits verzerrte sie diesen erheblich. Der Blick bedingte die Verzerrung und vice versa. Auch mit diesem denkbar einfachen, aber zugleich auch sehr präzisen Eingriff machte Kaufmann deutlich, wie wenig objektiv unsere Wahrnehmung und als deren bestimmender Teil- das Sehen eigentlich ist. Das heißt, die Perzeption an sich ist immer von äußeren Faktoren beeinflusst und letztlich ist jede Wahrnehmung eine Konstruktion, die auf unterschiedliche Weise ganz subjektiv konditioniert ist. Einen neutralen, objektiven und unverstellten Blick gibt es letztlich nicht.

Eine Weiterführung des mit der "Kleinen Kunstgeschichtsmaschine" erarbeiteten und eingangs erörterten Prinzips stellt die 1992/93 entstandene "Große Kunstgeschichtsmaschinerie" dar, die ich in natura allerdings erst sehr viel später, 1998, anlässlich einer kleinen Ausstellung Kaufmanns in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst als Teil der Eröffnungsveranstaltungen der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig sehen sollte.

Im Vergleich zur kleinen Kunstgeschichtsmaschine wurden hier mit dem quantitativen Sprung von einem auf sieben Projektoren die Möglichkeiten der Projektion um die der Collage erweitert. Die Magazine der Projektoren waren bestückt mit Reproduktionen von Klassikern der Malereigeschichte und in zeitlich-historischer Abfolge geordnet. Abbildungen von Giotto bis Walter Dahn flogen in rasantem Tempo durch den Raum. Auch hier ergaben sich trotz objektiv gleich bleibender Rotationsgeschwindigkeit unterschiedliche Tempi, die in dauerndem Wechsel und der Gleichzeitigkeit von Schnell und Langsam, Scharf und Unscharf, Verzerrt und Unverzerrt den subjektiven Eindruck einer fast dramatischen Dynamik zusätzlich potenzierten. Bereits nach kurzer Zeit stellte sich eine Asynchronität in der historischen Abfolge der gezeigten Werke ein. Durch die Überlagerung der einzelnen Projektionen entstand eine sich ständig verändernde Lichtcollage. Der dynamische Bildteppich breitete sich über die Wände, Teile des Fußbodens und die Decke des Raumes. Der Betrachter war als Leerstelle in Form von Schatten an den Wänden integriert und wurde als Projektionsfläche zum Teil der Installation, als die er sich im Idealfall auch wahrnahm.

Durch einen Mix von verschiedenartigen Farben und Formen im ständigen Wechsel und die Parallelität von unterschiedlichen Geschwindigkeiten ergab sich eine an Reizüberflutung grenzende Erfahrung, die die einzelnen Abbildungen in der Masse und Flüchtigkeit ihrer inhaltlichen Bedeutung beraubte und sie zu reiner Oberfläche reduzierte, die in ihrer Ganzheit wahrzunehmen ein Ding der Unmöglichkeit darstellte. Als sinnentleerte und bewegte autonome Lichtzeichen definierten sie den Raum, ließen ihn auf immer wieder neue Art in einem 'anderen Licht' erscheinen. Die Dekonstruktion verweist hier über die konkrete räumliche Bildlichkeit der Installation hinaus auf den Kontext, dem die projizierten Bilder entstammen. Hier feierte Kaufmann einen fröhlichen und zugleich hintergründigen Abgesang auf die Avantgarden dieses Jahrhunderts. Allesamt in ihren hehren Idealen letztlich gescheitert, sind die fortschrittlichsten der Fortschrittlichen mittlerweile nunmehr Kunstgeschichte. Auf eine Abbildung reduziert wurden sie in konfektionierte (Dia-)Rahmen gezwängt, die keine Rückschlüsse über ihre eigentliche Größe mehr zuließen. Mit dem Rückgriff auf Reproduktionen bereits existierender Bilder kam zusätzlich das Moment der Erinnerung ins Spiel, das als ein elementares Vermögen des Menschen ebenso existenziell für seine individuelle Identität ist wie die Kunst Teil der kollektiven Identität einer Kultur. Dem Rückgriff auf Vorhandenes ging die eine Entscheidung voraus, dem Meer an bereits existierenden Bildern keine neuen hinzufügen zu wollen. Bestehendes wurde hier auf ungewohnte und eindringliche Weise, wenn auch nur für einen limitierten Zeitraum, neu arrangiert.

