Eran Schaerf. Re-enactment – Bahnwärterhaus/Galerie der Stadt Esslingen

Jan Winkelmann

Das Bahnwärterhaus und die Villa Merkel zählen zu den interessantesten Ausstellungsräumen im Süden Deutschlands. Kaum 10 Minuten mit der S-Bahn von Stuttgart entfernt, liegt direkt hinter den Bahngleisen die ehemalige Villa des Textilfabrikanten Oskar Merkel. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Stile des Neorenaissance erbaut, dient sie nicht mehr als Wohnhaus, sondern seit den 60er Jahren als Ausstellungsraum der Galerie der Stadt Esslingen. In der Gründerzeit galt es als schick, nicht nur am Stadtrand, im Grünen, zu wohnen, sondern Merkel hatte seine Villa ganz bewußt in unmittelbarer Nähe zu den Bahngleisen errichten lassen, da dies symbolisch die Mobilität und Innovationskraft seiner Textilfabrikation zum Ausdruck brachte.

Auf dem gleichen Grundstück, nur 50 Meter Luftlinie von der Villa Merkel entfernt, liegt das ehemalige Bahnwärterhaus. Als eine Dependance wird sie von der Galerie der Stadt Esslingen "bespielt". Neben einer Stipendiaten-Wohnung befinden sich auf zwei Stockwerken vier Ausstellungsräume, die sich für Einzelpräsentationen hervorragend eignen. Renate Damsch-Wiehager, die Leiterin der Galerie der Stadt Esslingen, stellt hier seit Jahren interessante jüngere künstlerische Positionen vor, die bisher im Raum Stuttgart noch nicht zu sehen waren.

Neben dem Holländer Cor Dera, der im Frühjahr 1996 mit hintergründigen Installationen von Tierbildern beeindruckte, wird mit Eran Schaerf innerhalb eines Jahres ein weiterer Künstler aus dem Benelux-Raum Schaerf ist zwar in Israel geboren, lebt aber in Brüssel gezeigt.

Die Ausstellung "Re-enactment" baut substantiell auf Schaerfs Installation "Zaun-Town", die 1995 im Frankfurter Portikus zu sehen war, auf. Hier wie dort bilden einfache Holzpaletten das, im wahrsten Sinne des Wortes, Grundgerüst der Ausstellung. Meisterlich weiß Schaerf die konventionelle Anlage der Räume im Bahnwärterhaus sich anzueignen, um sie mit den Paletten zum begehbaren Laufsteg (Erdgeschoß), bzw. im 1. Stock zu einer Art Bühne umzufunktionieren. Schaerfs Installation lässt sich hier nicht auf eine Vorgehensweise zurückführen, die sich direkt auf die Geschichte des Ausstellungsortes und seine kulturelle und soziale Identität bezieht. Obwohl dies in früheren Installationen sehr oft der Fall war, geht Schaerf hier weniger assoziativ vor.

Auf den ersten Blick wirken beide Installationen wie eine Ansammlung unsystematisch zusammengetragener Gegenstände und Materialien. Man findet verschiedene Stoffe, wie einen zartblauen Vorhang, oder orangefarbene, bedruckte Stoffbahnen, die auf dem Boden liegen, Modeschmuck aus Glasperlen, auf weißes Papier gedruckte Textfragmente, Photos in allen Variationen, Displays wie sie in Schaufenstern von Modegeschäften zu sehen sind etc.

All dies wirkt zunächst als heterogenes Bild vielfältiger Einzelteile verwirrend. Der ungeübte, mit Schaerfs Werk nicht näher vertraute Betrachter muß sich zwangsläufig überfordert fühlen. Es ergibt sich kein schlüssiger, schneller Zugang, da sich der Bedeutungsgehalt der Einzelteile nur schwer entschlüsseln läßt. Jedes Ding hat zwar eine bestimmte Bedeutung, doch ist dieser Inhalt dem Objekt nicht fest eingeschrieben, d.h. er variiert von Installation zu Installation. Schaerf nutzt seinen Objekt-Fundus um die einzelnen Elemente für jede Ausstellung neu zu arrangieren, inszenieren und zu kombinieren. Jede Anordnung ist nur eine mögliche unter zahlreichen anderen Varianten. Nicht nur die Zuordnung der Objekte ändert sich, sonder auch deren Sinngehalt. Am sinnfälligsten könnte dieses Vorgehen beschrieben werden mit dem Verhältnis von Wörtern innerhalb eines Satzes. Jedes Wort hat eine Bedeutung für sich. In der Aneinanderreihung eines Satzes kann jedes Wort verschiedene, jedoch nicht unendlich viele Bedeutungen annehmen. Betrachtet man den Satz als Ganzes, ergeben sich sowohl für dessen Einzelteile, wie auch für das Gesamte neue Inhalte und Sinnzusammenhänge.

