"Outside"

Jan Winkelmann

Olafur Eliasson flog vor Weihnachten zum Christmas-Shopping nach New York. Er hatte es sich verdient, nachdem er in den Monaten davor auf nicht weniger als vier Kontinenten in Ausstellungen vertreten war und entsprechend rastlos die großen Meere dieser Erde kreuz und quer überflogen hatte. Dennoch keimte beim Daheimgebliebenen insgeheim ein wenig der Neid, denn ihm war es, ob einer verschleppten Grippe nachhaltig gepeinigt, nicht gegönnt, die vom Arzt verschriebene Ruhe dem geschundenen Körper auch nur ansatzweise angedeihen zu lassen. Noch dazu als euphorischer Weihnachtsromantiker dem tristen deutschen Vorweihnachtsgeplänkel hilflos ausgeliefert, wo es die Amerikaner doch so gut verstehen, den alljährlich wiederkehrenden Geburtstag eines gewissen Herrn Jesus mit kaum zu überbietendem künstlich geschaffenem Pathos artifizieller Schönheit entgegenzujubeln, nicht außer Acht lassend, daß sich dabei die reibungslos funktionierende Konsummaschinerie so hochtourig beschleunigen läßt, daß es selbst dem eingefleischtesten Konsumfanatiker vor Verzückung die Tränen in die Augen treibt. Welch eine Vorstellung, bei klirrenden Minusgraden auf der Eisbahn vor dem Rockefeller-Center bedächtig seine Runden zu ziehen, an der Hand die Liebste, mit der man anschließend gemeinsam den von abertausenden Kerzen erleuchteten, größten Weihnachtsbaum der Welt staunend betrachtet. Doch in diesem Jahr war dies leider nicht ganz so, wie es die durch zahllose schmachtende Kinofilme konditionierte Vorstellung imaginieren läßt. Es herrschten vor Weihnachten frühlingshafte Temperaturen um die 18º Celsius in New York City.

Olafur mußte es auf der Eisbahn des Rockefeller-Centers wohl ganz ähnlich ergangen sein, wie den Besuchern der Sao Paolo Biennale im Oktober dieses Jahres. Dort nämlich hatte er eine künstliche Eisbahn in den Ausstellungspavillon bauen lassen. Eine nicht gerade alltägliche Erfahrung für die Bewohner der südamerikanischen Stadt, die bei 37º C im Schatten einer Naturerfahrung teilhaftig werden konnten, die ihnen ansonsten auch nur aus der medialen Realität des Fernsehens geläufig sein dürfte. Diese unmittelbaren Erfahrungen natürlicher oder naturähnlicher Erscheinungen bilden das Zentrum des Werks von Olafur Eliasson. Das subjektive Erleben von elementaren Ereignissen wie Wind, Wasser, Licht, Temperatur usw. erlauben eine Wahrnehmung von unmittelbarer erlebter Gegenwart, in deren Mittelpunkt nicht die künstliche Sensation steht, sondern die individuelle Perzeption des Betrachters. Eliassons Werke spielen in diesem Sinne nicht etwa die Hauptrolle, sondern sind Katalysatoren, die die Wahrnehmung des einzelnen stimulieren und sich dieser im Raum-Zeit-Kontinuum des jeweiligen Momentes gewahr werden lassen. Er versteht seine Installationen nicht als Werke, sondern vielmehr als Hilfsmittel, damit der einzelne die Wahrnehmung und Erlebnisfähigkeit seiner selbst „wahrnimmt“, um sich dadurch dieser bewußt zu werden.

