Ugo Rondinone

Jan Winkelmann

In Zeiten immer weniger limitierter Geschwindigkeiten auf den Daten-Highways, des parallel dazu inflationär zunehmenden Information-Overkills und der Hand in Hand damit einhergehenden weiter fortschreitenden Virtualisierung von Welt scheint die Suche und das Verlangen nach authentischen Erfahrungen fast wie eine altruistische Sehnsucht nach der im Eifer des Gefechts zufällig verlorengegangenen Unmittelbarkeit. Ugo Rondinones Werk scheint auf diesen Hang nach Authentizitätsmomenten zu reagieren. Kürzlich bemerkte er in einem Gespräch auf meine Frage, wie man den Kern seines Werkes umschreiben könnte, lapidar-lyrisch: „Es geht darum, daß wir das, woran wir uns erinnern nicht unterscheiden können von dem, wonach wir uns sehnen“. Dieses gleichsam poetische, wie abgeklärte Statement beschäftigte mich eine Weile, vor allem der darin anklingende melancholische Fatalismus, der sich in einer fortgesetzten Amalgamierung und gegenseitigen Durchdringung von Traum und Realität, von Erinnerung und Projektion sowie Faktizität und Wunschdenken äußert. Eine eigenartige und gleichwohl aufregende Mischung, die in vielen, wenn nicht allen von Rondinones Werken – im einen Falle mehr, im anderen weniger präsent ist.

Am deutlichsten wird dies vielleicht am Motiv des Tagebuchs, von denen Rondinone seit 1992 fünf geschrieben, besser gesagt, gezeichnet hat. In Form eines schwarzweißen Comics wechseln sich Text- und Bildseiten miteinander ab. Die gemalte Schrift wird selbst zum Bild, respektive zum Zeichenelement und steht den Tuschezeichnungen gleichwertig gegenüber. Durch den Ich-Erzähler wird eine vermeintlich autobiografische Leseart vorgegeben und dennoch erfahren wir insgesamt wenig über dessen Persönlichkeit. Mal gleicht die Story der eines Splatterromans, ganz selten der eines Pornos, oft lesen wir etwas über die melancholischen Weltschmerzen des Protagonisten oder vernehmen fragmentarisch etwas über seinen Tagesablauf. Sie erzählt von einem einsamen Menschen, dessen Exzessen, Sehnsüchten und vor allem von seiner Alleinseinsucht in der Welt. Dabei verharrt alles stets im ambivalenten, wir erfahren nicht, ob es nun Fiktion oder Wirklichkeit ist. Die in Text und Bild geschaffene Atmosphäre gleicht einer imaginären Wahrheit die zwar mit gelegentlichem Realitätsbezug kokettiert, aber dennoch nie ganz eindeutig zuzuordnen ist.

In ähnlicher Weise markiert auch die mehrteilige Fotoserie „I don’t live here anymore“ den schmalen Grat einer hybriden Konstruktion zwischen Realität und Fiktion. Der Künstler hat sich, will heißen, sein Konterfei mittels digitaler Bildbearbeitung in (auf) einen anderen Körper ’montiert‘, wohl wissend, daß die Identität eines Menschen sich visuell in erster Linie über Gesichtszüge ’transportiert‘. Bei den Vorlagen handelt es sich jedoch nicht um beliebige Fotos, sondern um Fotoserien von Topmodels aus den entsprechenden Hochglanz- bzw. Modemagazinen. Der Künstler annektiert virtuell einen anderen Körper, und indem er sich ihm einschreibt, leiht er sich eine fremde, verführerische Identität, um für den kurzen Augenblick der fotografischen Pose an deren Glamour zu partizipieren und damit letztlich den Identitätsverlust und die Ununterscheidbarkeit im alltäglichen Bilder- und Medienterror zu thematisieren.

Rondinones Werke und Installationen öffnen auf subtile Weise ein Portal in eine andere, parallele Welt. ’Andere Welt‘ meint hier einen Bewußtseinszustand, der dem eigenen individuellen, realen Zeitablauf entgegenläuft. Es ist dies ein Moment der verlangsamten Zeit, der Verzögerung von Realität und ihrer Wahrnehmung. Die Welt um Rondinones Werke herum scheint angehalten, für die Verweildauer mit und in ihnen still zu stehen. In diesem Zustand offenbaren sich einem die Tiefen des eigenen Daseins von ganz allein. Die Distanz zu sich selbst verringert sich durch diese Ad hoc-Tranquilisierung, die den linearen Fluß des Seins und damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verlangsamen in der Lage ist.

In dieser Hinsicht ist „I never sleep. I’ve never slept at all. I’ve never had a dream. All of that could be true“ (1999) eine der jüngsten Arbeiten des Künstlers, in ihrer suggestiven Wirkung vielleicht eine der eindrücklichsten. Acht mit glänzendem schwarzem Klebeband umwickelte Bäume stehen auf einem dünnem schwarzen, beim Betreten leicht federnden Plastikbelag inmitten eines in strahlend grünes Licht getauchten Raumes. Der Loop eines traurigen Instrumentalsongs unterlegt die Szenerie akustisch. Gleich einer postapokalyptischen Vision taucht der Betrachter in eine gedämpfte, grüne Welt, die keine Farbwahrnehmung außer der eigenen zu kennen scheint. An den toten Bäumen hängen anstelle von Blättern kleine, über träge herabhängende Kabel miteinander verbundene Lautsprecher. Eine unaufgeregte monotone Stimme erzählt uns eine Geschichte (Fragmente aus einem der oben genannten Tagebücher). Sie wechselt von Lautsprecher zu Lautsprecher, springt von Baum zu Baum und leitet damit das Publikum durch diesen Wald der elegischen Traurigkeit. Der Betrachter wird zum Akteur der bühnenbildartigen Szenerie, die ihn als integralen Bestandteil der inszenierten Realität in sich aufnimmt und mit Hilfe der Stimme seine Bewegungen durch den Raum ’choreographiert‘.

