Eric Troncy: »Dramatically Different«
ist der Name eines Kosmetikprodukts von Clinique und hat speziell im französischen
– weil das Wort »dramatically« ein Faux ami ist – eine sehr
starke Bedeutung. Doch am Ende ist es nur eine Gesichtscreme, die Falten
glättet. In gewisser Weise ist es eine Creme, die einem die Illusion
der Verjüngung gibt, und ich denke, daß die Ausstellung – als
Genre betrachtet – eine Verjüngung auch braucht, selbst wenn es sich
dabei nicht um eine Illusion handelt.
Ausstellungen einen Titel zu geben ist
bedeutungslos und bedeutungsvoll zugleich. Ich würde persönlich
nie einen Titel wählen, der direkt darauf schließen läßt,
was zu sehen ist. Zuerst einmal weil ich denke, daß Kunstwerke nicht
dazu da sind, eine Idee zu illustrieren, die sich bereits im Titel wiederfindet.
Zweitens sollte der Betrachter, der mich immer am meisten interessiert,
über das, was zu sehen ist im voraus nicht zu viele Anhaltspunkte
bekommen, weil er sonst mehr oder weniger wissen würde, was ihn erwartet.
Darüber hinaus muß ich sagen, daß ich Themenausstellungen
in der Regel relativ langweilig finde. Meiner Meinung nach sind sie nur
dazu da, den Eindruck zu erwecken, daß es sowohl in den Ausstellungen
als auch bei den Werken darin tatsächlich um etwas »geht«.
Ich denke, daß Kunstwerke, und Kunst im allgemeinen, kraftvoll genug
sind, daß sie so etwas gar nicht nötig haben. Ich würde
mir niemals eine Ausstellung mit dem Titel »Die Porträtkunst
am Ende des 20. Jahrhunderts«, oder noch schlimmer: »Junge
Schwedische Kunst« (oder welches Land auch immer) anschauen, weil
es unbefriedigend ist, Kunst aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Mit
dem Titel, den eine Ausstellung trägt, vermittelt sich sehr deutlich
die ideologische und philosophische Haltung des Kurators, und darüber
hinaus zum Teil auch die Gründe, warum diese Ausstellung gemacht wurde.
In den meisten Fällen erkennt man politische, oder egoistische Gründe,
manchmal sogar beides zusammen. Durch die Titel von Ausstellungen vermittelt
sich ebenfalls, wie der Kurator und die Institution mit der Kunst umgehen,
aber auch ihre Einstellung und ihre Ethik.
Sowohl »Weather Everything«
als auch »Dramatically Different« sind offene Titel, die dies
oder jenes meinen können, oder auch nicht. Wenn man nach Bedeutungen
suchen will, kann man viele finden, jede so gut wie die andere. Die Ausstellung
in Leipzig folgt der in Grenoble, also dachte ich, sei es die beste Lösung
den Namen eines neuen Produktes von Clinique zu benutzen: »Weather
Everything«. Folgendes bringt es ein wenig genauer auf den Punkt:
ich wollte von einem alten Produkt eine neue Fassung machen. Der Titel
erlaubt viele Mutmaßungen. Zum Beispiel, daß die Werke gegenüber
jeder »Witterung«, der sie in der Ausstellung ausgesetzt werden,
resistent sind. Darüber hinaus gefällt mir die Idee, daß
dieser Titel direkt an ein kommerzielles Produkt erinnert, das eine Art
von Sponsoring suggeriert, das wir natürlich nie versucht haben zu
bekommen. Es ist ja durchaus denkbar, daß eines Tages Ausstellungen
von SONY oder Coca-Cola gesponsert werden und den Namen eines brandneuen
Produktes, beispielsweise eines Videorecorders oder eines Diät-Drinks,
tragen.
Nachdem wir uns entschieden hatten, Dich einzuladen, eine Ausstellung zu konzipieren, hast Du den Wunsch geäußert, »Dramatically Different« nicht einfach zu übernehmen. Statt dessen wolltest Du an dem Konzept weiterarbeiten und der vorgegebenen architektonischen Situation, die sich von der im Le Magasin grundlegend unterscheidet, anpassen. Dort war es ein altes Industriegebäude, in Leipzig ist es eine Gründerzeitvilla. Neben dem historischen Bezug (beide sind aus der Zeit der Jahrhundertwende) sind es so ziemlich die größten vorstellbaren Gegensätze, im Sinne eines marxistischen Verständnisses. Auf der einen Seite eine industrielle Arbeitsstätte, auf der anderen Seite ein großbürgerliches Wohnhaus. Hast Du diesen Gegensatz als solchen wahrgenommen? Wenn ja, hatte es einen Einfluß? Auf welche Weise hat sich durch die Räumlichkeiten in Leipzig das Konzept verändert bzw. weiterentwickelt?
