Gestohlene Blicke. Fotografien von Beat Streuli

Jan Winkelmann

Wissen Sie, wie sie aussehen, welchen Ausdruck ihr Gesicht prägt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen? Wahrscheinlich nicht. Die wenigsten kennen diesen besonderen Gesichtsausdruck, den ich den natürlichen Ausdruck eines Menschen nenne. Jeder weiß, wie er aussieht, wenn er morgens nach dem Aufstehen in den Spiegel schaut, oder wenn man, kurz bevor man das Haus verläßt, noch einen überprüfenden Blick in denselben wirft. Auf Fotografien sieht man entweder besonders blöd aus, insbesondere bei Schnappschüssen, oder man posiert mit einem freundlichen Lächeln. Alles das unterscheidet sich jedoch von dem, wie man wirkt, wenn man die Straße, den urbanen Raum, die Bühne der Öffentlichkeit betritt. Meistens befindet man sich auf dem Weg an ein bestimmtes Ziel, sei es eine Verabredung, das nächste Geschäft, der Arbeitsplatz oder der Nachhauseweg. In den seltensten Fällen ist man dabei wirklich präsent und nimmt seine Umgebung und auch sich selbst in dem Maße war, wie es der Fall ist, wenn man mit einem Gegenüber kommuniziert oder in ein wie auch immer geartetes Verhältnis zu anderen Menschen tritt. Auf der Straße entfällt die Notwendigkeit der Darstellung, eine Offenheit im Ausdruck gewinnt an Bedeutung. Diese Abwesenheit von Mimik, der natürliche Gesichtsausdruck von Menschen, die sich außerhalb ihrer eigenen vier Wände bewegen, sind die Motive von Beat Streulis Fotografien.

Es sind Menschen im öffentlichen Raum der Großstadt in alltäglichen Situationen zu sehen. Diskret und unauffällig bewegt sich der Fotograf inmitten von Menschenmassen und nimmt auf, was er sieht. Besser gesagt, er fotografiert, wie er sieht, da sein fotografischer Blick dem selektiven Blick des Menschen in der Menge gleicht. Sehen und Fotografieren bilden eine Einheit, die dem Betrachter ein ähnliches Erlebnis vermittelt, wie er es bei einem Bummel durch die Stadt wahrnimmt. Es hat fast den Anschein, als ob Streuli gar keine Kamera dabei gehabt hätte. Seine Fotos wirken derart unaufdringlich und zurückhaltend, weil sie auf jegliche überspitzte Expressivität und künstlerische Handschrift verzichten. Dabei entspricht der gewählte Ausschnitt, des sogenannten american frame vom angeschnittenen Kopf, bis zur angeschnittenen Hüfte in ungefähr dem, wie wir auf der Straße andere Menschen fokussieren. Diese Fotos sind Schnappschüsse, die von dem "Gebot der Zuspitzung" (Gerhard Mack) befreit sind. Es werden weder entscheidenden Augenblicke gezeigt, noch eine Handlung in einem Punkt festgefroren. Die Bildausschnitte bleiben fragmentarisch und wirken höchst provisorisch. In etwa so, als ob jeden Moment etwas passieren könnte, was lohnen würde, noch einen Moment länger zu verweilen, um den Fortgang der Szene zu beobachten. Doch dieser Moment der Kulmination bleibt aus, nichts passiert und der sensationslüsterne Blick bleibt unbefriedigt. Jean-Christophe Ammann bringt diese Vorgehensweise präzise auf den Punkt: "Beat Streuli macht genau das Gegenteil dessen, was ein Reportagefotograf tut. Er fotografiert am Motiv vorbei."

Dabei fing alles ganz anders an. Streuli kaufte sein erstes Teleobjektiv im Alter von 17 Jahren. Dies geschah weniger aus dem Absicht heraus künstlerische Fotografie zu betreiben, als vielmehr aus einer sehr persönlichen Motivation. Der Grund war, "daß ich die Schönheit eines Mädchens, in das ich verliebt war, besser auf Film bannen wollte." Streuli hat nie Fotografie, sondern Malerei studiert. Die Auseinandersetzung mit, besser gesagt die Annäherung an die Fotografie entstand über das Experimentieren mit Fotogrammen und abstrakten Fotomontagen. Dabei entwickelte sich langsam das Bedürfnis selbst zu fotografieren und auf die Straße zu gehen. 1988 entstand sein erster Zyklus mit Straßensituationen, die für die weiteren Entwicklung des Werks eine entscheidende Rolle spielte.

