Realitätstunnel
Jan Winkelmann
Am Strand eingeschlafen,
wacht er auf und blickt verwundert um sich. Das Sonnenlicht scheint nicht mehr,
sondern flackert unbarmherzig intensiv. Eine Flut von Blitzen ergießt
sich über seine Netzhaut. Der Sehnerv zuckt förmlich im Takt des
Lichtstakkatos. Die Augen zusammenkneifend, mindert sich der Sehschmerz nur
unmerklich. Die Augenlider wieder aufreißend, ergibt er sich dem
übermächtigen elektronischen Lichtgewitter, das seinen Körper
wie Stromschläge im Takt von 7,8 Hz durchzuckt. Im Vergleich zur fast
obszönen Penetration seiner Netzhäute scheint die, von den nahezu
2000 gleichzeitig flackernden kleinen Sonnen produzierte Hitze, ihm wie ein
unangenehm leicht überhitztes Bad. Die Umgebung wirkt nahezu farblos, wie
die verblassten Farben alter Farbfotos seiner frühen Kindheit im
Familienalbum. Ein grellweißer Lichtschleier scheint die Farben um ihn
herum halbverschluckt zu haben und ihn dabei immer weiter in den Bann zu
ziehen, bis er im Sog des Lichttaktes, jegliche Gegenwehr aufgebend, in einen
anderen Realitätstunnel gelangt. Er kannte dieses physio-optische
Phänomen aus einer früheren Zeit, als man sich mit Hilfe, von mit
Leuchtdioden besetzten Brillengläsern, über einen kleinen Regler in verschiedene
Bewusstseinszustände zu versetzen in der Lage war. Es mag Ende der 80er,
Anfang der 90er Jahre gewesen sein, als man in Mindmachine-Shops ging, um sich
dort für 15 Minuten der wohltuenden Lichtfrequenz zu überantworten
und hinterher „angeregt“, „beruhigt“,
„konzentrationsgefördert“ oder wasauchimmer man eingestellt
hatte, den Laden wieder zu verlassen. Heutzutage scheinen
„Sauerstoffbars“ und Salons mit „Floatingtanks“ diese
Funktion übernommen zu haben. Sie lassen den überarbeiteten,
unterentspannten Menschen für einen kurzen bezahlten Moment an anderen
Realitäten teilhaftig werden. Dabei war die Idee eigentlich gar nicht so
schlecht, wenngleich auch nie wissenschaftlich gänzlich bewiesen:
Lichtimpulse, die mit der gleichen Frequenz wie Hirnströme blinken,
sollten/könnten/müssten in der Lage sein, jene zu synchronisieren und
sie damit von außen, d.h. künstlich steuerbar zu machen. Eine
weitere Etappe auf dem Weg zum Sieg der Technik über die Physiologie des
Menschen, aber letztlich auch nichts vollkommen anderes als eine Brausetablette
für das heimische Entspannungsbad, ganz nach Belieben wählbar:
Rosmarin-Ginseng zur Erfrischung, Hopfen-Kamille zur Entspannung,
Eukalyptus-Pinie zur Belebung, Lavendel zur Harmonisierung etc. pp. Was wohl
passieren würde, wenn man sich, Ketamin injizierend, in Rosmarinduft
gehüllt und von 38,5 Grad heißem Salzwasser umspült, eine
Mindmachine auf der Nase und auf der quadrophoniegesteuerten Stereoanlage einem
akustisch induzierten 4-Indolol, 3-[2-(Dimethylamino)Ethyl], Phosphate Ester-,
kurz: Psilocybin-Rausch hingeben würde? Hypermultiekstatische
Realitäten womöglich, oder auch nicht. Da wurde er an seinen ersten
und bislang einzigen LSD-Rausch vor mehr als einer Dekade erinnerlich, der eher
einem Horrortrip glich, denn ihm neue, bisher nicht gekannte Wahrnehmungs- und
Realitätsebenen seiner Persönlichkeit zu eröffnen. Kleine
neonfarbene Monster, die gleich einem Mobile Alexander Calders vor seinem
geistigen Auge schwebten, ließen ihn drei Tage am Rande des Nervenzusammenbruchs
dahinvegetieren. Als sich die kleinen Dämonen endlich aber unmerklich
verabschiedeten, hatte er fürs erste, nein, eigentlich für immer,
genug von Wahrnehmungsexperimenten dieser Art. Die den eigenen Körper und
die damit verbundene Wahrnehmung überwindenden Bestrebungen sind heute ein
mehr oder weniger weit verbreitetes Phänomen. Sich an uneigene
Wahrnehmungsphänomene anzudocken hat offensichtlich einen überaus
großen Reiz und bietet nicht selten ein Erfahrungspotenzial, dem die
reale Realität in jeder Hinsicht hinterherzuhinken scheint. Vorausgesetzt
natürlich, dass man den eigenen Wahrnehmungshorizont nicht als die ultima
ratio anzuerkennen gewillt ist und sich eigentlich immer auf der Suche nach
einem „Mehr“ und „Weiter“ und „Höher“
oder „Tiefer“ befindet. Selbst im Kleinen, d.h. ohne die Macht und
Wucht psychoaktiver Substanzen, wird man gelegentlich auf mehr oder weniger
steuerbare Art und Weise an anderen Realitäten teilhaftig. So zum Beispiel
bietet das Fahren mit Hochgeschwindigkeitszügen diesbezüglich ein
wunderbares Erlebnispotenzial. Nichts geht über eine gepflegte Fahrt mit
dem Shinkanzen, der japanischen Variante des Highspeed-Railroad-Travellings.