In der Tat sind beide Orte total verschieden. In »Dramatically Different« ging es um Ideen, die an einem Ort, wie dem Le Magasin auf geeignete Weise entwickelt werden konnten. Es interessierte mich nicht, daß es sich um ein altes Industriegebäude handelte, weil die Ausstellung in einem Teil des Gebäudes stattfand, der vollständig renoviert war und aussieht wie jede Art von musealem Raum: große »White Cubes« mit elegantem Fußboden, kein Tageslicht, dafür aber spezielle Neonbeleuchtung. In Bezug auf eine marxistische Analyse würde ich sagen, daß sie eine der bürgerlichsten Institutionen Frankreichs außerhalb von Paris ist und wahrscheinlich das größte Jahresbudget für einen Ort in der »Provinz« hat. Le Magasin ist ein nationales Kunstzentrum, wie der Name schon sagt, und kostet Eintritt (wie es z.B. im Le Consortium nicht der Fall ist). »Die Erziehung der Massen durchläuft eine Reihe von Anpassungen«, wie Liam Gillick sagen würde. Doch im Hinblick auf das charakteristische der Architektur (nicht mit Blick auf ihre frühere Nutzung) unterscheidet sich die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig im wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens: es sind hier kleinere Räume. Und obwohl sie durch den Umbau nun sehr »schick« anmuten, haben sie doch noch etwas »häusliches«. Zweitens hat jeder Raum (mit drei Ausnahmen) sehr große Fenster nach außen, was man unbedingt in die Überlegungen mit einbeziehen mußte. Also schien es mir aus »physikalischen« Gründen nicht möglich, die Ausstellung aus Grenoble zu übernehmen. Am wichtigsten war jedoch, daß es für mich sehr aufregend war, den Gedanken der Ausstellung weiterzuführen und etwas Neues zu machen, das Publikum (mich eingeschlossen) mit neuen Situationen, neuen Erfahrungen zu konfrontieren. Und insgesamt vielleicht noch einen Schritt weiterzugehen, was die Freiheit bei der Komposition der Räume betrifft, mich selbst nicht zu zwingen, kohärente Räume zusammenzustellen. An einem bestimmten Punkt der Vorbereitung von »Dramatically Different« hatte Yves Aupetitallot, glaube ich, Schwierigkeiten mit der Art, wie ich mit den Kunstwerken umging. Er war sehr darauf bedacht, dieser Haltung einen seriösen Background zu geben. Die einzelnen Räume in Grenoble waren so konzipiert, daß sie dem Betrachter eine bestimmte Bedeutung zu vermittelten. In Leipzig arbeitete ich daran, daß sie dem Betrachter ein bestimmtes Gefühl vermittelten.
Es gibt immer eine Diskrepanz zwischen der Vorstellung, die man von einer Ausstellung entwickelt, die sich während des Prozesses der Vorbereitung und Organisation verändert, und gegenüber dem, was am Ende dabei heraus kommt, d.h. wie sie tatsächlich aussieht. Du hast eine sehr klare Vorstellung davon, wie »Weather Everything« aussehen soll. Ich nehme an, Du hattest eine vergleichbar präzise Idee von »Dramatically Different«. Hat das »Resultat« tatsächlich genau Deinen Erwartungen von der Ausstellung entsprochen, oder gab es eine große Differenz zwischen Vorstellung und Realität? Falls das der Fall war, was hast Du daraus gelernt?
»Dramatically Different« sah
mehr oder weniger genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Institution
im Hintergrund war eine sehr große Hilfe (im besonderen Alessandra
Galasso, die zu dieser Zeit dort arbeitete) und machte jede Entscheidung
möglich, einige technisch sehr aufwendige Arbeiten eingeschlossen.
Wie auch immer, einige Stücke fehlten zum Schluß aufgrund von
Absagen von Galerien oder Sammlern. Wenn ich eines während dieser
Ausstellung gelernt habe, dann ist es, daß einige Kunstwerke endgültig
für den Rest der Welt verloren sind, wenn sie von bestimmten Sammlern
gekauft werden. Und ebenso, daß man als Künstler besser nicht
stirbt, weil ansonsten deine Galerie für dich denkt, wie eine Mutter
für ihr Kind denkt. Im Zusammenhang mit »Dramatically Different«
fühlte ich mich sehr verletzt, was Felix Gonzalez-Torres betraf, der
ein sehr guter Freund von mir war und wahrscheinlich einer der wichtigsten
Künstler am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich mir vorstelle, was
für eine Beziehung ich zu Felix hatte und sie mit jenen vergleiche,
die ich gezwungen war nach seinem Tod mit seinen Sammlern und Händlern
im Zusammenhang mit dieser Ausstellung zu haben, wird mir angesichts des
Unterschiedes richtig übel. Diese Erfahrung war besonders bestürzend,
weil die ideologischen Grundlagen von Felix Werk, wie Freiheit und Großzügigkeit,
von der Einstellung dieser Leute, die eigentlich die Verantwortung für
sein Andenken haben sollten, total zerstört wurden.
Einige Werke anderer Künstler konnten
wir auch nicht bekommen, weil sie bereits für andere Ausstellungen
reserviert waren: das sind die Spielregeln. Meine Philosophie für
diese Ausstellung war, auf angemessene Weise zu kämpfen, um diese
oder jene Leihgabe zu bekommen, aber niemals auf übertriebene Weise.
Es ging hierbei auch um den Entschluß, sich nicht auf das Spiel von
Verführung und Unterwerfung, das in der Kunstwelt gang und gäbe
ist, mich aber nicht besonders interessiert, einzulassen.