Von besonderem Interesse an der Straße, dem öffentlichen Raum der Großstädte ist für Streuli das ausgesprochen Provisorische, die Bewegung der sich permanent verändernden Konstellationen von Menschen, seien es Einzelpersonen oder kleine Gruppen. Ähnlich wie hierbei für den beobachtenden Passanten keine Einheitlichkeit, kein umfassendes Ganzes erkennbar ist, sind die gewählten Bildausschnitte auch nur Fragmente und Wahrnehmungssplitter dieser urbanen Realität, die in einer Ausstellung ebensowenig einen situativen Überblick ermöglichen, wie es die Choreographie der Straße erlaubt. Streuli teilt uns nichts mit. Er kann uns auch gar nichts über das fotografierte Individuum mitteilen, da er die Menschen nicht kennt und sie ohne ihr Wissen, und ohne daß sie es bemerken, fotografiert. Gerade diese Unwissenheit macht sie aber als Motiv interessant. Wo die Porträtfotografie das Persönliche und Individuelle einer Person einzufangen versucht was oft genug leider mißlingt erfahren wir in diesen Fotos mehr über das Individuum, weil wir sie nur die Oberfläche abgreifen. Es ist lediglich das sichtbar, was sich über die Fassade der visuellen Erscheinung einer Person mitteilt. Dies reduziert sich in erster Linie darauf, was man als eine Art nonverbales Kommunikationssystem beschreiben könnte. Einerseits sind dies körperhafte Merkmale, wie Gestik, Bewegung, Haltung und Mimik und andererseits der Ausdruck des Persönlichen durch Kleidung, der wiederum Aufschluß gibt über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft. Diese sagen ja bekanntermaßen mehr als Tausend Worte und trotzdem werden wir nicht mit individuellen Geschichten, Anekdoten und Einzelschicksalen der abgebildeten Personen konfrontiert. Vielmehr stehen sie in ihrer Gesamtheit prototypisch für die Lebenssituation von unzähligen Bewohnern der Städte dieser Erde.

Die Menschen in Streulis Aufnahmen sind keine Opfer, sondern Akteure. Überwiegend handelt es sich dabei um junge Leute, die sich in Bewegung befinden. Man könnte sie mit den Adjektiven handsome, healthy, elegant, relaxed am besten umschreiben. Das Allgemeine, Durchschnittliche und Banale wird fokussiert. Er will weder irritieren noch überwältigen, sondern einfach nur festhalten und die Flüchtigkeit der Bewegung in der Großstadt dokumentieren. Die fixierten Personen werden durch die vermeintlich intentionslose Herangehensweise derart objektiviert, daß wir uns im nächsten Moment schon nicht mehr an sie zu erinnern glauben. Dieses unspezifisch Normale ermöglicht es dem Betrachter sich mit der gezeigten Situation ohne Umwege zu identifizieren. Wir haben es mit einer moving crowd zu tun, die uns in ähnlicher Form ebenso in New York, London oder Paris begegnen könnte.

