ON – off

Jan Winkelmann

»Contemporary art to me is nothing more than the expression of contemporary aims of the age we’re living in.« [Jackson Pollock 1950]

Selten wandeln sich gesellschaftliche Wirklichkeiten ohne Veränderungen in Form von Gewalt. Am Ende dieses Jahrtausends, das so viele aus unterschiedlichsten Motivationen geführte Kriege gesehen hat wie kaum ein anderes zuvor, ist der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der Sowjetunion und die damit verbundenen zahlreichen kollabierenden Satellitenstaaten des realexistierenden Sozialismus ohne Vorbild. Betrachtet man die sich daran anschließenden weltpolitischen Veränderungen unabhängig von Namen, damit verbundenen individuellen Schicksalen, ohne Orte und konkrete staatstheoretische Modelle, so wurde in der DDR mit der Wiedervereinigung einfach ein Gesellschaftssystem durch ein anderes ersetzt. Dabei hat sich nicht nur das jeweilige Staatskonzept geändert, sondern auch das zu seiner Organisation und deren ›reibungslosem‹ Ablauf notwendige Normen-, Werte- und Regelsystem. Jedes autoritäre Ordnungsmodell und jeder hierarchisch gegliederte Regel- bzw. Gesetzesapparat entwickelt in seinen institutionalisierten Instrumentarien nicht nur eigene Zeichensysteme, sondern konditioniert ebenfalls bestimmte Verhaltensmuster bzw. bringt wiederum gegen sie gerichtete Modelle von Seiten Dritter hervor. Deren Strategien mögen sich inhaltlich widersprechen, die Möglichkeit, daß sie sich in ihrer funktionalen Struktur und in ihren allgemeinen Repräsentationsmustern ähneln, ist hingegen mehr als wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund definieren die beiden Begriffe Macht und Gewalt, die in unmittelbarer Verbindung zueinander stehen und sich in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit mannigfaltig und auf verschiedenen Ebenen wechselseitig durchdringen, die beiden ›Eckpfeiler‹, zwischen denen sich ein thematisches Spannungsfeld öffnet, innerhalb dessen die Werke der Ausstellung »power« operieren. Auf unterschiedlichen Ebenen werden Bezugsfelder dargestellt, die im weitesten Sinne die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, respektive eines sie organisierenden staatlichen Systems mit seinen inhärenten Abhängigkeiten von Machtstrukturen, Ordnungsmechanismen und Regelsystemen und daraus resultierender verschiedenartigen Assoziations- und Handlungsfelder thematisieren.

Institutionelle Macht wird in erster Linie mit Hilfe von Bildern und Verhaltensmustern vermittelt, die wiederum auf potentielle Handlungsfelder und Aktionsmechanismen rekurrieren bzw. diese repräsentieren. In diesem Sinne verweist Kendell Geers’ Absperrung der Galerie durch einen mannshohen sogenannten Widerhakensperrdraht auch auf dessen Produktionsprozeß. Als an einem Montagmorgen im April die Soldaten des Sicherungszugs vom 2.Stabs- und Fernmeldebataillon 701 begannen, die Drahtrollen fachmännisch um das Haus zu verlegen, war dieser Einsatz der Bundeswehr ein integraler Bestandteil der Arbeit. Die unüberwindbare Absperrung [»Title Withheld [Deployed]«] demonstriert mit ihrer in diesem Kontext inhärenten Funktionslosigkeit nicht nur ein Infragestellen der ihr üblicherweise zugrunde liegenden Funktionen, sondern öffnet als ein eindringliches und stark emotionalisierendes Bild verschiedene Assoziations- bzw. Bezugsfelder. Die wenigsten werden wissen, daß diese spezielle Form des Stacheldrahtes eine südafrikanische Erfindung, genauer genommen eine des Apartheid-Regimes ist. Er diente den Sicherheitskräften als ein schnell zu installierendes probates Mittel, um größere Areale in wenigen Minuten abzusperren und dadurch die räumliche Bewegung der Eingeschlossenen im wahrsten Sinne des Wortes einzugrenzen und auf diese Weise kontrollierbar zu machen. Insofern repräsentiert er eine institutionalisierte Politik der Regelung und Kontrolle von Zugangsmöglichkeiten. Die Präsentation in einem anderen politischen Gefüge impliziert eine Bedeutungsverschiebung vom konkreten repräsentativen Zeichen zu einem allgemeingültigeren Bild, wobei dieses vor dem Hintergrund der Geschichte in der ehemaligen DDR mit der Erinnerung an den Todesstreifen der deutsch-deutschen Grenze eine, wie an der Reaktion vieler Passanten zu beobachten war, immer noch sehr stark präsente Erinnerung ist. Wenn man von diesen politischen Implikationen und den zahlreichen Assoziationen an Gefängnisse, KZ und Militärlager etc. einmal absieht, stellen sich aber auch generelle Fragen an die Institution. Das Museum als ein Ort kultureller Bedeutung, das künstlerische Werte kraft seiner Funktion sowohl autorisiert wie auch sanktioniert und in diesem Sinne eine Art Machtfaktor darstellt, wird durch und mit dem Zaun als solcher nicht nur exponiert, sondern auch bezüglich seiner Rolle in Frage gestellt.