Es scheint, als ob sich mit der letzten hier zu erörternden Arbeit der Kreis wieder schließt und wir zum Ausgangspunkt zurückkehren. Im Rahmen der Ausstellung "MOVING IMAGES. Film – Reflexion in der Kunst", die von Dirk Luckow und mir konzipiert wurde und im Herbst 1999 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig zu sehen war, zeigten wir eine Arbeit Kaufmanns, die drei Jahre nach der "Kleinen Kunstgeschichtsmaschine" und zwei Jahre nach der "Großen Kunstgeschichtsmaschinerie" entstanden war. Mit "Kiss" (1994/95) erweiterte der Künstler abermals das Prinzip der rotierenden Projektion, indem er dieses Mal nicht ein fotografisches Einzelbild, sondern eine Filmszene, eine Abfolge von an sich schon bewegten Bildern, projizierte. Auch hier diente die spezifische formale Anlage der gezeigten Filmszene als Ausgangspunkt für diese Arbeit. Die Rede ist von einem der berühmtesten Küsse der Filmgeschichte zwischen Kim Novak und James Stewart in Hitchcocks Thriller "Vertigo". Das damals filmtechnisch Revolutionäre und Wegweisende war die Aufnahme einer langsamen 360°-Drehung um das sich küssende Paar. Hitchcock gelang es mit diesem technischen Clou einerseits, die Leidenschaftlichkeit des Kusses stark zu intensivieren und gleichzeitig in dieser Schlüsselszene bildhaft eine Art traumatischen Sogs zu entwickeln, in dem sich Scottie über die Identität von Madeleine und Judy als ein und derselben Person klar wird. Kaufmann projizierte diese Szene mit einem sich drehenden Videoprojektor in einen mit rotem Licht durchfluteten Raum. Hierbei war die Bewegung von Filmkamera und Projektor so exakt synchronisiert, dass auf demselben Wandstück immer die gleiche filmische Situation zu sehen war. Die durch die Drehung der Kamera entstandene Dynamik erschien durch die Rotation des Projektors im Bild fast wie aufgehoben, wobei die Bewegung der Projektion an sich den Raum dynamisierte, wodurch wiederum eine Spannung zwischen Bild und bewegter Projektion entstand. Kaufmann erreichte mit dem Herauslösen dieser Szene aus ihrem Gesamtzusammenhang ein Aufbrechen der für den Kinofilm wesensimmanenten linearen Erzählstruktur, gleichzeitig blieb jedoch ein weiterer wesentlicher, damit verbundener Parameter erhalten: die Erfahrung des Werkes in der Zeit.

Neben den formalen bereits eingangs beschriebenen Wahrnehmungserlebnissen der bewegten Projektion ist ein hervorstechendes und für mich wesentliches Merkmal dieser Arbeit die bewusst reduzierte Ökonomie der Mittel, die zwar nicht allen, jedoch den meisten Arbeiten des Künstlers ebenfalls inhärent ist. Kaufmann versteht es, mit einem Minimum an eingesetzten bildnerischen und technischen Mitteln ein Höchstmaß an Wirkung zu erzeugen. Über die Irritation, die sich nach dem auf den ersten Blick oftmals verblüffenden visuellen Effekt der Arbeiten einstellt, öffnet sich ein Zugang, der unsere Wahrnehmungskonventionen als Betrachter nachhaltig und hintergründig infrage stellt. Es ist eben immer alles anders.

Veröffentlicht in: here you are, Ausst.kat. Städtische Galerie Wolfsburg (Salon Verlag, Köln), 2000.

© 2000 Jan Winkelmann

Englische Version

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