Könntest Du erklären, inwieweit sich Deine Vorgehensweise im Zusammenhang mit »Weather Everything« von der üblichen Arbeitsweise bei der Konzeption einer Ausstellung unterscheidet?
Sowohl »Dramatically Different«
als auch »Weather Everything« sind Ausstellungen, die mit Werken
und nicht mit Künstlern gemacht wurden. Demgegenüber besteht
ein großer Unterschied, wie ich von 1989 bis 1997 Ausstellungen gemacht
habe. Wie dem auch sei, diese Art mit Kunstwerken umzugehen wurde mir von
Künstlern selbst nahegebracht, wie z.B. von Rirkrit Tiravanija, der
Werke von anderen Künstlern ausstellte, oder Dominique Gonzalez-Foerster
und einigen anderen. Bei »Weather Everything« habe ich, nebenbei
erwähnt, die Gewichtung ein wenig austariert, weil es nicht angemessen
ist, eine Ausstellung ohne Künstler zu machen. So wurden z.B. John
Armleder, Liam Gillick und Sylvie Fleury eingeladen, ein Projekt eigens
für die Ausstellung zu entwickeln, und bei einigen anderen, wie Bertrand
Lavier, Alain Séchas, Plamen Dejanov & Swetlana Heger und Sarah
Morris, lag der Auswahl der Arbeiten eine Diskussion mit den Künstlern
zugrunde. Das ist allerdings eine interessante Frage: haben Kunstwerke
ein Leben ohne ihre Schöpfer, nachdem sie fertiggestellt wurden? In
vielen Fällen ist diese Frage nicht gelöst: bei Werken, die technische
Hilfe benötigen, die nur von einer Person auf der Welt gegeben werden
kann, bei Arbeiten, die sich in öffentlichen Sammlungen befinden und
nicht ohne den Künstler selbst oder mit seinem Einverständnis
installiert werden können und so weiter... Das ist schon ein bißchen
merkwürdig!
Was ich mit diesen beiden Ausstellungen
begonnen habe, und nächstes Jahr im L'Elac in Lausanne weiter fortsetzen
werde, ist eine andere Form der Präsentation von Kunstwerken zwischen
der üblichen »musealen Attitüde« und der traditionellen
»Gruppenausstellungs-Haltung« zu definieren. Natürlich
ist die Art, wie ich in Leipzig vorging weder einmalig, noch neu. Aber
wenn Leute für gewöhnlich denken, sie gehen mit Kunst auf außergewöhnlich
freie Art um, indem sie Werke nebeneinander hängen, oder zumindest
in einem Raum eine merkwürdige narrative Konstellation hervorbringen,
sind sie zu ängstlich und bleiben auf einer eher höflichen Ebene
stecken, die dann natürlich überhaupt nicht mehr funktioniert.
Ich war zum Beispiel total schockiert, Katharina Fritschs »Tischgesellschaft«
im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main zu sehen. Eine wunderbare
Arbeit, die wir versucht haben für die Ausstellung zu bekommen. Nicht
nur wegen des absurden dreieckigen Raums, der die Perspektive grundlos
betont, nicht nur wegen des armseligen dünnen Seils, das um die ganze
Arbeit gespannt ist, um die Besucher auf Abstand zu halten, sondern vor
allem wegen der beiden Gemälde von Alex Katz, die im selben Raum hängen.
Es sind zwei Porträts von lächelnden Frauen und als Betrachter
begreift man sofort, welche Absicht dahinter steckte, diese 32 ernsthaften
Männer, die an einem Tisch sitzen und die beiden lächelnden Frauen
in einem Raum zusammen zu präsentieren. Aber leider sind die beiden
Gemälde von Katz sehr schlecht und nicht stark genug, um es mit der
Arbeit von Fritsch aufnehmen zu können. Es wäre naiv nicht zuzugeben,
daß sich da eine Art von Konkurrenzkampf abspielt. Ich hätte
wahrscheinlich die »Big Nudes« von Helmut Newton um diese kleinen
strengen Männer gehängt, um mit der Harmonie von Schwarz und
Weiß zu spielen, während die Intensität der Arbeit von
Fritsch, dem »Überrealismus« der Photographien von Helmut
Newton gegenübersteht. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen
die Gebäudefassaden aus Aluminium von Bertrand Lavier – seine »Relief
peintures« – auszuwählen und die CD »Radioactivity«
von Kraftwerk zu spielen. Zusammenfassend: die methodische Vorgehensweise
bei »Weather Everything« bestand zunächst darin, Freiheit,
schlechten Geschmack, guten Geschmack, Traditionen, Ideen, Sehnsüchte
und Vergnügen gegenüberzustellen.
»Weather Everything« basiert nicht auf einem Konzept oder einem vorher exakt definierten theoretischen Hintergrund, der mit Hilfe der Kunst »illustriert« wird. Es geht mehr um ein spielerisches Zusammenfügen von unterschiedlichen Arbeiten, die neue Gedanken, Bedeutungen, Geschichten und Gefühle hervorbringen, die den einzelnen Arbeiten vorher nicht eingeschrieben waren. Diese Art des Umgangs mit Kunstwerken unterscheidet sich deutlich von der herkömmlichen Präsentation von Werken in einer klassischen Ausstellung. Alleine deshalb gibt es einen realen, ernsthaften Hintergrund und gründet sich nicht nur auf Spaß, Unterhaltung, narrative Momente usw. Es ist keine diskursive Analyse von theoretischen Fragestellungen und bricht mit einer Tradition von Ausstellungen, wie wir sie seit mehr als 100 Jahren kennen.