Nicht immer ist ein derart hochtechnisierter Aufwand wie in Sao Paolo notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Im Gegenteil. In den meisten Fällen sind es relativ einfache, mit sparsamsten Mitteln erzeugte Interventionen, die der Künstler selbst bisweilen „Maschinen“ nennt. Damit umschreibt er nicht nur deren funktionalen Charakter, der sich jenseits eines fetischisierenden Objektbegriffs bewegt, sondern betont zusätzlich ihre „dienende“, auf die Erzeugung eines bestimmten Effektes gerichtete Funktion. Hierbei liegen generell alle Funktionsteile offen. Es gibt kein Geheimnis um die erzeugten Effekte und trotzdem ist es gerade der Bruch von rational nachvollziehbarem Effekt und fesselnder Aura des Resultats an sich, in der die Faszination für Eliassons Arbeiten gründet. Zu den in dieser Hinsicht beeindruckensten Beispielen zählen jene Werke, bei denen der Künstler mit fließendem Wasser und Stroboskoplicht operiert. Eine ganze Gruppe von Installationen liegt mittlerweile dem Prinzip des „schwebenden Tropfens“ zugrunde. Der Mechanismus ist denkbar einfach, wie sich anhand einer in Genf im Centre genevois de gravure contemporain 1997 realisierten Arbeit („By Means of Your Sudden Feature“) symptomatisch erläutern läßt. Um einen im Garten „gefundenen“ Springbrunnen wurde ein igluartiges Zelt aufgebaut. Die Dunkelheit im Inneren wurde von Blitzlicht zerrissen, die die kontinuierlich vor sich hin plätschernde Wassersäule in schwebende, in ihrer momentanen Bewegung festgehaltene Einzeltropfen zerteilte. Es ist offensichtlich, wie der Effekt zustande kam. Da das Auge, um eine kontinuierliche Bewegung als solche wahrnehmen zu können, 24 Bilder pro Sekunde „braucht“ (nebenbei erwähnt ist dies die Geschwindigkeit, mit der ein Kinofilm läuft), das Stroboskop allerdings nur 12 mal in der Sekunde aufleuchtete, sah man lauter Einzelbilder. Da die Geschwindigkeit aber wiederum zu schnell war, um die Wassertropfen als dauerhaft eingefroren wahrzunehmen, sah man in der Luft tanzende, im gleißenden Licht wie Edelsteine glitzernde Tropfen. Der Besucher wurde Zeuge eines optischen Phänomens, das man nur im ersten Moment als „natürlich“ wahrnimmt, in Wirklichkeit jedoch künstlicher gar nicht sein kann, da diese aggressive Form des Lichts doch hauptsächlich aus Diskotheken bekannt ist. Die Faszination des überraschenden Effekts läßt im ersten Moment allerdings darüber hinweg sehen, bzw. die Künstlichkeit des ablaufenden Spektakels nicht sofort als solche wahrnehmen. Dem auratischen Faszinosum liegt in Wirklichkeit ein physikalisches Prinzip zugrunde, das nicht nur sehr leicht durchschaut werden kann, sondern beliebig oft mit einfachsten Mitteln so gut wie überall reproduzierbar ist. Die beiden Pole von Banalität der technischen Apparatur und dem Erhabenen der erzeugten Schönheit könnten weiter nicht auseinander liegen und evozieren einen Bruch in der Empfindung, der gerade auch die Grenzen menschlicher Wahrnehmung bewußt werden läßt.

Der Einsatz von Low-tech, im Sinne einfachster Materialien, impliziert keine Technikfeindlichkeit von Seiten des Künstlers, sondern unterstreicht den Charakter des Unkomplizierten und verweist gleichzeitig auf die untergeordnete Bedeutung des angewandten Instrumentariums, wie auch ein einfacher Eingriff in die vorhandene architektonische Struktur des Ausstellungsraumes in der Marc Foxx Gallery in Los Angeles 1997 zeigt. Eliasson sägte in das Dach der Galerie ein kreisrundes Loch. Das einfallende Sonnenlicht bewegte sich langsam, aber nachvollziehbar in Form eines sich je nach Einfallwinkel ständig verändernden Lichtkreises über die Wände und den Boden der Galerie. Durch die Verschiedenartigkeit des Wetters ergaben sich im Raum ständig wechselnde Bildabläufe, die zwar größtenteils ähnlich, jedoch nie genau gleich waren. Zeit und Raum durchdrangen sich wechselseitig und boten eine von der Natur bestimmte Aufführung, die, ob der vom Künstler geschaffenen Rahmenbedingung konstruiert, durch die Unkalkulierbarkeit der natürlichen Einflüsse von Sonnenlicht und Wetterverhältnis jedoch ein zufälliges Schauspiel ergaben. Die Realität war in Wirklichkeit anders als es den Anschein hatte. Nicht der Lichtkreis bewegt sich, sondern das den Lichtkreis bestimmende Loch im Dach, denn bekanntlich dreht sich die Sonne ja um die Erde und nicht umgekehrt. Eliasson läßt den Betrachter seine subjektive Wahrnehmungsfähigkeit nicht nur erleben, sondern führt uns auch vor Augen, wie sehr diese üblicherweise von anderen, vornehmlich kulturellen Einflüssen konditioniert ist. Hier spiegelt sich sehr deutlich der Antagonismus von Natur und Kultur, ihre gegenseitige Durchdringung und die Tatsache, daß die Wahrnehmung von Natur immer einer von kulturellen Faktoren beeinflußten Prägung unterliegt. In dieser Hinsicht ist es vor allem aber auch die Erinnerung, die eine wichtige Rolle im Erleben von Natur spielt. Jedes Individuum hat eine Idee von Natur. Natur meint in diesem Falle ebenso eine undefinierte, abstrakte Projektion von „Landschaft“, wie auch das Korrelat zu der von menschlicher Zivilisation geprägten Idee von Kultur. Diese omnipräsente Vorstellung von Natur erlaubt dem Betrachter eine Identifikationsmöglichkeit mit den von Eliasson angebotenen Wahrnehmungsphänomenen. Diese ist aber ebenso verschieden, wie es das Individuum als eine von persönlicher Geschichte und zahllosen anderen Einflüssen definierte Persönlichkeit ist. Der „Einsatz“ von Natur ist in dieser Hinsicht als eine Methode zu verstehen, mit der die Bedingungen von Subjektivität untersucht werden. Eliasson gibt keinen bestimmten Weg vor, lediglich eine Richtung, die wiederum offen ist und in der Vielzahl von Möglichkeiten innerhalb ihrer selbst sich selbst überlassen bleibt.