Der Schaffner verneigt sich höflich bei jedem Betreten und Verlassen des
Großraumwagens im immergleichen Bewegungsablauf und mit einer Neigung von
24 Grad, egal ob ihm jemand dabei zusieht oder nicht. Ritualisierte
Abläufe von der Art, wie man sie überall im traditionsorientierten
Japan antrifft. Einem Land, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im
friedlichen Neben-, Bei- und Miteinander existieren. Keine Brüche
kennzeichnen den Fortgang der Geschichte, wie wir es aus der Geschichte
(insbesondere der Kulturgeschichte) Europas kennen; alles fließt oder/und
geht ineinander über oder/und reiht sich aneinander. Über der
Tür, vor der sich eben noch brav der Schaffner in Richtung
Großraumabteil verbeugt hat, blinkt plötzlich, wie in der Concorde
bei Erreichen der Schallgeschwindigkeit, eine rote LED-Anzeige „300 km/h“.
Die Landschaft vor dem Zugfenster fliegt vorbei und verwandelt sich zu einem
einzigen lang gezogenen, verschiedenfarbigbunten Strich. Am Horizont taucht
Fuji-san mit seinem schneebedeckten Gipfel, wie die abgeschrägte Spitze
der Goldfeder eines Montblanc-Füllfederhalters, aus dem Morgennebel auf.
Konzentriert man sich beim Hinaussehen nicht auf die Ferne, sondern auf die
unmittelbar vor dem Fenster vorbeizitternden Farbspiele, tritt man früher
oder später in einen Zustand der tranceartigen farbinduzierten Meditation.
Für den Fahrer des Zuges muss sich eine noch interessantere Optik ergeben.
In etwa wie die einer Beobachtungskamera, die sich mit Hochgeschwindigkeit
durch eine Tunnelröhre in der Kanalisation frisst. Keine Weitsicht, nur
kaum wahrnehmbare, trichterartige Wandteile, wie von einem Vakuum durch den
Tunnel gezogen, schießt die Kamera immer weiter geradeaus ins Schwarze
Loch des Nichts. Die Frontscheibe wird zur Mattscheibe eines Fernsehmonitors,
mediale und reale Realität vermengen sich wie die eben beschriebene
Amalgamierung von Gegenwart, Geschichte und Zukunft einer ganzen
Kulturtradition. Ein ähnliches Erlebnis bieten die Umkleidekabinen des
kürzlich eröffneten Flagship-Stores eines italienischen Luxuslabels
in New York. Ähnlich dem Besteigen des Fahrstuhls im Raumschiff Enterprise
öffnen sich zwei Glastüren, die sich nach dem Betreten wie von
Geisterhand schließen. Der Druck mit dem Fuß auf einen, am Boden
befindlichen überdimensionalen Knopf lässt das durchsichtige Glas
augenblicklich milchig werden. Bye bye reality, welcome with yourself! Das
eigentlich Aufregende beginnt nun weniger mit dem Anprobieren der
unterschiedlichen Konfektionsteile, vielmehr spielt es sich im Wechselspiel der
Spiegel vor und hinter einem ab. Die im hinteren venezianischen, d.h.
halbdurchlässigen Spiegel verborgene Kamera nimmt das Spiegelbild des
gegenüberliegenden Spiegels auf und überträgt dieses auf einen
Plasmabildschirm, der sich wiederum im vorderen Spiegel befindet und neben das
eigentliche Spiegelbild tritt. Auf diese Weise ist der geneigte
Besucher/Betrachter in der Lage, sein eigenes Antlitz sowohl im Spiegel, als
gleichzeitig auch auf dem Bildschirm nebeneinander wahrzunehmen. Reale
gespiegelte, wie auch gespiegelte mediale Realität treten unaufgeregt
nebeneinander. Letztlich wird dieser Mediali-Reali-tätsrausch noch darin
getoppt, dass man durch drei Knöpfe unterhalb des im Spiegel versteckten
Bildschirms verschiedene Lichtstimmungen einzustellen in der Lage ist: von
natürlich über leichtwarmweichem bis zum hellgrellen Scheinwerferlicht.
