Panta rhei

Jan Winkelmann

Panta Rhei, alles fließt und ist in Bewegung. Für künstlerische Konzeptionen, und infolgedessen für die Kunstgeschichte allgemein, gilt dies im besonderen. Trotz dem Ende der historischen Avantgarden, hat das traditionelle historisch-dialektische Modell der Kunstgeschichte, hier im Sinne von Bewegung und Gegenbewegung, seine Gültigkeit in Bezug auf zeitgenössische Kunst nicht verloren. Im folgenden sei anhand historischer Bezüge der Versuch unternommen durch eine mögliche Abgrenzung zu diesen Begriffen eine Begriffsbestimmung der Gemeinsamkeiten der in „shift“ vertretenen Generation von Künstlern, und die für sie wegbereitenden künstlerischen Positionen, aufzuzeigen. Hierbei geht es weder um eine historische Einordnung oder Klassifizierung, vielmehr sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in erster Linie zu Fluxus deutlich gemacht werden – ebenfalls festzustellende Parallelen zur Concept-art werden, da sie in diesem Zusammenhang eine eher untergeordnete Rolle spielen, hier nicht weiter berücksichtigt.

Als im Rahmen der von George Maciunas organisierten Veranstaltungsreihe „Fluxus, Festspiele Neuester Musik“ 1962 in Wiesbaden, das Stück "Piano Activities (for 1 Piano and many Players)" von Phil Corner aufgeführt wurde, verursachte die intendierte Zerstörung eines Piansos durch mehrere Aufführende, einen mittelgroßen Skandal. In Anlehnung an den Titel der Veranstaltung wurden die Mitwirkenden in Presse und Fernsehen als Fluxus-Gruppe (1) bezeichnet. Dies konnte dem unermüdlichen Promoter fluxer Ideen George Maciunas gerade recht sein, verstand er sich doch als deren treibende Kraft. Er galt als Motor einer Gruppe von Künstlern um George Brecht, Dick Higgins, Yoko Ono, Nam June Paik, Ben Patterson, Wolf Vostell und Emmet Williams, um nur die bekanntesten zu nennen, die wenn überhaupt, nur sehr lose Organisationsstrukturen aufwies. Nicht zuletzt durch einige programmatische Äußerungen Maciunas’ und seinen Bemühungen ein internationales Kommunikationsnetzwerk von Künstlern, Autoren, Musikern und Theoretikern zu organisieren, wird er heute als eine Art Vaterfigur von Fluxus verstanden.

Fluxus war angetreten um, in Reaktion auf die „reine“ Malerei des vorherrschenden Informel und des Abstrakten Expressionismus, mit einer Neudefinition des Kunstbegriffs die etablierte Kunst- und Präsentationsformen zu überschreiten und zu erweitern. In Anlehnung an den von Duchamp, mit der Erfindung des Ready-made in die Dimension des Alltagslebens, erweiterten Kunstbegriffs, setzte eine radikale künstlerische Denkweise ein, die eine Verschmelzung von Kunst und Leben propagierte. Ähnlich anderen avantgardistischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts glaubte man an eine Verbesserung des Lebens durch ästhetische, oder von Ästhetik inspirierte Prinzipien. Die Kunst sollte eine Veränderung des Bewußtseins von Wirklichkeit erreichen, das wiederum durch das veränderte Handeln des Individuums positive Auswirkungen auf die Gesellschaft im allgemeinen mir sich bringt (2). Demzufolge zeichnen sich die Fluxus-Künstler nicht nur auf künstlerischem Gebiet, sondern auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Einstellung durch außergewöhnliche Progressivität aus.

In antithetischer Haltung gegenüber dem Modernismus verstanden sie ihre Kunstwerke nicht als im traditionellen Sinn des Geniekultes geschaffene Meisterwerke, die einen unmißverständlichen Sinngehalt transportieren. Sie begriffen den Betrachter als Teil des Werkes, der durch seine Assoziations- und Denkfähigkeit dieses erst vollendet. Um das zu erreichen, griff man auf den oben bereits erwähnten ‘ready made’ Gedanken Duchamps zurück. Die Verwendung scheinbar banaler, meist industriell gefertigter Alltagsgegenstände sollten einerseits dem Betrachter, da diese seiner außerkünstlerischen Erfahrungswelt entstammen, den Zugang und somit das Verständnis des Werkes erleichtern. Andererseits werden durch die Überführung eines trivialen Gegenstandes aus seinem alltäglichen Kontext in einen ästhetisch-künstlerischen Zusammenhang, wiederum künstlerische Fragestellungen, wie Autorenschaft, Einmaligkeit etc. thematisiert.

