Die Wahrnehmung wahrnehmen

Jan Winkelmann

Als ich Olafur Eliasson zum ersten Mal traf, hätte ich ihn eigentlich in seinem Atelier besuchen wollen. Statt dessen fuhren wir zu einer öffentlichen Golf-Driving-Range in einem alten Stadion im Osten Berlins. Der Übungsplatz in einem alten verlassenen Sport-Stadion wird von einer bizarren Skyline von Fabrikschornsteinen, Produktionshallen und heruntergekommenen Wohnblocks umgeben. Der Himmel strahlte in monochromem Hellblau. Die Sonne brannte unbarmherzig, was mir besonders zu schaffen machte, da ich unglücklicherweise ganz in Schwarz gekleidet war. Den Nachmittag verbrachten wir hauptsächlich damit, unzählige Bälle in Richtung eines besonders hohen Kamins zu schlagen. Eher am Rande unterhielten wir uns über seine Arbeit. Ich erwähne diese Begebenheit, weil mir erst im Nachhinein auffiel, wie sehr der Nachmittag und unsere Beschäftigung an diesem Ort symptomatisch und charakteristisch für das künstlerische Oeuvre Olafur Eliassons sind.

Die unmittelbare Erfahrung natürlicher oder naturähnlicher Erscheinungen steht im Zentrum seines Werkes. Wind, Wasser, Licht, Temperatur usw. erlauben die Wahrnehmung einer unmittelbaren Gegenwart, wobei nicht die künstliche Sensation im Mittelpunkt steht, sondern die individuelle Perzeption des Betrachters. Eliassons Arbeiten spielen in diesem Sinne nicht etwa die Hauptrolle, sondern sind Katalysatoren, die die Wahrnehmung des Einzelnen stimulieren und es ihm ermöglichen, sich dieser im Raum-Zeit-Kontinuum des jeweiligen Momentes bewußt zu werden. Seine Installationen sind nicht als Werke zu verstehen, sondern vielmehr als Hilfsmittel, um sich der eigenen Wahrnehmung und Erlebnisfähigkeit bewußt zu werden.

Eliasson läßt den Betrachter seine subjektive Wahrnehmungsfähigkeit nicht nur erleben, sondern führt uns auch vor Augen, wie sehr diese üblicherweise von anderen, vornehmlich kulturellen Einflüssen konditioniert ist. Hier spiegelt sich sehr deutlich der Antagonismus von Natur und Kultur, ihre gegenseitige Durchdringung und die Tatsache, daß die Wahrnehmung von Natur immer einer von kulturellen Faktoren beeinflußten Prägung unterliegt. In dieser Hinsicht ist es vor allem aber auch die Erinnerung, die eine wichtige Rolle im Erleben von Natur spielt. Jedes Individuum hat eine bestimmte Idee von Natur. Natur meint in diesem Falle ebenso eine undefinierte, abstrakte Projektion von „Landschaft“, wie auch das Korrelat zu der von menschlicher Zivilisation geprägten Idee von Kultur. Diese omnipräsente Vorstellung von Natur erlaubt dem Betrachter eine Identifikationsmöglichkeit mit den von Eliasson angebotenen Wahrnehmungsphänomenen. Diese ist aber ebenso unterschiedlich, wie es das Individuum als eine von persönlicher Geschichte und zahllosen anderen Einflüssen definierte Persönlichkeit ist. Der „Einsatz“ von Natur ist in dieser Hinsicht als eine Methode zu verstehen, mit der die Bedingungen von Subjektivität untersucht werden. Eliasson gibt keinen bestimmten Weg vor, lediglich eine Richtung, die wiederum offen ist und eine Vielzahl von Möglichkeiten in sich birgt.

Neben diesen phänomenologischen Aspekten spielt das poetische Moment eine herausragende Rolle. Der Künstler verbringt mehrere Monate des Jahres in seiner isländischen Heimat, wo die Photo-Serien von gleichartigen Motiven landschaftlicher „Besonderheiten“ wie Wasserfälle, Seen oder Inseln entstehen. Die stimmungsvollen Photographien erinnern in ihrer schlichten Klarheit aber auch in dem ihnen innewohnenden „Melancholie-Potential“ an die malerischen Landschaften der Romantik. Obwohl sie – im Unterschied zu diesen – nur selten Menschen zeigen, weisen sie häufig andere marginale Spuren menschlicher Zivilisation auf, wie beispielsweise Häuser oder Leuchttürme. In ihrer schlichten Schönheit verweisen sie auf das subjektive Erleben der Landschaft, ohne sie wie bei den Installationen unmittelbar erfahrbar zu machen. Sie zeigen in einer Art Gesamtkomposition die Schönheit von Natur mit dem Blick des Künstlers. In ihrer „unnatürlichen“ Häufung und nahezu enzyklopädischen Reihung vermitteln sie dem Betrachter in der kompakten Verdichtung gleicher Motive eine Form der reproduzierten Landschaftserfahrung, wie wir sie als solche aus anderen Kontexten zwar kennen, aber nicht mehr wahrzunehmen gewohnt sind.

veröffentlicht in: Can you hear me. 2. Ars-Baltica-Triennale der Photokunst, Ausst. Kat. Stadtgalerie im Sophienhof, Kiel und Kunsthalle Rostock 1999 [Oktagon Verlag]

© 1999 Jan Winkelmann

Englische Version

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