Daneben wird dieses Spiel unterschiedlicher beleuchteter Realitäten
zusätzlich überzeichnet, indem die Übertragung des mit der
Kamera aufgenommenen Geschehens nur bei langsamen Bewegungen in Echtzeit
geschieht; bei schnellen wird das Ganze jedoch zeit versetzt, d.h. verlangsamt
wiedergegeben. Verschiedene Ebenen von Wirklichkeit treten nebeneinander,
durchdringen sich, wirken aufeinander ein, werden in den ihnen eigenen und sie
charakterisierenden Bedingungen wahrgenommen und ergeben wiederum insgesamt eine
mehrfach gebrochene Wahrnehmung der Realität. Bisher für mich eines
der eindrücklichsten Erlebnisse des Neben-mit-durch-in-einanders
unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen und -wahrnehmungen. Eine in dieser Form
bisher noch nie da gewesene Inszenierung von medial vermitteltem, und in
unmittelbarer Abhängigkeit dazu, gleichzeitig durchbrochenem
Raum-Zeit-Kontinuum. Aber genau genommen ist das letztlich auch nichts anderes
als die Hightechvariante eines durch extremen Jetlag verursachte verlangsamte
visuelle Erfahrung, wie ich es kürzlich nach einem Rückflug aus
Amerika erlebte. Mein visueller Wahrnehmungsapparat schien sich ob der extremen
Übernächtigung nicht mehr am angestammten Platz zu befinden. Vielmehr
mutete es an, als würde eine Kamera von 15 bis 20 cm neben der
eigentlichen Wahrnehmungsrezeption die aufgezeichneten Bilder mit einer
deutlichen Verzögerung im Millisekunden-Bereich drahtlos in mein Gehirn
übertragen. Alles Gesehene schien leicht zeitversetzt stattzufinden, wobei
wiederum die dazugehörigen Bewegungen meines Körpers jedoch in
Realzeit dazu abzulaufen schienen. Sozusagen eine Doppelwahrnehmung, wie sie
vielleicht für den bisher noch nie übernächtigt Gewesenen am
ehesten mit einer beim Schielen hervorgebrachten Vervielfältigung und
Brechung des visuell Erlebten zu umschreiben wäre. Realitätsdopplung,
Durchdringung von Imagination, Wahn und Realität. So erzählte man mir
kürzlich Ähnliches von einem Kinobesuch. Der Zuschauerraum
verdunkelte sich, anstatt jedoch wie gewohnt das erste Glimmen des
Projektionsstrahls die Leinwand erhellte, blieb es dunkel – Sie wissen
schon, diese Form von Dunkelheit, bei der man überhaupt nichts mehr sieht
–, selbst die ansonsten einen letzten visuellen Halt gebenden
Notausgangsleuchten waren abgeschaltet. Plötzlich wurde es
unerträglich laut. Ein Helikopter schien auf dem Dach landen zu wollen,
die Rotorblätter peitschten durch die Luft, zerteilten sie im schnellen
Takt, bis die Lautstärke kaum mehr zu ertragen war. Interessanterweise war
nicht nur das Geräusch zu hören, sondern ebenso der dadurch
verursachte Wind zu spüren. Er sog förmlich das Popcorn aus den
Tüten und quirlte es quer durch den Raum, bis es im ganzen Saal Popcorn zu
schneien schien. Plötzlich erhellte sich die Leinwand im Schein eines
runden Lichtkegels. Wie geblendet und hypnotisiert starrte das Publikum auf die
kreisrunde Lichtscheibe. Es sah so aus, als ob er in pulsierenden Lichtwellen
rotierte, im gleichen Takt wie die Rotoren des Helikopters. Eine eigenartige
Faszination ging von dieser Lichterscheinung aus. Das Kino füllte sich
plötzlich mit künstlichem Nebel und der rotierende Scheinwerferstrahl
wurde gleichsam zu einer Art sich drehendem Kegel. Einer göttlichen
Erscheinung gleich, sog das Licht am Ende der Spitze des Kegels die Besucher in
ihren Bann. Die Wände des Kegels schienen zu wabern, wie Zigarettenrauch
unter der Schreibtischlampe. Das Ganze war nichts anderes als eine, wenn auch
ephemere, so doch um so eindrücklichere Erscheinung aus Licht, denn
letztlich wurde die imaginäre Gestalt des Volumens allein durch das vom
Nebel reflektierte Licht gebildet. Die Besucher standen auf und bewegten sich
im Banne des Lichts zum Inneren des Kegels hin. Einige spielten mit dem
dreidimensionalen Körper, rissen Löcher in die kreisrunde Wand des Kegels,
indem sie den Lichtstrahl an unterschiedlichen Stellen mit ihren Händen
unterbrachen. Andere tauchten von außen ins Innere der Lichtgestalt,
bewegten sich in Richtung des Scheinwerfers, traten im nächsten Moment
wieder aus der hauchdünnen Lichtwand heraus, um den kreisrunden Strahl und
die durch ihn projizierte gekrümmte Wand von außen zu betrachten.
