PRIMARY STRUCTURES

Jan Winkelmann

Robert Morris‘ Essay »Notes on Sculpture«, der 1966 in der amerikanischen Kunstzeitschrift Artforum erschien, war wegweisend für einen Wandel des Verständnisses der Wahrnehmung und Rezeption sowie der wechselseitigen Beziehungen zwischen Betrachter und Kunstwerk. Morris konstatierte, daß neben den formalen Eigenschaften verschiedene andere Determinanten die Wahrnehmung eines Werkes bestimmen: Raum, Licht und die Perspektive des Betrachters. Insbesondere dem Raum zwischen »dem Subjekt und dem Objekt« widmete er besondere Aufmerksamkeit: »Man ist sich stärker als früher bewußt, daß man selber die Beziehungen herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen erfaßt.«(1) Durch die Bewegung des Betrachters ergibt sich eine Vielzahl wechselhafter subjektiver Erfahrungen, die von der Korrelation der einzelnen oben genannten Konstanten untereinander geprägt ist. Die Bewegung im Raum erlaubt eine Erfahrung des Werkes in der Zeit. Diese Gleichzeitigkeit von Raumerfahrung und Werkrezeption stellt eine der wesentlichen ›Errungenschaften‹ der Minimal Art dar und ist gleichzeitig eines der beiden konstitutiven inhaltlichen Parameter der Ausstellung PRIMARY STRUCTURES, deren Titel als eine Art Ready-made der Begriffswelt der Minimal Art entlehnt ist und dadurch bereits auf das Zweite verweist: die Reduktion auf einfache geometrische Formen und den Gebrauch von Farbe als autonomem Ausdrucksträger. Wo ersteres in Form von reduzierten Kompositionselementen, der bewußten Beschränkung auf wenige formale Darstellungsmittel und einer weitgehend entindividualisierten Gesamterscheinung bereits bei den Minimal-Künstlern ein wesentliches Gestaltungselement darstellt, ist die Bedeutung der Farbe der Tradition der konstruktiv-konkreten geometrischen Abstraktion verpflichtet – auf die sich zweifelsohne auch die Minimal Art bezieht, wenngleich dies nicht für den Gebrauch von Farbe gilt.

Eine der wesentlichen Eigenschaften von Werken der konkreten Kunst ist, daß sie keine direkte oder abstrahierte Abbildung von Realität darstellen, sondern im Bildraum mit Hilfe von reduzierten, geometrischen Gestaltungselementen ihre eigene Wirklichkeit erzeugen, die ausschließlich auf das Werk beschränkt ist und keine Beziehung zur Welt außerhalb dessen herstellt. Die Bildkonstruktion erfolgt mit konkreten Mitteln von Linien, Farben und geometrischen Formen. Das besondere der Werkgenese ist, wie auch später bei Minimal-Künstlern, daß das Kunstwerk vor der Ausführung vom Künstler vollständig im Bewußtsein konzipiert und vorgeformt ist. Der Bildkonstitution liegen in erster Linie rationale, in den meisten Fällen mathematisch exakte Denkvorgänge zugrunde, wodurch formale Sprache und Werkgenese in ihrer geometrisch-strukturellen Zielsetzung nicht nur eine Analogie, sondern eine Einheit bilden.

Die antifigurative Ästhetik der konkreten Kunst gründet sich im wesentlichen auf die Errungenschaften des Konstruktivismus aus den 10er und 20er Jahren dieses Jahrhunderts. Hier wurden erstmals mit formal und rational kontrollierbaren Bestandteilen harmonische Bildstrukturen geschaffen. Die grundlegenden Ordnungsprinzipien der Konstruktivisten basierten auf geometrisierenden, stereometrischen Elementen, die mittels einer stark reduzierten, nicht illusionierenden Farbskala umgesetzt wurden. Wichtig waren die Beziehungen der Teile untereinander und zu dem sie umgebenden Bildraum. Wirklichkeit sollte durch eine konstruierte, visuell-ästhetische bildimmanente Realität ersetzt werden.

Soweit die historische Folie, vor der die Werke von Martin Gerwers, Clay Ketter, Gerold Miller und Beat Zoderer zu lesen sind. So unterschiedlich sie im Einzelfalle auch direkt oder weniger direkt darauf Bezug nehmen, allen gemeinsam ist, daß sie Farbe weitgehend von Form befreien und die Wahrnehmung bzw. das Erleben von Raum ein konstitutives Element darstellt. Obwohl die einzelnen Werke immer noch im Bezug zur Fläche stehen, lösen sie sich auf unterschiedliche Weise und in differenzierten Abstufungen von der Zweidimensionalität des gemalten Tableaus, um den Raum sowohl materiell als auch in seiner Wirkung auf den Betrachter zu besetzen bzw. zu ›erobern‹ und erfahrbar zu machen. Hierbei dienen der Gebrauch und die Wirkung der Farbe bei allen Künstlern als ein wesentlicher Bestandteil ihrer präzise auf die Wahrnehmung des Betrachters hin kalkulierten Formfindungen.