Soweit ich mich erinnern kann, haben mich
immer Ausstellungen interessiert, deren Kohärenz sich durch etwas
ergibt, das ein klein wenig riskanter ist als das reine Konzept. Über
»No Man’s Time«, eine Ausstellung, die ich 1991 in der Villa
Arson in Nizza machte, schrieb ich Helena Kontova und Giancarlo Politi
von Flash Art: » ‘No Man’s Time’ has been based on no particular
concept and is without any theoretical scheme. First and foremost, the
show does not set out to prove or claim anything. It is neither an angle
on the future nor a synthesis of the present. ‘No Man’s Time’ is a show
and its three month duration is not unlike a theater run.« (in Flash
Art, No. 161, Nov./Dec. 1991). In den letzten sieben Jahren hat sich meine
Position irgendwie nicht wesentlich verändert. Die Idee, eine Ausstellung
als Spektakel zu verstehen, ist mir immer noch sehr nah, wenn man davon
ausgeht, daß ein Spektakel wesentlich mehr sein kann als eine einfache
Möglichkeit, dem Betrachter Vergnügen zu bereiten. Wie ich zuvor
bereits erwähnte, bei dieser Ausstellung geht es darum, einen neuen
Weg zu erkunden mit Kunstwerken umzugehen, abseits der Haltung, wie wir
sie aus Museen, von Sammlern und Galerien kennen. Denn wenn man darüber
nachdenkt, stellt man fest, daß bei jeder dieser Kategorien, denen
unterschiedliche Zielsetzungen zugrunde liegen, auf ganz bestimmte Weise
mit Kunst umgegangen wird. So ist die Entscheidung, Kunstwerke auf diese
Art zu handhaben, doch ziemlich politisch, was aber – um das noch einmal
zu betonen – nicht die Form einer gewalttätigen Demonstration oder
eines Manifests annimmt. Statt dessen wird sie mit der durchaus angenehmen
Erfahrung einer Ausstellung vermittelt.
Um noch einen Schritt weiter zu gehen,
meiner Meinung nach gibt es eine Tradition, auf die sich »Weather
Everything« bezieht, doch sind dies keine Mainstream-Ausstellungen.
»Bestiarium« von Rüdiger Schöttle vor mehr als zehn
Jahren ist eine von diesen, genauso wie »Punishment and Decoration«,
kuratiert von Michael Corris und Robert Nickas in der Galerie Hohental
und Bergen in Köln (1993), oder ganz einfach die Andy Warhol Ausstellung
im Whitney Museum in New York im Jahr 1997. Alle diese Ausstellungen forderten
einen auf, darüber nachzudenken, wie man mit Kunstwerken umgehen kann.
Du nimmst Dir die Freiheit einzelne Kunstwerke zu »mixen«, nicht nur indem Du sie in ungewöhnlichen Zusammenstellungen in einem Raum präsentierst, sondern auch dadurch, daß Du sie zum Teil übereinander hängst. Du rührst an der Integrität des Werks, das als auratisches Einzelwerk geschaffen wurde und nie dazu gedacht war, auf diese Weise manipuliert zu werden. Mir gefällt die Idee, daß Du mit dem Instrument des Kurators – der Ausstellung – arbeitest und es dabei gleichzeitig in Frage stellst. Neu ist, daß Du das Kunstwerk benutzt, nicht um eine theoretische Idee zu illustrieren, sondern als eine Art Arbeitsmittel, nicht als eine unantastbare Aussage, sondern als etwas, das der persönlichen Erfahrung unterliegt und über das man auf unterschiedliche Weise reflektieren kann (worum es in der Kunst ja eigentlich immer geht). Meinst Du nicht, daß Deine Haltung in dieser Hinsicht – ich meine die Art und Weise wie Du die Kunstwerke »benutzt« – mit der vergleichbar ist, die Du zu vermeiden suchst? Ich meine hierbei die Idee, Kunst zur Illustration einer Idee zu gebrauchen. Im einen wie im anderen Fall werden Werke benutzt, um das zu vermitteln oder darzustellen, was der Kurator im Kopf hat?
In dem speziellen Fall, den Du eben angesprochen
hast – ein Werk unmittelbar auf das andere zu hängen – ist meiner
Meinung nach die Integrität jedes der beiden Werke gewährleistet.
