Geschichte und Geschichten. Zu den Arbeiten von Anja Wiese

Jan Winkelmann

Leises Gemurmel, undefinierbares Stimmengewirr empfangen den Besucher im Raum von Anja Wiese. 40 Lautsprecher sind an den Wänden angebracht, jeweils vier mit einem der zehn Kassettenrecorder auf dem Fußboden verbunden. Nähert man sich einzelnen Lautsprechern, hört man Geschichten und Erzählungen von Erlebnissen aus dem II. Weltkrieg. Erzählt werden sie von alten Frauen, die den Krieg in der Heimat miterlebt haben. Es ist zu hören von fahnenflüchtigen Soldaten, Verhören durch die Gestapo, Deportation von Juden, der Befreiung durch die Amerikaner, Berichte über Luftangriffe und das Warten in Bunkern. Tatsachenberichte, in Anekdotenform präzise und genau geschildert, als wäre es gestern gewesen. Die Berichte sind frei von Wertungen, Verbitterungen, oder Klagen, mit dem Abstand von über 50 Jahren erzählt.

Mit der Installation Geschichte bringt Anja Wiese die Geschichte, von der unübersehbaren Präsenz des Bunkers als Relikt aus dem dritten Reich abgesehen, an den Ort des Geschehens zurück. Nicht die große Ereignisse der Weltgeschichte, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern kennen, werden reproduziert. Es sind die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung. Die Geschichten der Frauen, werden stellvertretend für die von Millionen von Menschen wiedergegeben und somit exemplarisch zum vermeintlich authentischen Dokument aus dieser Zeit. Das subjektive Gedächtnis des erzählenden Individuums erlaubt eine vordergründig objektive Rekonstruktion der Geschichte. Innerhalb dieser objektiven Wirklichkeit ist für den Betrachter Raum für eigene Vorstellungen und Imaginationen. Eine Schau von Bilddokumenten, wie Photographien, Zeitungsabbildungen etc., würde dem Betrachter diesen Spielraum nicht lassen. Zu groß ist die Bilderflut von Gewalt und Zerstörung aus heutiger Zeit, als daß sie den Betrachter noch berühren könnten. Ein ständiges Umgebensein mit Bildern dieser Art haben ihn im Laufe der Zeit, nicht zuletzt aus Selbstschutz, abstumpfen lassen. Ihrer Wirkung sind sie somit letztendlich beraubt worden.

Dieser, rein auf visuelle Konsumierung ausgelegten Gesellschaft, setzt die Künstlerin eine Installation entgegen, die auf die Rezeption akustischer Reize beschränkt ist, somit eigenen Vorstellungen und Phantasien freien Raum läßt. Dieser Spielraum wird von dem Betrachter jedoch erst im zweiten Moment wahrgenommen, da er sich zuerst von der Vielzahl der auf ihn einströmenden akustischen Eindrücke überwältigt sieht.

Die Tonquellen (Kassettenrecorder, Lautsprecher) sind auf ihren eigentlichen Zweck, der Wiedergabe von Geräuschen reduziert. Das Gesamtbild im Raum, das sich aus der technischen Funktion der Einzelteile ergibt, wird von der Künstlerin als Komposition verstanden und darüber hinaus nicht mehr verändert. Die Kassettenrecorder stehen wahllos auf dem Boden, die Lautsprecher sind ohne erkennbares System an den Wänden verteilt, die sie verbindenden Kabel hängen frei im Raum. Ein sorgfältiges Verlegen der Kabel entlang der Wand, das Verbergen der Lautsprecher hinter einer doppelten Wand wäre zwar möglich, aber nicht im Sinne des konzeptuellen Ansatzes Anja Wieses gewesen. So greift das Kabelgewirr in seiner Form thematisch das Gewirr der Stimmen im Raum auf. Form und Inhalt verweisen gegenseitig aufeinander und treten in ein spannungsvolles Wechselspiel.

veröffentlicht in: TIEFGANG. Bildräume im Schloßbunker, hrsg. von Roland Scotti und Jan Winkelmann, Mannheim: Signet Verlag 1992

© 1992 Jan Winkelmann

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