Ein aus aneinanderlehnenden Walzstahlplatten gefertigtes Oktogon mit dem Titel Phaeton greift auf ein minimalistisches Formenvokabular zurück, jedoch nicht, um auf sich selbst zu verweisen. Der Titel der Arbeit von 1989: Phaeton läßt eine weiterführende Deutung zu. Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Helios, überredet diesen, ihm seinen Sonnenwagen zu überlassen. Trotz der Warnungen des Vaters fährt er los, verliert die Gewalt über die Pferde, die den Wagen ziehen, kommt der Erde zu nah und stürzt ab. Eine gleichnishafte Darstellung jugendlicher Leichtsinnigkeit und unbekümmerten Tatendrangs, jedoch auch der Sturheit. Die Stahlskulptur erinnert in ihrer runden Form an eine stilisierte Sonne. Der Stahl wurde mit Feuer geschwärzt und täuscht durch das Aneinanderlehnen der einzelnen Platten eine gewisse Leichtigkeit vor. In Zusammenhang mit dem geschichtlich vorbelasteten Ausstellungsraum ergibt sich, obwohl die Skulptur nicht für TIEFGANG konzipiert wurde, eine zusätzliche inhaltliche Ebene: Ein Mahnmal für die Jugend, die unbeirrbaren Glaubens 1939 in den Krieg zog, verblendet von der verführerischen Reden der Propagandamaschinerie des Dritten Reiches.
Die zweite ausgestellte Arbeit gehört zu den Werkgruppen des Künstlers, die sich mit der konzeptuell ausgerichteten Thematisierung von Begriffen wie Zeit und Geschichte beschäftigen. Regletten, so nennt man schmale Bleistreifen, die im Buchdruck der Vergrößerung von Zeilen- und Wortabständen dienen, sind das Ausgangsmaterial dieser Serie von Blei-Arbeiten. Mehrere Regletten werden zu einer geschlossenen Fläche zusammengefügt. Auf Pappe geklebt bekommen die symmetrischen schwarzen Blöcke den sinnlichen Charakter minimalistischer Reliefs. Über diesen rein ästhetischen Gehalt hinaus kommt den Regletten in Samaras Konzept eine inhaltliche Funktion zu. Zentrales Motiv bei allen Arbeiten des Künstlers ist die Auseinandersetzung mit Sprache und Zeit. Die sich hieraus ergebenden Spannungsfelder versucht Samaras mit Hilfe nichtsprachlicher Elemente zu verdeutlichen. Die Abstandshalter, im Druck unsichtbar, da sie die Abstände zwischen den Worten und Zeilen darstellen, werden als Materie sichtbar und ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Sie werden zum Symbol für das zwischen den Worten Verborgene, Nichtgesagte, das sozusagen Zwischen den Zeilen steht. Andererseits thematisieren sie die Zeit. Nicht im Sinne von Gebrauchsgegenständen, vielmehr als unsichtbare Bestandteile (Zwischenräume) oder auch Sinnpausen von gedruckten Berichten und Kommentaren, die wiederum im Moment des Erscheinens, aktuellsten Zeitbezug erkennen lassen, jedoch aus der zeitlichen Distanz eine Komprimierung der Geschichte darstellen. Da die Regletten aus den Beständen einer Mannheimer Druckerei stammen, nehmen die bei TIEFGANG gezeigten Arbeiten konkreten Bezug auf die Geschichte der Stadt. So ist beispielsweise vorstellbar, daß sie zur Zeit der gleichgeschalteten Tageszeitungen im Dritten Reich für die Verbreitung von Nazipropaganda verwendet, aber ebenso in den fünfziger Jahren im Wiederaufbau den wirtschaftlichen Aufschwung verkündeten. Vorgefundenes (Arbeits-) Material wird zum selbständigen Kunstwerk mit tieferer Bedeutung.
veröffentlicht in: TIEFGANG. Bildräume im Schloßbunker, hrsg. von Roland Scotti und Jan Winkelmann, Mannheim: Signet Verlag 1992
© 1992 Jan Winkelmann