Doch die formalen Errungenschaften von Fluxus alleine auf die Verwendung und Rekontextualisierung von Alltagsgegenständen zu reduzieren, wäre nicht gerechtfertigt. Parallel zu dem über-Bord-werfen traditioneller künstlerischen Techniken der Malerei und Bildhauerei, wurden die Grenzen zu anderen künstlerischen Disziplinen wie Musik, Theater, Film und Literatur überschritten. Der Emanzipation des künstlerischen Objektes folgte eine Intermedialisierung, die in dieser Form neu war. Dieses Aufheben der interdisziplinären Grenzen hatte eine Erweiterung des statischen Objektes in Richtung einer prozeßhaften Kunst zur Folge. Happening und Event waren geboren.

Die soziale Gesinnung der Fluxus Künstler spiegelte sich auch in ihrer Haltung gegenüber der kommerziellen Aspekten des Kunstbetriebes wieder. Maciunas hatte Mitte der 60er Jahre begonnen, sogenannte Flux-Boxes zu produzieren. Diese waren einfache, in hohen Auflagen hergestellte und relativ billige, spielzeugartige Schachteln, die auf dem Postweg in alle Welt vertrieben wurden. Aufgrund ihres niedrigen Preises konnten sie von einer breiten Masse erworben werden. Zu dem demokratischen Prinzip „Kunst für alle“ gesellte sich gleichzeitig ein subversives, das sich gegen den Kunstbesitz und den damit verbundenen gesellschaftlichen Status wendete.

Dies war in den 60er Jahren. Nicht alleine die Tatsache, daß das Multiple in den letzten Jahren als Medium wieder verstärkt in Mode gekommen ist (3) – neben zwei großen Ausstellungen in Hamburg und Leeds (4), die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen, werden vor allem von Künstlern der jüngeren Generation wieder vermehrt Multiples produziert –, sondern auch das verstärkte Interesse der nach 1960 geborenen Künstler zu den Themen aus dem Bereich des Alltags, der persönlichen Lebens- und Arbeitsumstände, gesellschaftlicher Phänomene und den existentiellen Befindlichkeiten des menschlichen Individuums im allgemeinen, lassen sich sowohl formale, als auch inhaltliche Ähnlichkeiten zu Fluxus feststellen.

Bevor ich hierauf genauer eingehe, sei in wenigen Sätzen, aufgrund des vorgegebenen äußeren Rahmens in notgedrungen pauschaler Form, die „Lage der Kunst“ zu Anfang der 90er Jahre umrissen. Der Zusammenbruch der Mauer, mehr noch der ihm vorausgehende Zusammenbruch einer der letzten großen gesellschaftlichen Ideologien diese Jahrhunderts und die einsetzende Rezension und dem daraus resultierenden „Zusammenbruch des Kunstmarktes“ zu Beginn der 90er Jahre, führte bei einer jüngeren Generation von Künstlern zu einer Umorientierung (Neuorientierung) im Sinne einer kritischen Bewertung und Infragestellen der überkommenen, die 80er Jahre bestimmenden Werte.

Die Kunst begann sich mit sich selbst zu beschäftigen. Auf die in den 80er Jahren vorherrschenden Werkästhetik folgte eine Kontextualisierung der Kunstproduktion, die unter dem Schlagwort Kontext Kunst zusammengefaßt, als neue künstlerische Avantgarde propagiert wird (5).  „Kontext Kunst thematisiert die formalen, sozialen und ideologischen Bedingungen, unter denen Kunst produziert distribuiert, präsentiert und rezipiert wird. Die Bedingungen, unter denen ein Werk entsteht, werden Ausgangspunkt des Werks oder das Werk selbst.“ (6) Kunst wird intellektualisiert, thematisiert und beschäftigt sich halb- oder quasi-wissenschaftlich, mehr oder weniger ausschließlich, mit sich selbst. Während Kontext Kunst sich zögerlich als der Kunstbegriff der 90er Jahre durchzusetzen scheint, betreten mehr oder weniger „durch die Hintertür“ und nahezu unbemerkt eine Generation jüngerer Künstler das Kunstparkett. Hier ist ebenso wenig ein „Übervater“ wie Maciunas in Sicht, der ihnen eine „corporate identity“ verleiht, wie ein Kurator, der ihnen, sie unter einen Etikett subsummierend, die höheren Weihen der Kunstgeschichte gewährt.