In Streulis Werk treten zwei Motivgruppen besonders hervor. Auf der einen Seite sind dies Einzelpassanten, deren Körperbild und Gesichtsausdruck ein unbestimmtes, nach außen gekehrtes Abbild des Inneren ist. Andererseits sehen wir Gruppen von Personen, die untereinander in Kontakt stehen, um einen gemeinsamen Spielraum innerhalb des metropolitanen Settings zu umschreiben. Neben diesen Passanten findet sich eine Vorliebe für Minderheiten, deren soziale, politische und ethnische Probleme zugunsten einer Sehnsucht nach dem Normalen innerhalb des Besonderen in den Hintergrund treten und somit größtenteils negiert werden. Dem Künstler geht es weniger um eine sozialkritische Dimension, sondern immer um ein positives Gesellschaftsbild, eine Art private Utopie von einer besseren Welt, die er partiell schon im Jetzt zu erkennen glaubt und die nicht zuletzt in seiner Lust an der Schönheit zum Ausdruck kommt. Er selbst nennt diese positive Ausstrahlung, der er in seinen Fotos habhaft zu werden sucht, "richtig". "Es gibt diese positivistische Seite in meiner Arbeit, eine Art hoffentlich kontrollierter Naivität, eine Gegengewichtung zur verbreiteten, in meinen Augen sehr destruktiven "alles wird schlimmer"-Stimmung am Ende des Fin de Siècle." (Streuli) Dies ist auch der Grund, warum er in manchen Städten nicht fotografieren kann und will, weil in den Gesichtern der Menschen dort ein Zuviel an Frustration und Trostlosigkeit zu finden ist.

Aus praktischen Gründen arbeitet er meistens mit einer Kleinbildkamera. Diese ermöglicht es ihm, sich ungehindert in der Menge zu bewegen und zuzuschnappen, wenn sich ein Motiv ereignet. Um nicht aufzufallen, und Gefahr zu laufen, daß der Beobachtete sich plötzlich als solcher bewußt wird und automatisch beginnt zu posieren bzw. sein offizielles Gesicht aufzusetzen, "stiehlt" Streuli seine Bilder mittels eines starken Teleobjektivs. Das Motiv wird herangezoomt, wobei sich die realen Distanzen zusammenziehen. Dadurch und durch das Verschwimmen des Hintergrundes, das durch die geringe Tiefenschärfe des Teleobjektivs hervorgerufen wird, verflacht einerseits die räumliche Wirkung, wodurch der Raum diffus wird. Andererseits wirken die Aufnahmen dadurch perspektivisch dekonstruiert. Die Beleuchtung wirkt bühnenartig, da das Objektiv sehr viel Licht braucht und Streuli folglich nur bei strahlendem Sonnenschein arbeiten kann. Die Helligkeit und das freundliche Licht unterstreicht nicht nur die positive und heitere Ausstrahlung, sondern verstärken auch den malerischen Charakter der Farben, die förmlich zu leuchten scheinen.

Grundsätzlich sind alle Fotos so konzipiert, daß sie dem Betrachter ein 1:1 Erlebnis vermitteln, womit einer Identifizierung mit dem Betrachteten ermöglicht werden soll. Will heißen, sie werden entweder in Überlebensgröße geprintet oder als Diaprojektion im Ausstellungsraum projiziert bzw. auf Plakatwänden im öffentlichen Raum gezeigt. Bei den Projektionen gewinnt ein zeitliches Element an Bedeutung. Durch langsame Überblendungen ergibt sich ein Slow-motion-Effekt, der sich dem Rhythmus des menschlichen Atems annähert. Die in Einzelfotos zerlegten Bruchstücke von Bewegunsgabläufen finden in dieser Art der Präsentation wieder in einen kontinuierlichen, jedoch verlangsamten Fluß zurück. Die Vielzahl von Projektionen in einem Raum transponieren nicht nur den Außenraum in einen geschlossenen sondern bilden gleichzeitig eine Zone zwischen statischem Bild und cinematographischem Ablauf. Die Vielzahl der projizierten Bilder entsprechen dem visuellen Erlebnis in der urbanen Öffentlichkeit und tragen somit zu einer noch größeren Annäherung von Bild und Betrachter bei, wobei die extreme Verlangsamung andererseits der Schnelligkeit im wirklichen Leben widerspricht, dem Ganzen aber einen zugleich meditativen Charakter verleiht.

