Immer immer wieder geht die Sonne auf  – artist Polemik. Eine Antwort auf Harald Welzer (artist Nr. 41)

Jan Winkelmann

Und täglich grüßt das Murmeltier, Sie haben Recht Herr Welzer. Mit fast nicht mehr auszuhaltender Penetranz vernimmt der geneigte Leser immer wieder die gleichen litaneimäßigen Klagen: bei „German Open“ in Wolfsburg sind soundso viele Neugerriemschneider-Künstler vertreten, in der Ausstellung „Children of Berlin“ im PS1 in New York sind es noch zwei oder mehr usw. Schon etwas ehrfurchtsvoller wurde im Falle Judy Lybke von seinen fünf „plazierten“ Künstlern auf der Documenta X gesprochen und ihm damit ein Erfolg zuerkannt, der erst einmal nachzumachen sei. Ich kann sie bald nicht mehr hören, diese beständigen undifferenzierten Hämen. Wer genau hinsieht wird feststellen, daß in Wolfsburg  genauso viele Künstler von Christian Nagel zu sehen sind wie von Neugerriemschneider, was jedoch gar nicht weiter aufzufallen scheint, weil sie (aber auch nur vermeintlich) eben weniger präsent sind im großen Karussell der Supershows. Wie war das noch mit der Omnipräsenz des Immergleichen? Es ist ganz einfach ein weitverbreitetes Wahrnehmungsphänomen. Zuerst sticht einmal immer das ins Auge, was man bereits sowieso schon kennt. Der Rest wird zwar wahrgenommen, bleibt in der Regel jedoch nicht im Kopf, es sei denn es hat einen wirklich nachhaltig beschäftigt, aber das würde schon eine gewisse Reflexionsbereitschaft voraussetzen. Ich stelle mir bei solchen Gelegenheiten oft die Frage, warum man immer so verkniffen den „Großen“ ihren Erfolg nicht gönnt. Immerhin ist er wohlverdient. Insbesondere in den vorgenannten Beispielen wird man nicht lange darüber streiten müssen, daß es allesamt Galerien sind, die von Anfang an für und mit ihren Künstlern Aufbauarbeit leisteten, mit unermüdlichem Einsatz, sowohl pekuniärem als auch persönlichem Engagement über Jahre hinweg immer hart an der Grenze des Machbaren agierten und nun eben langsam die Früchte dessen ernten. Sie haben es verstanden, daß Kommunikation und Networking im immer schneller exzentrisch rotierenden globalen Kunstbetrieb unerläßliche Qualitäten sind, um die eigenen Künstler zu promoten. Ganz nebenbei bieten sie einen erstklassigen Full-Service, halten ihren Künstlern mit organisatorischer Perfektion den Rücken frei von so lästigen Dingen wie Anfragen nach Abbildungsmaterial, CV’s, Katalogen und/oder sonstigen Informationen. Sie sind ständig präsent auf den Ausstellungseröffnungen ihrer Künstler, egal ob diese nun in Athen, Pittsburgh, Amsterdam oder München sind. Das hört sich natürlich schön fancy an, rumjetten, smalltalken und dabei nebenher noch Geld zu verdienen. Soll sich da mal einer nicht beklagen. Ich habe als kleiner Junge auch immer meinen Vater bewundert, der ständig unterwegs war, morgens in Hannover, die Mittagsmaschine nach Zürich, abends nach London und am nächsten Vormittag nach Paris. Großartig. Seit ich, vielleicht in nicht ganz den gleichen Dimensionen selbst gelegentlich auf Achse bin – und ganz nebenbei schreibe ich diesen Text gerade im Zug auf dem Weg zu einer Eröffnung in Frankfurt – weiß ich erst, wie nervig die Reiserei sein kann. Das macht vielleicht am Anfang Spaß, mittlerweile nur noch selten, denn was oftmals vergessen wird: es ist in erster Linie Arbeit. Aus der Perspektive des Schreibtischtäters und Wochenendreisenden ist es ungefähr so spannend und erholsam wie Weihnachtsgeschenke kaufen im adventlichen Großstadttrubel. Reich geworden ist von den Besagten bisher noch keiner, das dauert noch eine Weile, wenn es überhaupt soweit kommt. Man darf aber auch nicht verkennen, daß die Künstler unter anderem der oben genannten Galerien aus anderer Perspektive immer noch als hoffnungsvolle Jungtalente gelten. Und hier meine ich kunstbetriebsinterne Betrachterstandpunkte. Oder was soll man davon halten, wenn – wie mir kürzlich widerfuhr – der Oberkustos für zeitgenössische Kunst eines großen deutschen Museums den Namen Tobias Rehberger noch nie gehört hatte. Oder Künstler wie Rirkrit Tiravanija in einer bedeutenden deutschen Kunstzeitschrift immer noch als „talentierter Nachwuchs“ gehandelt werden. Falsche Welt. Nicht nur, daß der Nachwuchs bereits auf den kommenden Nachwuchs Einfluß ausübt, wie allenthalben nicht mehr zu verleugnen ist, es verwundert auch, daß gerade von ihnen noch nichts in den Museen zu sehen ist. Wahrscheinlich sind sie noch nicht ganz bildungsbürgerkompatibel. Außerdem sind die Museen ja schon lange nicht mehr die Vorreiter der Avantgarde, wenn sie es je waren, von einigen großen Ausnahmen einmal abgesehen. Die Basisarbeit wird an anderen Orten geleistet. Das Phänomen in Kunstvereinen, museale Ausstellungspraxis eifrig zu adaptieren, halte ich da für viel bedenklicher als in den Museen immer wieder die erwähnten Großmeister Baselitz, Buren, Judd, LeWitt, Polke, Richter, Uecker, Becher, Long, Merz usw. zu sehen. Aber ganz so pauschal stimmt diese Beobachtung genau