Der allen gemeinsame Ausgangspunkt ist, und das ist die augenscheinlichste Gemeinsamkeit mit dem Anliegen der Fluxus-Künstler, daß sie bestrebt sind, die zwischenzeitlich nahezu in Vergessenheit geratene Beziehung zwischen Kunst und Leben wiederherzustellen, wobei sie sich selbst jedoch nicht als eine Art „Neo-Fluxus“ verstehen. Um es gleich vorweg zu nehmen, der entscheidende Unterschied ist, daß sie sich, obwohl aus praktischen Gründen in der dritten Person Plural zusammengefaßt, keinem kollektiven Programm oder Manifest dem eine universale Idee übergeordnet ist, zuzuordnen sind. In diesem Sinne nehmen sie auch keine Protesthaltung ein. Und obwohl sie sich von den Maximen der 80er Jahre-Werkästhetik abwenden, wird dies nicht mit einem Paukenschlag kund getan.

Es ist, als ob sich das gesellschaftliche Schlagwort der beginnenden 90er Jahre „Cocooning“ auf den Bereich der Kunstproduktion ausgeweitet hätte. Zurückgezogen und mit sich selbst beschäftigt werden im Atelier Antworten ersonnen auf individuelle Fragen existentieller Befindlichkeiten. Sei es, daß diese im kollektiv-gesellschaftlichen, im persönlich-individuellen Bereich oder in einer Überlagerung beider zu finden sind. Gesamtgesellschaftliche Strukturen, wie Macht, Ökonomie, Medien, Politik, Ökologie, Kommunikation etc. werden ebenso thematisiert, wie gesellschaftliche Problemkomplexe wie AIDS, Kriminalität, Obdachlosgikeit etc. Hierbei werden keine universellen, allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Lösungsansätze vorgeschlagen. In erster Linie geht es, und hier zeigt sich wieder eine Parallele zur Fluxus-Idee, um das Sensibilisieren des individuellen Bewußtseins gegenüber gesellschaftlicher Belange, als Grundlage für eine verantwortungsbewußte Haltung, die zu einem veränderten individuellen Handeln führt, das wiederum gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben kann. Im Gegensatz zu Fluxus, und hier geht es über deren Ansatz hinaus, ist es nicht mehr die Veränderung des Bewußtseins von Wirklichkeit an sich, sondern setzt diesen, allgemeinen Schritt voraus, um sich nun zielgerichteter an der Praxis zu orientieren. Einem gesamtgesellschaftlich-ethischen Handeln liegt jedoch zugrunde, und das ist das Hauptanliegen, daß sich das Individuum als Teil einer kollektiven Wirklichkeit erkennt und bewußt wird.

Die Fluxus-Künstler erreichten ihr Ziel durch eine radikale und revolutionäre Neuformulierung des Kunstbegriffs. Da heute, aufgrund des „anything goes“, eine solch radikale Ideologie der Gegenkultur nicht mehr vorstellbar ist, werden formale Mittel eingesetzt, die sich entweder durch offensichtliche Klarheit und in geballter Intensität, oder andererseits durch Subtilität und Suggestionskraft auszeichnen. Sei es, daß der Betrachter mit einer Flut von Sinneseindrücken konfrontiert wird, oder daß seine Wahrnehmung fast unbemerkt infiltriert wird. In ihrer Wirkung sind sie somit „Radikalen“ Fluxus-Methoden ähnlich, und über deren Schockmoment hinaus trügerischer, da sie den Betrachter in so direkter Form ansprechen, daß dieser sich in ihrer Wirkung nicht entziehen kann. Das übliche belanglose Flanieren durch die kontemplative Atmosphäre des Ausstellungsraumes ist in beiden Fällen nicht mehr möglich. Das übliche Rezeptionsangebot, das man sich wahlweise zu Gemüte führen kann, besteht nicht mehr. Der Ausstellungsraum nimmt den Betrachter ganz in sich auf und für sich ein.

Wo Fluxus die traditionellen künstlerischen Medien als überholt und überflüssig erklärt, ist hier das Verzichten auf traditionelle Kunstformen nicht erklärtes Programm, sondern hängt vielmehr mit deren inhärentem Mangel an offensiver Kommunikationsfähigkeit zusammen. Obwohl Fluxus die Grenzen zu anderen Bereichen künstlerischer und/oder außerkünstlerischer Ausdrucksformen öffnete, waren deren Kunstwerke nicht selten an einen, zwar revolutionierten, aber dennoch traditionell geprägten Objektbegriff gebunden. Bei „shift“ tritt in den meisten Fällen das Objekt zugunsten offener, veränderbarer Strukturen, die jeweils, wenn überhaupt, nur eine der möglichen Ausformulierungen annehmen , zurück. Wo bei Fluxus der Alltagsgegenstand, einmal in einen künstlerischen Kontext überführt, und zu einem semantisch aufgeladenen Objekt transformiert wurde und aus diesem Zustand nicht mehr in die Alltagswelt zurückkehrt (7), kommt den hier verwendeten Ready-mades keine vergleichbare Bedeutung zu. Nach dem Gebrauch in der Ausstellung werden sie häufig in den alltäglichen Kontext zurückgeführt, ohne daß ihnen eine über deren Alltagsfunktion hinausgehende Bedeutung oder ein besonderer Wert zugestanden wird.

