Thomas Eller: THE people of Europe – SELBST

Jan Winkelmann

In Thomas Ellers Werk steht die Frage nach dem SELBST, das als Wort ebenso wie die Initialen THE ein konstanter immer wiederkehrender Bestandteil der Titel seiner Arbeiten ist, im Mittelpunkt. Diese Frage nach der Identität des SELBST, wohlgemerkt nicht die der oberflächlichen Erscheinung, sondern jener des Wesentlichen, war in den frühen Arbeiten Thomas Ellers noch alleinige und zentrale Fragestellung an die Adresse des Betrachters. In den letzten Jahren hat sich das ikonographische Repertoire Ellers erweitert. Er präsentiert und variiert nicht mehr ausschließlich das reine bildnerische SELBST-Porträt, vielmehr ist damit auch eine Erweiterung, bzw. eine Präzisierung der jeweiligen Fragestellungen verbunden.

Für eine Ausstellung im Dezember 1993 im Contemporary Art Center in Vilnius, Litauen schuf Thomas Eller zwei Gruppen von Arbeiten, die rein formal, aber auch aufgrund ihrer Anordnung im Ausstellungsraum, nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheinen, dafür inhaltlich um so mehr aufeinander Bezug nehmen.

Die aus mehr als dreißig Einzelfiguren – die Bezeichnung Figuren ist eine bewußt gewählte, da es sich bei den photographierten Personen schließlich nicht um in einem besonderen Moment porträtierte Individuen, sondern um anonyme Fußgänger handelt – bestehende Installation THE people of Europe – SELBST läßt auf einer Wand für den davorstehenden Betrachter eine imaginäre Straßen- oder Marktplatzszene entstehen, wie sie überall in England, Frankreich, Italien, Griechenland, Deutschland, Lettland oder Litauen aussehen könnte. Doch sind es eben nicht Fußgänger nur einer bestimmten Stadt. Eller photographierte sie in verschiedenen, den oben genannten, Ländern und fügt sie hier zu einer Art Ideal-Europa, im Sinne einer multikulturellen Gemeinschaft, zusammen. Eine eindeutige Zuordnung einzelner Passanten zu einem bestimmten Herkunftsland, aufgrund von landestypischer Kleidung oder Aussehen ist fast nicht möglich, und dennoch ist die äußerliche Angleichung nur eine oberflächliche.

Im Selbstverständnis der Westeuropäer und dem der Osteuropäer herrscht immer noch eine große Kluft. Nicht zufällig entstand diese Arbeit für eine Ausstellung im geographischen Zentrum Europas. Könnte man doch meinen, daß gerade in Litauen, das zusammen mit Estland und Lettland länger als alle anderen europäischen Staaten unter fremder Herrschaft stand, nach der Öffnung des Ostblocks ein besonderer europäischer Geist anzutreffen wäre. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Ähnlich wie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks ist hier ein Wir im Osten – Ihr in Europa-Denken vorherrschend. Worin liegt diese noch bestehende Diskrepanz zwischen West und Ost begründet? Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis in Osteuropa der Prozeß einer Redefinition der nationalen Identitäten abgeschlossen sein wird.

Eine ähnliches Mißverhältnis von Schein, bzw. Vorstellung und Realität wird auch auf der formalen Ebene der Arbeit, in der Disproportion der einzelnen Figuren zueinander, deutlich. Der kompositorische Aufbau der Installation folgt zwar im Gesamten einem zentralperspektivischen System, doch fallen einige Figuren aus diesem System heraus, da sie im Verhältnis zu den sie umgebenden Figuren entweder zu groß oder zu klein sind. Ebenso wie Thomas Eller SELBST, der in der Pose des Engels aus Dürers Melencolia I (1514), die Szene betrübt und nachdenklich beobachtet.

Von dem Beispiel Europa abstrahiert, läßt sich die Frage nach dem Selbstverständnis auf eine allgemeinere Ebene projizieren: Warum bin ich anders als die anderen? Wer bin ich, daß ich anders bin, und wer sind die anderen?

Einen Hinweis auf einen möglichen Lösungsansatz gibt Thomas Eller in der zweiten Gruppe von Werken, die für die Ausstellung in Vilnius entstanden sind. Das zentrale, gemeinsame Motiv der einzelnen Arbeiten ist die Schere. Indem sie als funktionelles Instrument zum Ausschneiden der Figur Thomas Eller SELBSTs gezeigt wird, reflektiert der Künstler ironisch seine Arbeitsweise des Ausschneidens, stellt diese jedoch vereinfacht dar, da die Photographien auf Aluminium geklebt sind und für das Ausschneiden eigentlich eine Säge notwendig ist. Thomas Eller tritt in diesen Arbeiten nicht mehr als SELBST, sondern als SELBST SELBST auf. Indem sich der Künstler als einen An-sich-selbst-arbeitenden darstellt, verdoppelt er die Distanz des Betrachters zum eigentlichen Bildgegenstand. Das Selbstporträt, das eigentlich keines ist, da es hier nicht im traditionellen Sinne eines Selbstporträt um die selbstreflektierende, verdichtende Darstellung des Künstlers als Individuum geht, ist hier nunmehr nur noch das Abbild eines Selbstporträts.

Auf einer abstrakteren Ebene ist der handwerkliche Vorgang des Ausschneidens, des Konturierens gleichbedeutend mit einer Handlung der Formgebung. In diesem Zusammenhang symbolisiert das Ausschneiden letztlich einen Akt der individuellen Selbstformung und kann somit als eine Metapher für die geistige SELBST-Konstitution im Prozeß der Identitätsfindung des Individuums gesehen werden.

Das SELBST muß sich letztendlich selbst entwerfen, um frei genug zu sein, anders zu sein.

veröffentlicht in: Wer ist Thomas Eller, Ausst. Kat. Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 1994

© 1994 Jan Winkelmann

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