Gerold Millers »Leipziger Raum« (1999) kündigt sich bereits vor dem Betreten mit einem ›Leuchten‹ der intensiven Farbe durch die Tür an. Die drei Wandflächen im Raum wurden mit einer Art chromatischem Farbverlauf von Rot über Orange hin zu Grün lackiert. Der stufenlose Übergang der Farben läßt den Raum zur dreidimensionalen ›Bildfläche‹ werden, obgleich diese sich – durch das ›all over‹ des den Betrachter umgebenden Farbrausches – im Raum auflöst. Die Wände als die den Raum definierenden Grenzen werden selbst zum Bildträger, die Farberfahrung wird zum Teil der Raumerfahrung. Miller schafft dabei ein ganz ähnliches Wahrnehmungserlebnis, wie es in den Installationen mit farbigem Leuchstoffröhrenlicht von Dan Flavin zu erfahren ist. Im »Leipziger Raum« verschmelzen Wand und Farbe, wodurch sich die Ambivalenz von Materialität der Wand und immaterieller Wirkung der Farbe nahezu aufhebt, die Farbe löst sich vom Grund und umgibt den Betrachter fast vollständig. Die bei vielen Farbfeld-Malern intendierte Entgrenzung des Farbraumes über die Bildgrenzen hinaus wird ultimativ realisiert, die Farbe wird nicht als ›im‹ Raum wahrgenommen, sondern als Raum selbst, wobei sich für den Betrachter eine veränderte Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeit des Raumes ergibt. Dieser totalen Verräumlichung von Farbe stehen die beiden Aluminiumarbeiten »Ready Mix A2« (1999) und »Ready Mix A3« (1999) gegenüber. Sie definieren einen Bildraum, indem sie einen Teil der sie umgebenden Wand ausschnitthaft ein- bzw. abgrenzen. Die durch die Begrenzungen des ›Rahmens‹ geschaffene Fläche unterscheidet sich in nichts von der sie umgebenden Wand, grenzt aber einen Bildraum ein, der vom Betrachter automatisch als solcher wahrgenommen wird. Die durch den Farbverlauf aufgehobenen Grenzen werden hier wieder manifestiert, der räumlichen ›Umgebung‹ der Farbe wird hier die Wirkung der Fläche gegenüberstellt, die, obzwar sie sich gegenseitig ›ausspielen‹, sich gleichzeitig doch auch verstärken. Durch die Wahl der Farben und die Gestaltung der Rahmen wird neben dem eben genannten Erfahrungspotential auch ein Übergang zum Design deutlich. Die warmen Farben korrespondieren mit der ›Geschmeidigkeit‹ der runden Ecken und der gebürsteten Oberfläche des Aluminiums, in der sich wiederum die Farbe ›spiegelt‹ und sie so zum Teil des Ganzen werden läßt. In seiner Gesamtheit ergibt sich ein eindrückliches Wahrnehmungserlebnis von Farbe, Raum und Flächen, die in unmittelbarer Verhältnismäßigkeit zu- und Abhängigkeit voneinander stehen.

Beim Betreten des Raumes von Martin Gerwers wird man vom zuvor erlebten Farbrausch in eine fast kontemplative Ruhe geführt. Die zurückhaltende Farbigkeit der pastelligen Gemälde entfaltet einen ganz eigenen Zauber in unterschiedlichen und vielfältigen Abstufungen. Wobei nicht nur die Farbe, sondern auch die Materialität der Oberflächen eine wichtige Rolle spielt. Die einzelnen formalen Elemente entwickeln per se keine definierbare Identität. Die Flächen wirken in ihrer zarten Farbigkeit flach und fast substanzlos, was durch eine präzise und aufwendige Behandlung der geschliffenen Oberflächen, die einen malerischen Gestus nahezu völlig negieren, zusätzlich verstärkt wird. Durch die farbige Intensität der tieferliegenden vertikalen Linien werden die horizontalen Flächen jedoch rhythmisiert und entfalten eine latent plastische Wirkung. Die Farbe scheint sich von der Fläche zu lösen und in ihrer Intensität eine immaterielle Wirkung zu entwickeln. Der Betrachter sieht sich nicht einer begrenzten, in sich geschlossenen Form, sondern einer intuitiv rhythmisierten Abfolge von Flächen gegenüber, die sich vom Bildgrund zu lösen scheint, um eine eigene Beziehung zum Raum, der sie umgibt, herzustellen. Die mit einfachsten Mitteln (Linie und Fläche) strukturierte Bildfläche erzeugt im Verbund mit allen vier Gemälden in ihrer Gesamtheit eine visuelle Komplexität, die im Raum nachdrücklich differenzierte Ebenen evoziert. Gerwers verstärkt den Eindruck des Einzelbildes durch die Anordnung der zwei extremen Querformate und den beiden rechteckigen Leinwänden im Raum, so daß sie den Betrachter in ähnlicher Weise ›umfangen‹, wie bei Millers Farbverlauf. Sie sensibilisieren die Wahrnehmung des Besuchers, der sich in Gerwers Gemälden einer »Herausforderung des Sehens« (Erich Franz) gegenübersieht.