Eine hypnotische Erscheinung und doch nichts anderes als ein projizierter
Kreis, der sich durch Reflexion zu einem materiellen immateriellen Lichtkegel gerierte.
Das alles eine Sinnestäuschung? Mitnichten! Eher ein ungewohntes
Seherlebnis, das den Besucher unvermittelt mit den Bedingungen seiner
Wahrnehmung zu konfrontieren begann. Neben dem ganzen Zauber der Lichtgestalt
führte dieses Erlebnis zu einer Art Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung
und gleichzeitig zum Ausloten ihrer Grenzen bzw. dem Sichtbarmachen der
Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung. Man ist gewohnt, das
Wahrgenommene als wahrhaftig anzuerkennen. Die eigene Rezeption gibt selten Anlass,
ihr selbst gegenüber misstrauisch zu sein; sie wird in den seltensten
Fällen hinterfragt bzw. wird selbstverständlich als
„wahr“ empfunden. Dass sie jedoch nicht nur an den eigenen
menschlichen Wahrnehmungsapparat gekoppelt ist, sondern darüber hinaus
Teil und Produkt bestimmter Konstruktionsmechanismen ist, die von anderen
Faktoren (individuellen physiologischen Besonderheiten,
Wahrnehmungsgewohnheiten, Seherfahrungen etc.) mindestens ebenso abhängig
ist, wie von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung an sich, wird selten als
solches „wahrgenommen“. Nur ganz selten, wenn man visuellen
Phänomenen teilhaftig wird, die einem gar nicht oder nur schwer
erklärbar sind, beginnt man im Idealfalle über die eigene Wahrnehmung
und die ihr zugrunde liegenden Bedingungen zu reflektieren. So auch wieder
kürzlich geschehen. Es war auf einem Flug von Frankfurt nach Tokio. Von
meinem Sitznachbar und seinem unerträglichen olfaktorischen Besonderheiten
gepeinigt und darüber hinaus von einer Unzahl im Schlaf sprechender Fluggäste
nachhaltig irritiert, blieb mir nichts anderes übrig, als mir die Beine zu
vertreten. Die Flugbegleiterin bot mir an, das Cockpit zu besuchen. Quer durch
die Business- und über eine Treppe durch die First-Class auf dem Oberdeck
der 747-400 gelangte ich ins Allerheiligste der Maschine. Zunächst einmal
beeindruckt ob des außerordentlich begrenzten Platzangebots im Cockpit
(im wesentlichen auch nicht größer und bequemer als in einem
größeren Mittelklassewagen) überwältigte mich neben den
unzähligen blinkenden und nichtblinkenden Knöpfen und Hebeln die fast
160 Grad betragende Halbrundumsicht aus dem Fenster. Wir überflogen gerade
den nördlichen Polarkreis in rund 27.000 Fuß Höhe. Unter uns
eine geschlossene Wolkendecke, die jedoch am Horizont aufzubrechen schien. Seit
geraumer Zeit flogen wir nun bereits mit der Dämmerung, immer gerade so,
als ob wir im nächsten Moment in die vollkommene Dunkelheit einzutauchen
schienen. Der Kapitän machte mich plötzlich auf etwas aufmerksam,
dass man das „grüne Leuchten“ nennt. Eher von Erzählungen
denn aus eigener Anschauung war mir dieser kurze Moment bekannt, der beim
Sonnenuntergang nach bzw. mit dem Verschwinden des letzten Sonnenstrahls am
Horizont den Himmel für einen kurzen Moment mit einem grünen fluoreszierenden
Lichtstrahl beglückt. Und siehe da, das grüne Leuchten kam ... und es
blieb, als ob jemand die Pause-Taste gedrückt hielt und ein Standbild auf
das halbrunde Cockpitfenster projiziert wurde. Sobald ich jedoch das Cockpit
verlassen hatte, um mich gemächlich wieder in die Obhut der die