Das Moment der von Kultur domestizierten Naturvorstellung wird in einigen Arbeiten besonders deutlich, in denen Eliasson mit der Umkehrung von Naturkräften spielt. In der Eröffnungsausstellung der neuen Galerieräume von neugerriemschneider in Berlin im Herbst letzten Jahres zeigte Eliasson einen Brunnen (Yet Untitled, 1998), der aus fünf Wasserbecken bestand, die in einer Art Kaskadesystem als ein geschlossener Kreislauf mit einander verbunden waren. Der übliche Überlaufmechanismus vom höhergelegenen Becken in den nächsten darunterliegenden wurde hier umgedreht. An die Stelle der Wasserfälle, die die einzelnen Bassins zum Überlaufen bringen, traten Fontänen, die das Wasser in die jeweils höheren Becken pumpten. Das durch die Schwerkraft sich von selbst ergebende Überlauf-System wurde durch eine mit gewaltigem technischen Aufwand geschaffene Konstruktion „auf den Kopf gestellt“. An die Stelle des natürlichen Fließens trat eine „gewaltsame“ Umkehrung der Kräfte des Wassers. Auch hier waren alle Funktionsabläufe offengelegt. Sämtliche Pumpen, Schläuche, Kabel etc. waren sichtbar und konterkarierten mit ihrer technisierten Maschinenästhetik das sublime Schauspiel der grazilen Fontänen.

In der für die Johannesburg-Biennale realisierten Arbeit „Erosion“ traten wiederum der Effekt an sich und sein symbolischer Gehalt in der Vordergrund. Eliasson ließ in einer spontanen Aktion, die nur einen geringen technischen Aufwand bedurfte, das Wasser eines großen Auffangreservoirs auf die Straße pumpen. Das Wasser bahnte sich seinen Weg von alleine durch eine Senke, überquerte einem ungezähmten Miniatur-Fluß gleich einen Parkplatz, floß über einen Gehweg zu einer Verkehrsstraße, um schließlich ganz unspektakulär in einem Abwasserkanal wieder zu verschwinden. Ähnlich wie die in Sao Paolo realisierte Eisbahn wurde dem Zuschauer ein für ihn ungewöhnliches, künstlich herbeigeführtes Ereignis in Form eines kalkulierten Naturschauspiels geboten. Die zeitliche Begrenzung der Aktion hatte performanceartigen Charakter und ist symptomatisch für die Unmittelbarkeit und Authenzität von Eliassons Installationen. Das Ephemere der auf den Augenblick gerichteten Aktivität wurde hier besonders deutlich. Das Stürzen und Fließen des Wassers mit einer Geschwindigkeit von 20 Litern pro Sekunde dauerte nur kurze Zeit, um im nachhinein nur noch medial und imaginativ nachvollziehbar zu sein. Mit diesen Aktionen wird die Einmaligkeit des hier und jetzt und die unmittelbare Präsenz zum Erleben von Gegenwart symptomatisch vor Augen geführt. Auch hier ist die individuelle Erfahrung Teil eines vom Künstler präzise kalkulierten Effekts, der wiederum bei all seiner vermeintlich natürlich aussehenden Erscheinung doch nur die Folge eines mechanischen Prozesses (in diesem Fall das mit einer Pumpe durchgeführte Leeren des Bassins). Der Verzicht auf einen traditionellen Werkbegriff tritt in diesem Fall besonders deutlich in Erscheinung. Das Werk findet im immateriellen der Wahrnehmung statt. Eliasson bemerkte einmal, daß er mit dieser Methode der „Dematerialisierung“ im Grunde genommen gegen die Kunst und somit auch gegen die Kunstgeschichte im allgemeinen arbeite. Im Gegensatz zu den konzeptuellen Strömungen der 60er und 70er Jahre sind die Projekte aber wesentlich an seine Person als aus- bzw. aufführendes Organ gebunden.