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß
es die bestmögliche Art die Integrität eines Werkes zu respektieren
ist, sie übereinander zu hängen. Nüchtern gesagt hat das
Wandgemälde von Lily van der Stokker eine stark dekorative Funktion
und erinnert insgesamt schon sehr an eine Tapete. Die Arbeit von Allan
McCollum, 218 Elemente aus der »Plaster Surrogates«-Serie,
hat auch etwas mit der Idee von Dekoration zu tun, jedoch auf umgekehrte
Weise: sie zeigt den Rahmen als ein dekoratives Objekt und jede Art von
Bild ist aus dem Rahmen verschwunden, vielleicht weil es nicht brauchbar
war. Ich habe nun einfach diese speziellen Eigenschaften der beiden Werke
zusammengefügt und sie auf die Art gezeigt, die sie erfordern. Bei
»Weather Everything« passiert das gleiche mit John Armleders
Wandgemälden. Sie erinnern an Tapeten, da sie die Wand vom Boden bis
zur Decke bedecken und das Motiv regelmäßig und systematisch
wiederholen. Wände mit Tapeten (in Leipzig ist es Andy Warhols »Mao
Wallpaper«) oder Wandgemälden, die wie Tapeten aussehen, zu
bedecken, sind zwei Möglichkeiten, der lächerlichen und altmodischen
Idee vom »White Cube« aus dem Weg zu gehen, die in keiner Weise
mit zeitgenössischer Kunstpraxis korrespondiert, oder zumindest für
deren Präsentation nicht mehr notwendig ist. Diese ganze Idee von
der Integrität des Kunstwerkes muß – mit anderen Mitteln – gänzlich
überdacht werden. Wie Sarah Morris sagen würde: »Selbst
ein Kosuth endet als Dekoration in einer Wohnung von irgend jemand«
(Gespräch mit Sarah Morris, Juni 1998).
Natürlich werden die Werke irgendwie
auf eine bestimmte Weise »benutzt«, um dem Betrachter mit einer
sehr persönlichen, gleichzeitig aber auch temporären Sicht zu
konfrontieren. Am Ende ist es jedoch nicht mehr als eine Aufforderung,
auf diese Weise mit Kunst umzugehen. Die wahre Absicht ist es, dem Betrachter
die Verantwortung zu geben (ich würde sogar sagen zurückzugeben)
die er der Kunst gegenüber immer haben sollte, nämlich sie als
zum ihm gehörend zu betrachten. Ein Kunstwerk existiert nicht, wenn
man nicht mit ihm spielt, wenn man das Erlebnis mit ihm nicht als Souvenir
mitnimmt, sozusagen die Erinnerung von einem vor dem Werk und wenn man
diese Erfahrung nicht mit anderen Erfahrungen verbindet. Ein Kunstwerk
zu betrachten kann kein Erlebnis sein, das vollständig von der eigenen
Wahrnehmung der Welt, mit ihren sozialen, ästhetischen oder politischen
Realitäten getrennt werden kann.
Um auf die Auswahl der Kunstwerke zurückzukommen. Du erwähntest, daß Du nicht Künstler, sondern Werke ausgewählt hast. Das gibt es etwas verkürzt wieder. Im Falle von Helmut Newton zum Beispiel war es Dir egal, welche »Big Nude« wir bekommen. Es ging einfach darum, daß sie High-heels trägt und dem Betrachter frontal gegenübersteht. Will heißen, Du hast Dich für ein Sujet und das, was sich durch dieses Sujet vermittelt, entschieden. Dann gab es aber auch ganz bestimmte Arbeiten, die Du für die Ausstellung wolltest, z.B. Franz Gertschs Gemälde »Marina schminkt Luciano«. In anderen Fällen, wie bei Sarah Morris, ging es um »irgendeine Arbeit«. Könntest Du bitte etwas genauer definieren, warum Du Dich für was entschieden hast?
Bei Helmut Newton ging es ganz einfach
darum, im selben Raum die »Big Nudes« und Katharina Fritschs
»Madonna« zu zeigen. Du wirst mir zustimmen, daß jede
»Big Nude« geeignet gewesen wäre, den Betrachter in eine
Situation zu bringen, wo er erkennt, daß er in diesem Raum mit zwei
relativ unterschiedlichen Frauenbildern konfrontiert ist, was, nebenbei
erwähnt, in seiner Einfachheit schon fast geschmacklos ist. Das könnte
auch heißen, daß jedes Foto aus dieser Serie genauso gut ist
wie das andere. Im Falle von Gertschs Gemälde war das Thema wichtig:
eine Schmink-Szene von zwei Transvestiten. Das Gemälde wird in der
Ausstellung hinter der Skulptur »Les papas« von Alain Séchas
gezeigt. Eine großartige Szenerie, die Skelette ebenfalls beim Malen
zeigt. Sie malen die Portraits ihrer Väter. Eine ganze Reihe von Beziehungen
zwischen diesen beiden Werken können vom Betrachter hergestellt werden:
zwei unterschiedliche »Mal-Vorgänge«, die Transvestiten
und das Vaterbild usw.
Bei Sarah Morris war es auch nicht »irgendein«
Werk, sondern »irgendeines aus der Gebäude-Serie«. Ganz
einfach weil jede Arbeit dieser Serie so phantastisch ist (ähnlich
wie bei Newton) und wir ja, zusammen mit Dan Grahams »Revolving Door«
und Liam Gillicks »Discussion Island«, eine Situation schaffen
wollten, die sich mit dem Corporate Design und der Ästhetik von »Machtzentren«,
wie Konzernzentralen, Flughäfen usw. beschäftigt. Im Grunde gibt
es nicht nur einen Weg, sich für ein Werk zu entscheiden oder einen
Raum zusammenzustellen. Die Ausstellung kann wirklich wie ein Spektakel
oder wie ein Kinofilm verstanden werden. Einige Szenen müssen sehr
realistisch gedreht werden, mit einer »einfachen« Kamera, andere
Szenen benötigen eine starke Nachbearbeitung, bei der noch einige
Spezialeffekte hinzugefügt werden müssen.