Die bereits angesprochene Präsentation auf Plakatwänden, wie sie mit "Visitors" zuerst in Wien (die auch zeitgleich auch in zahlreichen anderen europäischen Städten, wie in Frankfurt/Main, Zürich, Budapest und Prag zu sehen waren) im Rahmen der alljährlichen Medienausstellung des museum in progress gezeigt wurden, brechen den bisherigen musealen Ausstellungskontext auf und bringen die Fotos wieder an den Ort ihres Ursprungs zurück. Gezeigt wurden ausschließlich ausländische Touristen, die als anonymen Nomaden durch die Hauptstädte dieser Welt ziehen. Ähnlich versprengt, wie die Touristen im Stadtbild auftauchen, waren sie auf 3000 Plakatwänden zu sehen. Vor dem Hintergrund des Rechtsrucks in Österreich und der damit verbundenen grassierenden Fremdenfeindlichkeit gewinnt diese Arbeit eine zusätzliche, fast schon sozialpolitische Dimension. Die Billboards in Wien, wie auch bei seiner jüngsten Präsentation im Außenraum vor dem Flughafen Schiphol in Amsterdam, bestehen aus einem variablen Modulsystem aus Großfotos, die in wechselnden Konstellationen kombinierbar sind und auf einer Plakatwand nahtlos, gegebenenfalls doppelreihig, nebeneinander gestellt werden. Verschiedene Einzelmotive wechseln sich mit Sequenzen von Bewegungsbläufen ab.

Ein weiterer naheliegender Schritt in Richtung Raum und Zeit ist das Medium Video, das erstmals in der Arbeit "5th Avenue South" (1994) zur Anwendung kam. An einem unbemerkten Ort wurde mit einer feststehenden Kamera für die Dauer von 40 Minuten der im Titel angesprochene Straßenabschnitt New Yorks gefilmt. Im Gegensatz zu den Fotos, bei denen die Selektion und Auswahl der "richtigen" Motive einen Teil des schöpferischen Akts darstellt, geht Streuli hier so einfach wie möglich vor und zeigt das ungeschnitte Rohmaterial in voller Länge. Der Betrachter erlebt und beobachtet den aufgenommenen Ort in Realzeit. Statt wenigen Personen, wie bei den Prints, sieht man hier nun in kürzester Zeit hunderte von Personen und wird zum Flaneur, ohne selbst zu flanieren. Der weitgehende Verzicht auf Ton ist eine bewußte Reduktion auf die rein visuelle Rezeption, um die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht abzulenken, wobei gleichzeitig auch ein abstrahierendes Moment zum tragen kommt.

Eine ähnliche Weiterentwicklung wobei dies nicht im Sinne einer linearen Entwicklung zu sehen ist, sondern vielmehr als eine Erweiterung der bildnerischen Mittel, mit der er auf mehreren Ebenen gleichzeitig arbeitet ist die Tatsache, daß Streuli den Personen seiner Motiven, sowohl in der Fotografie an sich, als auch als im zwischenmenschlichen Bereich, näherkommt. Die abgebildeten Personen sind mittlerweile formatfüllend wiedergegeben, der städtische Kontext stellenweise nur noch zu erahnen. Dies macht es aus praktischen (rechtlichen) Gründen erforderlich, daß die Betroffenen vorher um Erlaubnis gefragt werden. Beide treten aus der Anonymität heraus und noch vor dem Shot in eine Beziehung zueinander. Dies stellt insofern eine Schwierigkeit dar, als das Motiv nun nicht mehr unbefangen ist, im schlimmsten Falle unbewußt posiert. Andererseits hat das in realiter doch keine großen Auswirkungen, da diese mißlungenen Fotos dem rigiden Selektionsmechanismus Streulis im nachhinein zum Opfer fallen.

Beat Streulis Fotografien lassen den Betrachter an der anonymen, intimen Privatsphäre anderer Personen teilhaben, ohne sie voyeuristisch vorzuführen oder gar zu denunzieren. Es sind Fotos, die im Vorübergehen gemacht wurden und ebenso im Vorübergehen betrachtet werden können (und sollen). Sie entstehen aus der Überzeugung heraus, daß heutzutage Kino und Werbung viel wirksamer sind, als das meiste im Feld der Bildenden Kunst. "Meine Arbeit befindet sich in einem Grenzbereich zwischen dokumentarischer Fotografie einerseits und der Überhöhung der Momentaufnahme zu etwas sehr Definitivem, Komponiertem, fast Inszeniertem, andererseits." (Streuli)

in holländischer Sprache veröffentlicht in: Metropolis M. Tijdschrift over hedendaagse kunst, No. 4, August 1997

© 1997 Jan Winkelmann

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