Den Weg der Auflösung des Werkes zugunsten ephemerer Ereignisse hatte Eliasson in seiner Ausstellung in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig nur scheinbar verlassen. Die Raumabfolge war als ein Parcours konzipiert, den formale Brechungen prägten. Im ersten Raum hatte er mit zwei heckenartigen Gittern einen architektonischen Eingriff vorgenommen, der den Raum unterteilte und eine Passage schaffte, die den Betrachter in den nächsten Raum führte. Der netzartigen unregelmäßigen Aluminiumstruktur lag eine komplexe mathematische Formel zugrunde, die eine auf die Fläche projizierte Kristallstruktur wiedergab. Die komplizierte Geometrie verbarg sich hinter dem chaotisch wirkenden Richtungswechsel der unzähligen Aluminiumleisten. Die Leisten waren in fünf Richtungen mit jeweils nur zwei Längenabständen ausgerichtet, die im Verhältnis des „Goldenen Schnittes“, in einer besonders harmonischen, rechnerisch erzeugten Proportion zueinander standen. Die mathematische Grundlage, die seiner Berechnung zugrunde lag, wie auch eine weitere in der Gitter-Konstruktion verborgene Zahlenreihe – die Fibonacci-Zahlen, auf die sich z.B. das gewundene Wachstum von Blättern zurückführen läßt – verweisen auf die frühen Versuche der Menschheit, mit Hilfe der Mathematik Strukturen und Konstruktionsprinzipien der Natur zu ergründen bzw. sie rational nachvollziehbar zu machen und sich diese dadurch anzueignen.

Nachdem die Passage in den nächsten Raum durchschritten wurde, lenkte der Lichtstrahl eines Bühnenscheinwerfers die Blickrichtung durch das Fenster nach draußen. Auf dem Rasen vor dem Haus stand ein zwölfeckiger „Würfel“, deren Seiten partiell mit hochreflektierender Folie, wie sie z.B. im Straßenverkehr Verwendung findet, beklebt waren. Da der Einfallwinkel des Lichts dem Ausfallwinkel glich, konnten die Reflexionen der Holzskulptur nur im Strahlengang des Scheinwerfers, mit dem Blick aus dem Fenster wahrgenommen werden. Die einzelnen achteckigen Doppelpyramiden, aus denen der Dodekaeder zusammengesetzt war, verwiesen ähnlich dem Aluminiumgitter auf eine in der Natur vorkommende Kristallform. Die einzelnen Teile konnten ausgeklappt werden, wodurch die Form durch den Betrachter veränderbar waren. Die aus nur leicht behandeltem Holz gefertigte Skulptur variierte ihre Form nicht nur durch die Bewegung der Einzelteile, sondern veränderte auch ihre Substanz, denn das Material war bewußt den natürlichen Einflüssen von Wind und Wetter ausgesetzt. Wie alleine diese Beschreibung der ersten zwei von vier Räumen deutlich werden läßt, konzipierte Eliasson zwar Werke in materialisierter Form, das eigentlich wichtige passierte jedoch – wie in allen anderen Fällen auch – in den Köpfen der Betrachter. Dieser bewegte sich in Zeit und Raum und wurde dadurch Teil des Ganzen. Das Werk verlor seinen auf die Ewigkeit gerichteten Anspruch zugunsten einer auf die Unmittelbarkeit des Moments gerichteten katalysatorischen Funktion.

in holländischer Sprache veröffentlicht in: Metropolis M. Tijdschrift over hedendaagse kunst, Nr. 1, Feb.-Mrt. 1999

© 1999 Jan Winkelmann

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