Economy-Class bevölkernden, leise vor sich hin sprechenden Somnabulen zu
begeben, zweifelte ich bereits an dem eben gerade teilhaftig gewordenen
Naturschauspiel. Hatte ich das grüne Leuchten wirklich gesehen oder war
ich vielleicht Opfer meiner eigenen Imagination geworden und hatte letztlich
nur eine Projektion meines Unterbewusstseins vermeintlich visualisiert. An
meinem Platz angekommen, fiel ich nun doch in einen tiefen Schlaf und
träumte von einem jungen Journalisten, der im Paris der 20er Jahre als
einer seiner ersten Aufträge für die angesehenste Tageszeitung der
Stadt einen Bericht über die Hinrichtung eines Mörders verfassen
sollte. Zufällig kam er am Abend zuvor auf einer ausschweifenden Party
einer hedonistischen Aristokratin zum ersten Mal mit allerlei unterschiedlicher
bewusstseinserweiternden Stimulanzien der damaligen Zeit in Kontakt. Die
Wohnung der adligen Lady war mit symmetrischen Klecksgebilden tapeziert, die
ein Schweizer Psychiater als eine Art Formdeutungs-Test zur Ermittlung von
Charakter- und Intelligenz-Veranlagungen seiner Probanten entwickelte. Die
anwesenden Gäste lagen auf Récamieren, wie sie der Vater der
Psychoanalyse zum Zwecke des besseren und tiefergehenden Analysierens in Wien
gebrauchte. Allerlei Halluzinogene wurden herumgereicht, jedoch insbesondere
die in flüssigem Äther dargebotenen Erdbeeren taten es ihm an.
Berauscht und von Sinnen schlief unser Held irgendwann ungeplant ermattet in
seinem Hotelzimmer ein. Er erwachte zu einem Zeitpunkt, als die anberaumte
Guillotinierung längst vollzogen zu sein schien. Noch immer halluzinierend
und berauscht steigerte er sich – den ersten Job doch noch entsprechend
zu Ende bringen zu wollen – in einen Schreibhysteriewahn und referierte ausführlich
über den Sinn und Zweck der Todesstrafe, delirierte eifrig und imaginierte
in allen Einzelheiten lebensecht und so, als wäre er dabei gewesen, die
letzten Minuten des Delinquenten vor dem nahenden Tod, die Sekunden des
Übergangs vom Leben in eine friedlichere Existenz. Die Vorstellung von der
nahenden Hinrichtung schien ihm wie Bilder, die an die Wände des
Hotelzimmers projiziert wurden und sich kreisförmig um ihn herum bewegten:
viele von ihnen unscharf, manche nahezu abstrakt, andere wiederum wie unterschiedliche
Lichter, die ihn wie in einem Licht-Strudel mitwirbelten. Per Depesche schickte
er sein Opus magnum in letzter Minute an die Redaktion, die seinen Bericht
sofort ungelesen in einer Sonderausgabe druckte. Er fiel in einen tiefen,
todesähnlichen Schlaf, aus dem er erst erwachte, als der berittene Bote
ihm seine Entlassung überbrachte: der Delinquent war in der letzten Minute
begnadigt worden. Gelangweilt las er das Demissionspapier, zerknüllte es
und gab sich wieder den unendlichen Weiten des eigenen Bewusstseins hin, deren
unterschiedliche Türen er durch die abenteuerlichsten psychoaktiven
Substanzen wie mit einem Schlüssel öffnete, um diese dann zu
explorieren und irgendwann die Tür hinter sich zufallen zu lassen und
alsdann wieder aufzuwachen und im Nachhinein – als ob fast nichts gewesen
sei – darüber als einem Traum zu reflektieren, an den man sich
gerade noch entfernt erinnert – gerade noch so, wie man sich eben an
einen Traum erinnert...
In englischer Übersetzung veröffentlich in: SUBREEL,
Cat. MAC Galeries Contemporaines des Musées de Marseille, 2002.
© 2002 Jan Winkelmann