genommen nun auch wieder nicht, denn welches von öffentlicher Hand finanzierte Museum kann sich heute noch Ankäufe eben dieser Künstler leisten. Und wenn von ihnen tatsächlich Werke in den Sammlungen sind, dann wurden sie mit Sicherheit schon vor einiger Zeit gekauft. Warum sollte man sie dann nicht zeigen und statt dessen die zweite Garde aufhängen, um nur nicht einer anderen Sammlungspräsentation allzu ähnlich zu sein? Unbestritten sind es wichtige und relevante Positionen, deren bahnbrechende Leistungen zwar schon eine Weile her sind und bisweilen vielleicht etwas angestaubt wirken, aber immerhin halten sie mit ihren breiten Oeuvres schön viel Abbildungsmaterial für prächtige Coffeetable-Books bereit. Wenigstens denken Kunstvereine mittlerweile wieder verstärkt über ihr Selbstverständnis nach. Anstatt den Museen krampfhaft und vergeblich Paroli bieten zu wollen, besinnen sie sich wieder verstärkt auf die wirklich avancierten, aktuellen Diskussionen. Positionen wie Nikolaus Schafhausen oder Barbara Steiner folgen hoffentlich bald noch weitere inspirierte Denker und Macher. Nichts ist unerträglicher als die ewigen Selbstbemitleidungen von unbeflügelten Beamtenkuratoren, wie schlimm doch die finanzielle Situation in der heutigen Zeit sei und dazu kommen zu allem Übel noch die ewigen kommunalen Grabenkämpfe, die ja so viel Kraft und Energie kosten. Keine Entschuldigung, daß die Frustration den Blick verstellt für die wirklich wichtigen Dinge. Aber wer ist noch gerne als Trend-Scout unterwegs und macht Atelierbesuche, wenn die eigene Institution budgetmäßig permanent mehr oder weniger am Abgrund steht. Es sind nun einmal nur wenige der institutionell gebundenen Kuratoren und viele der freien, die ihren Job wirklich ernst nehmen und ihn – pathetisch gesprochen – als Berufung verstehen und infolgedessen mehr wollen, als den so scharfsinnig konstatierten „Betrieb der gepflegten Langeweile“. Es sind aber auch genau diese, die vom „Aufbrechen von Sehgewohnheiten“ und dem „Problematisieren von Kontexten“ sprechen. Wo ist das Problem? Ganz nebenbei sei hier auf Thomas Wulffens Antwort-Polemik (Artist Heft 36, 3/1998) verwiesen, der bei dieser Gelegenheit darauf hinwies, daß verschiedene Spezialistenkreise eben ihr eigenes Vokabular entwickeln, und das ist in den Fachzeitschriften der Kardiologen nicht grundsätzlich anders als bei Astrophysikern wie eben auch in der Kunst. Aber wir können gerne mal darüber nachdenken, wie wir uns am schnellsten in unseren Ergüssen auf das Niveau von Volkshochschulkursen begeben. Mal sehen, ob wir dann mehr Leser bzw. Besucher erreichen. Genau! Wir erweitern das Diskursuniversum auf diese Art, damit dann endlich jeder über alles spricht – und zwar tatsächlich und nicht nur vermeintlich –, dann hätten wir wirklich ein Problem weniger. Wir müßten uns keine Gedanken mehr darüber machen, was wir gut finden und wären davon befreit, dies auch noch zu begründen. Denn infolge der von Ihnen dargestellten Argumentationsgrundlage, daß ja ohnehin alles gut ist, wenn man darüber spricht, weil man darüber spricht, wäre dann einfach alles gut, weil darüber gesprochen wird. Selbstverständlich sollten wir dies dann auch gleich als eine Anregung aufgreifen und nach der von Ihnen so präzise beobachteten Feststellung, daß die entscheidenden Kriterien für die Auswahl von Künstlern an Gruppenausstellungen eben die möglichst zahlreichen und erfolgreichen Teilnahmen an vorherigen Gruppenausstellungen sei, sollte man darüber nachdenken, ob man nicht der Einfachheit halber das Capital-Ranking zur Entscheidungshilfe jedweder Ankaufsentscheidung bzw. zur Grundlage einer jeden Ausstellung machen sollte. Wir könnten uns sehr viel Arbeit und den Steuerzahlern eine ganze Menge Geld sparen. Alle Institutionen würden unter einer Leitung zusammengefaßt, Kuratoren vom Verband der Kunsterzieher gestellt, verfaßten nur noch die oben erwähnten begleitenden Texte: schön einfach, vorgekaut und leicht verdaulich. Scherz beiseite. Ich denke, daß die deutsche Institutionslandschaft mit ihren unterschiedlichsten Typen von Ausstellungshäusern, seien es Museen, Städtische Galerien, Kunstvereine, Künstlerhäuser oder Ausstellungsinstitutionen, die in Public-Private-Partnership getragen werden, in der Gesamtheit ihrer Vielfalt ein differenziertes und hochinteressantes Programm bietet, das in seiner Buntheit und den unterschiedlichen Ausrichtungen nicht nur im europäischen Ausland seinesgleichen sucht. Wer in jeder Stadt nur den örtlichen McDonalds besucht, braucht sich eben nicht zu wundern, daß er überall das Gleiche zu essen bekommt. Unbenommen hat auch das etwas für sich, man weiß schon vorher wie es schmeckt und wird auf keinen Fall enttäuscht. Aber vielleicht ist es ja gerade das, wovor man sich so fürchtet, wenn man glaubt, immer nur das Gleiche zu sehen.

Veröffentlicht in: artist Kunstmagazin, Heft 42, 1/2000

© 2000 Jan Winkelmann

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