Im Raum von Clay Ketter manifestiert sich ein weiteres, bereits erwähntes Grundmotiv der Ausstellung. Ein bewußtes Hintersichlassen des auf die Zweidimensionalität beschränkten Tafelbildes und die Eroberung des physischen Erlebnisraums durch den Betrachter mit Hilfe eines geometrischen Formvokabulars. Ausgehend vom Bild, über eine reliefartige Wandarbeit bis hin zur dreidimensionalen Skulptur ist dieser Weg sowohl formal, als auch ›ikonographisch‹ nachvollziehbar. In Ketters sogenanntem Trace-painting »Das Kleine Stapelhäuschen (T.P.+18.+’99)« (1999) wird der Bildinhalt durch dessen Entstehungsprozeß definiert, wie auch der Entstehungsprozeß durch den Bildinhalt wiederum nachvollziehbar gemacht wird. Die geometrisch-rechtwinklige Struktur, die offensichtlich auf eine nicht mehr vorhandene Raumstruktur schließen läßt, wurde in einem aufwendigen Arbeitsprozeß auf die Leinwand gebracht. Die Fehlstellen, bzw. Negativformen wurden mit unterschiedlichen neutralen Haushaltslacken in kaum unterscheidbaren Nuancen von grau, rosa, gelb und beige ausgemalt, um nach der Demontage der Hölzer von der Leerstelle zur eigentlichen Bildfläche zu werden. Die vorher materialisierten Stellen sind nun die wiederum ›strukturgebenden‹ Leerstellen. In der Wandskulptur »Big Billy-Bob« (1998) geht Ketter in der Auflösung der Grenze zwischen Malerei und Skulptur noch einen Schritt weiter, indem er ein standardisiertes IKEA-Regal der Marke Billy mit rohen Spanplatten erweitert und diese mit Haushalts-Lackfarbe bemalt. Die unterschiedlichen Wirkungen der gleichen Farbe, die durch den Einfall des Lichts und seiner Schatten erzeugt werden, ergeben ähnliche Farbnuancen wie sie auf dem zuvor genannten Gemälde zu sehen sind. Bei der Wahrnehmung von »Big Billy-Bob« treten, neben den skulpturalen, vor allem die malerischen Qualitäten in den Vordergrund. Hier scheint sich die abstrakte Malerei von ihren utopischen Ansprüchen endgültig befreit zu haben. Wie sehr sich die Grenzen von Malerei, Skulptur, Architektur und Design im Werk von Clay Ketter durchmischen und kaum mehr unterscheidbar sind, läßt sich am ehesten in seiner Skulptur »Surface Habitat with Four« (1997) exemplifizieren. Wie eine Küchenzeile am falschen Ort wirkt die harmonisch komponierte Raumstruktur. Die standardisiert gefertigten Küchenschränke sind ihrer eigentlichen Funktion beraubt, indem sie mit Glasplatten verschlossen wurden. Die glänzende Oberfläche des Edelstahls evoziert Erinnerungen an eine Spüle oder einen Herd ohne Kochplatten. Offensichtlich vermitteln sie noch ihre ursprüngliche Funktion, sind jedoch von ihrer Brauchbarkeit befreit und somit zum offensichtlich ›funktionslosen‹ Kunstobjekt mutiert. Auch hier ergibt sich durch die unterschiedlichen verwendeten Materialien eine Vielzahl von Farbnuancen, die sich von unterschiedlichen Betrachterstandpunkten differenziert wahrnehmen lassen. Neben der strengen Geometrie und den anklingenden Referenzen vor allem an die reduzierten, fast klinisch wirkenden Skulpturen eines Donald Judd ist es die Omnipräsenz von funktionalem Design, wie es sich in den einfachen Gestaltungslösungen von IKEA-Bestsellern, beispielsweise dem Billy-Regal, am sinnfälligsten darstellen läßt, die Ketter in seinen Werken zu thematisieren sucht. Hierbei geht es weniger um eine Verschränkung von Hoch- und Populärkultur als vielmehr um die visuelle Gestaltung des unmittelbaren Lebenszusammenhangs sowie die Dominanz ästhetischer Lösungen, die uns alltäglich umgeben, ohne daß wir sie als solche noch wahrnehmen.