Rondinone nutzt wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation mit traumwandlerischer Sicherheit und atemberaubender Perfektion die gesamte Bandbreite der klassischen künstlerischen Ausdrucksmittel (sei es Malerei, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, komplexe Rauminszenierungen) und gelangt damit interessanterweise zu bisweilen völlig unterschiedlichen formal-ästhetischen Lösungen. Oftmals muten sie im ersten Moment derart verschiedenartig an, als daß man sie nicht ohne weiteres als Arbeiten eines Künstlers identifizieren könnte, wenn da nicht die für sein Werk so typische atmosphärische Verdichtung wäre, die man vielleicht als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner charakterisieren könnte. Neben den bereits erwähnten, kunstimmanenten, bedient sich Rondinone aber auch artifizieller Informationsträger, die unserem zeitgenössischen massenmedialen Lebensumfeld (Pop-Songs, Videoclips, TV, Mode) aber auch anderen Bereichen kultureller Produktion (Theater, Kino, Literatur, Musik) entlehnt sind und in komplexen Installationen verdichtet, einen poetischen Empfindungsrahmen und damit einen ’realen‘ Erfahrungsraum öffnen. Die Fiktionalität und die ihr zugrundeliegende Künstlichkeit wird dabei nicht etwa bewußt negiert oder verschleiert, sondern bleibt in ihren Einzelteilen offen sichtbar und wird dem Betrachter als Teil der ihn umgebenden Lebenswirklichkeit vor Augen geführt. Hierdurch wird auch in der Art der Präsentation das für seine Werke charakteristische, vielfältige Nebeneinander und die ständige Gleichzeitigkeit verschiedener Realitätssebenen reflektiert.

So treten in „Sleep“ (1999) verschiedene Wirklichkeitselemente bzw. -fragmente aus unterschiedlichen Bereichen nebeneinander. Eine rohe, weißgestrichene Bretterwand, die durch die auf Lücke gesetzten Bohlen fast wie ein überdimensionierter Zaun wirkt, ist von hinten mit farbigen Scheinwerfern beleuchtet, wodurch ein heiterer regenbogenbunter Farbreigen entsteht. Fast 200 Fotografien auf der Wand zeigen einen androgynen Jungen und ein frauliches Mädchen, die an einem Strand im Irgendwo über Sanddünen wandeln. Keines der Fotos zeigt beide gleichzeitig. Auch sind ihre Blickrichtungen immer voneinander abgewandt und nie aus dem Foto heraus oder auf den Betrachter gerichtet. Die leichte Überbelichtung und die weiße Rahmung lassen sie optisch mit dem Hintergrund des weißen Bretterzauns nahezu verschmelzen. In ihrer Ästhetik erinnern sie an Fotos aus dem Bereich der Werbung oder muten in der Gesamtschau wie die Standbilder eines Musikvideos an. Der den Raum erfüllende Song schafft zusätzlich eine Atmosphäre der trübsinnigen Weltvergessenheit und ’ergänzt‘ die Installation, die als eine Art komplexe Sehnsuchtsmetapher gelesen werden kann.

Die theatralisch-atmosphärischen Inszenierungen Rondinones involvieren und distanzieren den Betrachter zugleich. Das akustische wie visuell-ästhetische All-over seiner Rauminstallationen ruft in seiner Komplexität unmittelbar assoziative Bezüge zur eigenen Wirklichkeit des Betrachters hervor. Die mit den unterschiedlichen Arbeiten evozierten, meist melancholisch gefärbten Stimmungen vermischen auf komplexe Weise autobiografische Bezüge des Künstlers mit kollektiven, von der Gesellschaft vorgegebenen und standardisierten Vorstellungen von Selbst und Gemeinschaft. Rondinones Werke spielen mit Ambivalenzen wie Innen und Außen, Langsamkeit und Geschwindigkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit und öffnen darüber einen Erfahrungsraum, der einerseits eine emotionale Identifikation mit diesem und andererseits gleichzeitig eine distanzierte Reflexion ermöglicht. Es geht immer um die Erfahrung von Selbst mit Hilfe von unterschiedlichen, sich gegenseitig in der Wirkung unterstützenden medialen und narrativen Komponenten, die sich in seinen Werken immer auf höchst ästhetisch-reflexive Weise verdichten. Diese Arbeiten offerieren dem Betrachter eine unmittelbare, bewußt wahrgenommene Wirklichkeitserfahrung, die sowohl in der Gegenwart, inmitten der vom Künstler inszenierten Erlebnisräume selbst, aber auch darüber hinaus wirkt und oftmals erst im nachhinein ihr volles psychologisierendes Potential und damit ihre Kraft offenbart.

Rondinone ist zweifelsohne Gegenwartsromantiker aber gleichzeitig auch Existenzialist, was sich einander zu widersprechen scheint. Er konfrontiert uns mit Sehnsuchtsmetaphern von einem unmittelbaren Bezug zur Welt und ihrer Realität, wie sie sich in den ’Global Issues‘ Identität, Sexualität und Liebe vielleicht am unmittelbarsten und am deutlichsten manifestieren. Seine Werke künden von einer unbestimmten und schwermütigen Sehnsucht nach und der Lust an den großen Gefühlen, und den damit oftmals verbundenen schmerzlichen Seiten der menschlichen Existenz.

Veröffentlicht in: artist Kunstmagazin, Heft 45, 3/2000

© 2000 Jan Winkelmann

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