Schaerf nutzt sein Inventar wie die Wörter einer Sprache. So können sie als beides gesehen werden, als konkretes Material und als Metapher. Beide sind jeweils abhängig von ihrem Kontext, d.h. von ihrem Bezug zueinander. Indem er für die Installation im Bahnwärterhaus hauptsächlich auf ältere Arbeiten zurückgreift, erreicht er eine situative Anbindung der einzelnen Werke untereinander, bzw. die Verknüpfung der Einzelteile, führt zu einer Anreicherung von Bedeutung für das einzelne Werk im Gesamtzusammenhang. In diesem Sinne kann auch der Titel der Ausstellung "Re-enactment", übersetzt mit Neuinszenierung oder Wiederaufführung, verstanden werden.

Die einzelnen Räume des Bahnwärterhauses sind ausschließlich über Paletten, die, wie oben erwähnt entweder als Laufsteg, oder als Bühne angeordnet sind, begehbar. Der Betrachter betritt sie und erkennt sich als Teil des Ganzen wieder, da er sich darauf und nicht davor oder daneben befindet. Demnach muß er sich auch aus den vorgegebenen Einzelteilen der Sinn des Stückes selbst zusammensetzen. Die Komplexität von Schaerfs Installation läßt sich nur schwer durchdringen. Offensichtlich spielt neben der Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen und dem Bedeutungsumfeld von Sprache und Begriffen der Austausch von kulturellen Identitäten und Werten eine wichtige Rolle. So sind zwischen den Fugen der Paletten Papierbahnen mit Strophen eines afrikanischen Volksliedes zu finden, das Träume vom Auswandern nach Frankreich besingt. Der Bruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit wird erst richtig bewußt, wenn man sich vor Augen hält, daß die Welt für viele Afrikaner in Frankreich die Wirklichkeit in der Fremde nicht ganz so rosig aussieht, wie die romantische Vorstellung von einer besseren und heilen Welt, bzw. Zukunft vorgibt.

In Schaerfs Symbolwelt kommt Stoffen insofern eine zentrale Bedeutung zu, da sich durch sie die Verschiedenheit kultureller Lebensformen am augenfälligsten zeigen läßt. Sie treten immer wieder und in vielfältigster Art auf. Sei es als sorgsam mit unzähligen Falten drapierter hellblauer Vorhang, der den Raum in Bühne, bzw. Backstage-Bereich trennt. Sei es als fabrikneuer mit Worten bedruckte Schnittmuster-Bahnen, als do-it-yourself-Baldachin oder als Schleier auf einem collagierten Modephoto. Beispielhaft kann von den Besuchern anhand verschiedener Stoffe auf einem Tisch nachvollzogen werden, wie aus dem schwarzweißen Muster eines arabischen Gebetstuches ein modisches Muster für die Kollektion eines französischen Couturiers wird. Symptomatisch wird hier der mögliche Wandel zwischen einem Wert als Kulturgut einerseits und Ware andererseits deutlich.

Eran Schaerfs Installationen in ihrer multikulturellen Mischung aus Einzelteilen umschreiben die Grenzen eines sozio-kulturellen Systems. Indem sie sich aus der Modewelt der Haute-Couture, ebenso wie aus dem Ramschladen oder von der Müllhalde zusammensetzen, nehmen sie Bezug auf die sozialen Grenzbereiche einer Gesellschaft, ohne dies im Sinne einer Kritik an einem Gesellschaftssystem verstehen zu wollen. In dieser Komplexität bleiben sie dennoch nach vielen Seiten offen für verschiedene Interpretationsansätze. So geben sie ein Bild der pluralistischen Welt wieder, ohne auf erzählerische und assoziative Momente zu verzichten.

in holländischer Sprache veröffentlicht in: Metropolis M. Tijdschrift over hedendaagse kunst, No. 5, Oktober 1996

© 1996 Jan Winkelmann

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