Die Subjektivität der Herangehensweise an »Weather Everything« ist vergleichbar mit der eines Künstlers. Es gibt aber doch noch einen Unterschied zu dem, wie ein Künstler arbeitet.
Es ist merkwürdig, daß diese
Frage nach den Grenzen der Macht des Kurators und der »Gefahr«,
daß er sich wie ein Künstler benehmen könnte, so wichtig
zu sein scheint. Du erinnerst Dich, daß es auch die erste Frage aus
dem Publikum nach meinem Vortrag in der Galerie einige Tage nach der Eröffnung
war. Um von der Seite zu antworten: Ich würde sagen, daß ich
nicht weiß, ob man Menschen die Objekte, Bilder und Situationen schufen,
wie sie in der Ausstellung zu sehen sind, »Künstler« nennen
muß. Warum sollen wir das selbe Wort benutzen, um Fra Angelico und
Angela Bulloch zu klassifizieren? Für mich ist das nicht von Belang.
Mir ist es wirklich egal, ob diese Leute Künstler sind. Mich interessiert
lediglich die Tatsache, daß sie etwas schaffen, das auf einem anderen
Gebiet nicht möglich wäre und daß die Erfahrung vor dem,
was sie schufen ziemlich einzigartig ist. Es ist Zeit, einmal deutlich
zu sagen, daß bestimmte Fragestellungen wirklich altmodisch sind.
Auf die Bemerkung, die in Zusammenhang mit seiner Arbeit sehr oft geäußert
wurde: »Das hätte ich auch machen können«, würde
Bertrand Lavier ganz einfach folgendes antworten: »Ja, möglicherweise.
Aber es ist zu spät.« Ich denke, daß diese Art von Äußerungen
auf solche Weise beantwortet werden sollten.
Um nun von vorne zu antworten: Ja, ich
bin der Meinung, daß der Kurator eine Art von »Künstler«
ist. Ansonsten wüßte ich nicht, wofür er im Rahmen einer
Gruppenausstellung gut wäre, die mit Werken aus öffentlichen
und privaten Sammlungen zusammengestellt wurde und kein bestimmtes Thema
hat. Wenn Kuratoren sich häufiger ihrer Freiheit etwas mehr bedienen
und sich um diese Art von Fragen nicht kümmern würden, dann wären
ihre Ausstellungen wahrscheinlich wesentlich aufregender und würden
eine persönlichere Vision von Kunst vermitteln.
Offensichtlich hast Du berücksichtigt, daß die Galerie früher ein großbürgerliches Wohnhaus war. Es gibt viele Werke, die mit Dekoration und Möblierung zu tun haben. Die meisten Gemälde sind figurativ-realistisch, mit Sujets wie Menschen und Haustieren (z.B. der Hase von Agerbeek oder Cattelans Hund). Darüber hinaus scheint das urbane Leben ein wichtiges Element in der Ausstellung zu sein, wie z.B. die Schminkszene der Drag Queens (Gertsch), die Drehtür (Graham), das Auto von Lavier. Hattest Du solche Schlüssel-Themen im Kopf? Wenn ja, gibt es eine Art von »Storyboard«, das die einzelnen Themen am Ende wieder zusammenführt?
Weil es eine der Absichten dieser Ausstellung
war, den Betrachter anzuregen, Geschichten zu kreieren, mußte die
Ausstellung figurative Elemente beinhalten, die die Besucher auf ihr alltägliches
Leben verweist. Seit El Lissitzkys »Geschichte von zwei Quadraten«
ist es ziemlich schwierig mit einem abstrakten Gemälde eine Geschichte
zu erzählen, weil es genau das ist, was diese Art von Gemälden
zu vermeiden versuchen. Natürlich geht es in Peter Halleys »Cells«
um »Gesellschaft«, doch liegt das Verständnis hierfür
weit jenseits dem Betrachten der gemalten Oberfläche. Im Gegensatz
dazu, denke ich, daß sowohl bei Sarah Morris' Bildern als auch bei
Liam Gillicks Wandgemälde, auch wenn beide dem Bereich der Abstraktion
zugerechnet werden könnten, sich dem Betrachter ein Gefühl für
die »Geschichte hinter der Oberfläche« sehr schnell vermittelt.
Daneben ist die Ausstellung, wie ich bereits
zuvor sagte, ein bißchen wie ein Film mit unterschiedlichen Szenen
aufgebaut, wofür sowohl Schauspieler, Statisten und Dekoration unbedingt
notwendig sind. Künstler von heute scheinen vom Kino ungeheuer fasziniert
zu sein und einige von ihnen produzierte Bilder sind ähnlich wie die
im Kino. Sie nutzen Kameras, Videos, ab und zu 16mm-Film, um riesige Bilder
an die Ausstellungswände zu projizieren. In den meisten Fällen
ist das Ergebnis bei weitem nicht so gut wie bei einem Film und, wie Gregor
Muir sagen würde: »Certain artists are seduced by a moving image,
that big, of their own making. More than anything, artists are seduced
by the spectacle of video projection often without questioning the fundamental
principles of spectacle in terms of heavy-handed posturing« (in Kat.