Beat Zoderers Arbeit schließt, nicht zuletzt, weil sich mit dem Blick durch den Lichthof interessante Wechselwirkungen und Beziehungen zu Gerold Millers Raum ergeben, die visuelle Klammer um die beiden vorhergehenden Räume. Die extreme Buntheit seiner Bodenarbeit korrespondiert mit der starken Farbigkeit von Millers »Leipziger Raum« und setzt eine Art Ausrufungszeichen ans Ende der beschriebenen Raumfolge.

Zoderers »Bodenzeichnung Nr. 7« (1999) besteht aus einem Liniengeflecht farbiger Klebebänder unterschiedlicher Breite, die in großzügigen Diagonalen jeweils den Raum durchmessen und in ihrer Gesamtheit eine ›chaotische‹ Struktur erzeugen, die sich gleich einem Netz über den Boden des ganzen Raumes ausbreitet. Es scheint von den Wänden nur zufällig begrenzt und könnte problemlos in alle Richtungen weitergedacht werden. Durch die Bewegung im Raum ergibt sich eine differenziertere Wahrnehmung der Arbeit. Die Struktur der unmittelbaren Umgebung nimmt man großteiliger und unorganisierter wahr, als die an einem weiter entfernten Ort im Raum. In Wirklichkeit ist die Komposition hingegen ausgewogen, will heißen in ihrer Gesamtheit unhierarchisch und extrem gleichmäßig, ohne daß einzelne Zonen eine bestimmte Gewichtung erfahren. Daneben ist auch das Verhältnis von Linien und Boden im Gleichgewicht. Neben der Netzstruktur ergeben sich unzählige Binnen- aber auch Negativformen der von den Linien begrenzten Parkettfläche. Bei dieser Zeichnung im Raum widersetzt sich die Konsequenz der Diagonale bewußt der klar definierten Struktur des Raumes. Das Gefüge der rechten Winkel wird aufgebrochen und in eine neue Raumerfahrung überführt. Beat Zoderer thematisiert in dieser, wie auch in seinen übrigen Arbeiten, die Möglichkeiten zeitgenössischer Malerei und Skulptur. Als Arbeitsmaterial dienen ihm dabei in erster Linie einfache alltägliche Materialien, vorzugsweise Büromaterialien, wie Gummibänder, Plastikhüllen und Aktenordner, die zwar dem eigentlichen Kontext entnommen sind, aber dennoch die Identifikation mit dem ursprünglichen Material erlauben. Er öffnet mit seinen geometrisch-rationalen Bildordnungen nicht nur einen Referenzrahmen an die Schweizer Konkreten, er unterwandert diese gleichzeitig mit seinen präzise auf den Raum ausgerichteten ironischen Brechungen, indem er der rationalen Werkgenese, wie sie für die konkrete Kunst typisch ist, ein Höchstmaß an spielerisch-subversiver Intuition und Spontaneität entgegensetzt.

Im Vergleich zu den eingangs skizzierten historischen Bezugspunkten ist allen der in PRIMARY STRUCTURES gezeigten Positionen gemeinsam, daß sie einerseits die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den eigenen kognitiven Wahrnehmungsprozeß lenken, dies aber andererseits – im Gegensatz dazu – ohne einen puristischen Reinheitsanspruch im Sinne einer bedeutungsfreien Selbstbezüglichkeit umzusetzen und ohne dogmatisch definierte Standpunkte zu zelebrieren. Die einzelnen Arbeiten eröffnen einen sowohl geistigen wie physischen Wahrnehmungsraum, der den Betrachter sich nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner eigenen Wahrnehmungsprozesse bewußt werden läßt.

(1) Zit. nach: Robert Morris: »Anmerkungen über Skulptur«, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel (Verlag der Kunst) 1995, S. 105.

veröffentlicht in: PRIMARY STRUCTURES, Ausst. Kat. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 1999

© 1999 Jan Winkelmann

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