In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die Rolle des Rezipienten zurückzukommen. Wo der Betrachter bei Fluxus einem einerseits offenen Kunstwerk, das erst durch dessen assoziative Vorstellungskraft „zu Ende“ gedacht und vollendet wird, bleibt hier das Kunstprodukt fragmentarisch. Dem Kunstwerk per se ist selten ein ästhetischer oder semantischer Wert inhärent. Es bewahrt vielmehr seine offene Struktur, die nur dann wirksam ist, wenn sie veränderbar bleibt und tatsächlich oder kognitiv weiterformuliert ist. Salopp gesagt: wo im einen der Rezipient erwünscht, aber nicht unbedingt notwendig ist, ist er im anderen unablässige Voraussetzung für dessen kommunikative Wirkung, die nur durch wechselseitiges reagieren zustande kommt. In diesem Sinne könne diese Werke nicht isoliert betrachtet werden, sondern zeichnen sich durch inhärente Prozeßhaftigkeit aus.

Diese Prozeßhaftigkeit spiegelt sich andererseits aber auch in der Art der Präsentation innerhalb der Ausstellung. Gleich einem Netz ziehen sich viele der oftmals aus zahlreichen Elemente zusammengesetzten Werke nicht durch alle Ausstellungsräume, sondern beziehen die üblicherweise für die Präsentation von Kunst nicht vorgesehenen Bereiche, wie Verbindungsgänge zwischen den Räumen, den Eingangsbereich, Toiletten und Treppenaufgänge mit ein. Indem zwischen diesen „hohen“, im Sinne für Kunst vorgesehene und „niedrigen“, den alltäglichen, nichtkünstlerischen Bereichen keine hierarchische Unterscheidung getroffen wird, da der eine so wert- und sinnvoll wie der andere ist, wird einerseits eine erneute Verschränkung von Kunst und Leben erreicht und andererseits bis zu einem gewissen Grade institutionelle Kritik geübt. Diese ist nicht gleichzusetzen mit der Institutionskritik die der Kunst der 60er Jahre zu eigen war. Hatte diese doch die traditionellen Vermittlungsstrukturen nur zu einem gewissen Grade anerkannt und nicht ihr Wirkungsfeld, sondern auch ihr Tätigkeitsfeld auf außerkünstlerische Bereiche übertragen. Ganz im Gegenteil ist der institutionelle Rahmen für die in „shift“ gezeigte Kunst von zentraler Bedeutung. Nicht in dem Sinne, daß er in Frage gestellt wird, sondern daß die Erwartungshaltung des Besuchers – zumindest teilweise – untergraben wird. Einem Ausstellungsbesuch liegt in der Regel eine individuelle willentliche Entscheidung des Besuchers zugrunde, sich mit Kunst, bzw. künstlerischen Werken, Ausdrucksformen und Konzepten etc. beschäftigen zu wollen. Dieser wird nun, und das deckt sich möglicherweise nicht mit seinen Erwartungen, innerhalb des zur Rezeption von traditioneller Kunst vorgesehen Rahmens exemplarisch mit Bereichen konfrontiert, die sich in erster Linie nicht auf den erwarteten Rahmen, sondern auf Lebensbereiche außerhalb dessen beziehen. In diesem Sinne werden mit Hilfe konventioneller Vermittlungsstrukturen eine Verbindung von Kunst und Alltags(Leben) ermöglicht, die ohne diese Strukturen in dieser Form nicht möglich wären

(1) Vgl. Thomas Dreher: Vom Event zum Postevent, in: Kritik. Zeitgenössische Kunst in München, 2/93.
(2) Vgl. Roland Scotti: Die Metamorphosen des Alltäglichen, in: „Fluxus und Concept Art“, Ausst. Kat. Wilhem-Hack-Museum, Ludwigshafen/Rhein 1991.
(3) Siehe Erika Ledermann: Multiplication, in art monthly, 2/95.
(4) „Das Jahrhundert des Multiple“, Deichtorhallen Hamburh 1994 und „Art unlimited. Multiples of the 1960s and 1990s“, Metropolitan University Gallery, Leeds 1995.
(5) Siehe den von Peter Weibel zur gleichnamigen Ausstellung in Graz 1993 herausgegebenen Katalog: Kontext Kunst, Köln: DuMont 1994.
(6) Ebda S. XIV.
(7) Vgl. Scottti, a.a.O., S. 16.

veröffentlicht in: Shift, Ausst. Kat. De Appel Foundation, Amsterdam 1995

© 1995 Jan Winkelmann

Englische Version

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