Life/Live, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 1996). Es ist
wirklich eine grundlegende Entscheidung, keine Videos oder andere bewegte
Bilder in »Weather Everything« zu zeigen, denn der Betrachter
soll sich seine eigene animierte Bildfolge durch die Kunstwerke, die in
der Ausstellung zu sehen sind, entwickeln. Die Ausstellung handelt, ebenso
wie jede andere zeitgenössische Schöpfung, natürlich auch
vom kulturellen Einfluß des Kinos auf die unzähligen Bilder
und Szenen, die wir in unseren Köpfen haben. Das »Storyboard«,
wie Du sagst, ist manchmal sehr präzise geschrieben, manchmal aber
auch sehr offen gehalten.
Könntest Du beschreiben, wie Du dieses »Storyboard« angelegt hast? Auf mich macht es den Eindruck, als ob das Erdgeschoß eher theorie-lastig, sagen wir intellektueller ist. Im Obergeschoß hast Du hingegen eine Raumfolge mit unterschiedlichen Stimmungen geschaffen, die insgesamt leichter wirkt. Offenbar gibt es immer zwei Ebenen: eine für das Publikum ohne umfassende Kenntnis und eine, die sehr ambitioniert ist, für die Profis. Zum Beispiel der erste Raum mit dem Skateboard (»Chuck MacTruck«, 1995) von Bertrand Lavier und der »Lady with Shopping Bags« (1973) von Duane Hanson ist sehr reduziert, aber auch sehr dicht. Du erwähntest das Aufeinandertreffen von verschiedenen Zeitebenen (ein Neo-Rokoko-Raum aus der Zeit Anfang des Jahrhunderts, eine Person aus den siebziger Jahren und das zeitgenössische Skateboard) und die Möglichkeit, daß der Betrachter sich mit der Frau, die vor einer modernen Skulptur steht und sich fragt, was das ganze eigentlich soll, identifizieren kann. Es ist sozusagen das Bild eines stereotypischen Besuchers, bei dem sich das Problem der Unverständlichkeit von zeitgenössischer Kunst für Laien darstellt. Auf der anderen Seite haben wir das Spiel von Fiktion und Realität. Daneben läßt sich die gesamte Entwicklungsgeschichte der Skulptur seit Duchamp entdecken: die Idee des »Ready-made« (ein gebrauchtes Skateboard, das von einer merkwürdigen Metallhalterung getragen wird, die man üblicherweise für die Präsentation afrikanischer Masken benutzt, womit eine Ebene der kulturellen Transgression ins Spiel kommt), die Bedeutung des Sockels, der eine bestimmte Aura schafft und auf der anderen Seite das gegensätzliche Beispiel, der fehlende Sockel bei der Skulptur (Hanson), die auf dem Boden steht usw.
Als erstes möchte ich auf die Gegenüberstellung
von »normalem« Betrachter und Profi reagieren. Für mich
ist der Fachmann auch nur ein normaler Besucher, bei dem eine andere Ebene
der Rezeption und Wissen ins Spiel kommt. Doch im Grunde genommen kann
das jeder Betrachter genauso leisten. Vor der Mona Lisa, zum Beispiel,
sind einige Betrachter lediglich von dem berühmten Lächeln, der
Art, wie einen die Frau anzuschauen scheint, fasziniert. Der Spezialist
wird erkennen, wie Leonardo auf ganz neue Art mit der Gestaltung des Hintergrunds
umgeht: der Einsatz von blauen Farben, um den Schleier, das »Sfumato«
zu erreichen, was ja die absolut neue, strategische Erfindung bei diesem
Gemälde darstellt. Am Ende sind diese Zugänge jedoch wieder sehr
stark miteinander verknüpft. Man erreicht diesen Eindruck nicht ohne
die bestimmte Technik und umgekehrt. Für mich funktionieren die Räume
in »Weather Everything« irgendwie auf ganz ähnliche Weise.
Natürlich ist es lustig, wenn eine alte Frau ein Skateboard betrachtet.
Allerdings hätte es keine Wirkung, wenn sich nicht durch dieses einfache
Bild und aus der Situation einige Fragen ergäben. Wenn der Betrachter
»ein wenig arbeitet«, wie Jean-Luc Godard es nennen würde,
kann er die Fragen entschlüsseln, die durch die bestimmte Situation
vorgegeben werden.
Im Grunde gibt es kein bestimmtes »Storyboard«.
Es sind nur wenige Möglichkeiten unter vielen dargestellt. In einem
hast Du aber recht, jede Entscheidung ist wichtig.
Es kommt sehr oft vor, daß einige Aspekte der Komplexität von Werken »abgeschnitten« werden. Sie werden mit anderen Arbeiten in einem Raum gruppiert und diese Kombination ergibt den Kontext, in dem Du sie gesehen haben möchtest. Einige Aspekte außerhalb dieses künstlichen Zusammenhang sind in diesem Moment einfach nicht relevant. Die Werke verlieren zwar nicht einen Teil ihrer Identität, jedoch ihrer Komplexität, weil Du als Kurator den Betrachter »zwingst«, sie unter einem bestimmten Blickwinkel zu betrachten. Für den Betrachter, der mit den einzelnen Werken womöglich nicht so vertraut ist, sind verschiedene Aspekte einfach nicht erkennbar und gehen irgendwie verloren. Das beste Beispiel sind Plamen Dejanov & Swetlana Heger. Der ökonomische Hintergrund, der einen wichtigen Teil ihrer künstlerischen Strategie ausmacht, wird hier völlig außer Acht gelassen. In ihrem Fall hebst Du den dekorativen Aspekt, die Ästhetik der siebziger Jahre usw. hervor, hingegen wird die Tatsache, daß sie das mit unterschiedlichen Jobs verdiente Geld in den andauernden Ankauf von neuen Objekten reinvestieren, nicht deutlich. Dasselbe gilt für viele andere Künstler, wie beispielsweise für Angela Bulloch und Dan Graham. Natürlich hast du die Künstler gefragt und sie sind mit der Art der Präsentation einverstanden, aber denkst Du nicht, daß es problematisch ist, bestimmte Aspekte völlig außer Acht zu lassen?
Es geht nicht darum, einen Teil der Komplexität zu verlieren, vielmehr werden bestimmte Aspekte in den Vordergrund und andere Gesichtspunkte in den Hintergrund geschoben. Doch dieser Hintergrund bleibt für jeden immer noch zugänglich. Du hast recht mit dem Beispiel von Plamen Dejanov & Swetlana Heger: der ökonomische Aspekt verschwindet durch diese Art der Präsentation. Doch möchte ich die Tatsache hervorheben, daß sich die Arbeiten, die wir für die Ausstellung ausgewählt haben, mittlerweile in öffentlichen oder privaten Sammlungen befinden. Selbst wenn im Falle Dejanov & Heger die ökonomische Strategie im Hintergrund verschwindet – und gerade die Verfahrensweise bei der Produktion der Arbeiten ist sehr wichtig in ihrem Werk –, am Ende hat die Arbeit ein eigenes Leben ohne ihre Schöpfer. Etwas allgemeiner gesagt denke ich, daß Kunstwerke mehrere Leben haben. Sogar Michelangelos Fresken in Rom haben verschiedene Leben, was die Veränderung ihres Äußeren betrifft: das ihrer Entstehungszeit, das ihres fortschreitenden Alters [mit den Spuren von Jahrhunderten, die ihnen die charakteristische dunkle Farbe gab] und das heutige, nach der Restaurierung. Die leuchtenden Farben laden dazu ein, sie mit Bildern aus dem Kino und der Werbung zu vergleichen. Eine der Aufgaben des Kurators ist es, Kunstwerke zu revitalisieren, ihnen vorübergehend ein neues Leben zu geben. Um ehrlich zu sein, Künstler machen das auch. Ich erinnere mich an Carl Andre, wie er über seine Boden-Arbeiten sprach. In den siebziger und achtziger Jahren betonte er, daß sie horizontale Skulpturen seien. In den Neunzigern hingegen erklärte er, daß das Material, dieses Metall, Bezug nimmt auf die Ästhetik von industriellen Vorstädten.
Offensichtlich hat die Ausstellung sehr viel mit der Person Eric Troncy zu tun. Ich möchte jetzt nicht behaupten, daß »Weather Everything« ein Selbstporträt sei, doch da Du Deine Definition des Kurators als eine Art Künstler angeführt hast, denke ich, ist es legitim, diesen Begriff zu gebrauchen. Offensichtlich ist eine Menge über Dein berufliches »Weltbild« zu finden. Wir haben das in diesem Gespräch ausgiebig erörtert, doch nun möchte ich gerne mehr über die ganz persönlichen Dimensionen erfahren. Es gibt Räume mit leichter und fröhlicher Atmosphäre, während andere ruhiger sind, manche sogar traurig, und im Falle des letzten Raumes mit Gloria Friedmann, Wendy Jacob, Philippe Parreno und Yan Pei Ming, irgendwie melancholisch.
Ich bin nicht sicher, ob die Ausstellung so aussehen würde, wenn sie ein richtiges Selbstporträt wäre. Aber auf jeden Fall ist es das mindeste, was ich tun könnte, die Ausstellung zu signieren! Das bedeutet auch, daß ich meine eigene Kultur einbringe, meinen eigenen Zugang zum Leben, meine eigene Lebenserfahrung, meine Sicht der Dinge. Aber es geht nicht nur um mich, die Ausstellung führt den Betrachter auf eine Reise von Gemütszuständen, die ihn so oder so fühlen und an dies oder jenes denken lassen. Es ist ein bißchen wie in einem Kinofilm, bei dem die Persönlichkeit des Autors – selbst wenn es kein Film über den Regisseur selbst ist –selbstverständlich, wie bei jeder Schöpfung, immer präsent ist.
veröffentlicht in: Weather Everything, Ausst.Kat. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (Cantz-Verlag) 1999
© 1999 Jan Winkelmann