Gregory Greens Work-in-progress »The New Free State of Caroline« mag auf den ersten Blick mit Geers’ Arbeit verwechselt bzw. als Teil dieser verstanden werden. Die Flagge über und das Messingschild neben dem Haupteingang weisen das Gebäude als Botschaft des Neuen Freistaates von Caroline aus. Da eine Botschaft den Status eines exterritorialen Gebietes hat, wird sie in der Regel in entsprechender Form abgesichert. Normalerweise geschieht dies jedoch nicht auf solch martialische Weise, wie es der Sperrdraht von Geers nahelegt, weshalb die Nähe beider Arbeiten nur eine scheinbare ist. Gregory Green erforscht in seinem Werk seit mehr als zehn Jahren die Entwicklung von Möglichkeiten und Strategien, bestehende Machtverhältnisse zu verändern. Dabei untersucht er den Einfluß von Gewalt, Alternativen zur Gewalt und den Zugang von Informationstechnologien als Mittel zur Veränderung sozialer und politischer Realitäten. Sein Projekt gliedert sich in sieben thematische Gruppen: ›Terror‹, ›Sabotage‹, ›Information und Technologie‹, ›Alternative Systeme‹, ›Gruppenorganisation‹, ›Passiver Widerstand‹ und ›Verweigerung‹. In dieser Reihenfolge bilden

sie eine Art Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Strategien von Gewalt im Hinblick auf gesellschaftliche Umwälzungen, ihrer Rolle in der Vergangenheit und einer möglichen, potentiellen Funktion in der Zukunft. Während es bei ›Terror‹ noch um den gewaltsamen Kampf und die direkte Konfrontation eines Individuums oder einer Gruppe mit dem Staat oder der Gesellschaft geht, sind ›Sabotage‹ bzw. ›Information und Technologie‹ eher auf die Infrastruktur des Systems und die Störung dessen Funktionsapparates gerichtet, so stellen ›Alternative Systeme‹ und ›Gruppenorganisation‹ den bestehenden Organisationsformen und gesellschaftlichen Modellen neue gegenüber. ›Passiver Widerstand‹ und ›Verweigerung‹ zeigen in Greens Augen die höchsten und edelsten Formen der Revolution, die in Zukunft zum Tragen kommen werden, wenn und weil sich Terror und Gewalt methodisch erschöpft haben.

Greens Bestrebungen zielen nun darauf, den Neuen Freistaat von Caroline auf einer unbewohnten und niemals zuvor besiedelten Insel zwischen Tahiti und Hawai zu gründen. Hierbei geht es erst in zweiter Linie darum, den Status eines souveränen Staates zu erlangen, als vorrangig darum, den von den Vereinten Nationen vorgeschriebenen Weg zur Neugründung von Staaten Schritt für Schritt zu durchlaufen und den Prozeß als solchen nachvollziehbar zu machen. Als eine der ersten Maßnahmen hat Green eine Flagge entworfen, die als ein materialisiertes Symbol von der Utopie des ›paradiesischen Inselstaates‹ kündet. Die Ernennung der Galerie zur Botschaft, die als Informationszentrale für sein Projekt fungiert, ist im Vergleich zu Geers’ Vorgehen weniger ein kritisches Infragestellen der Institution an sich, als vielmehr die Aneignung einer bestehenden öffentlichen Infrastruktur im Dienste der Kommunikation. Mit »Worktable No. 6«, »1000 Doses LSD« und den beiden Piratensendern werden zwei weitere unterschiedliche Strategien dargestellt, die jeweils kennzeichnend sind für die Bereiche ›Terror‹ und ›Sabotage‹ sowie ›Information und Technologie‹. Die beiden erstgenannten implizieren als statische und nicht veränderbare Skulpturen scheinbar den Betrachter als potentiellen [Be]Nutzer, wohingegen die beiden Sender tatsächlich zur Informationsübermittlung genutzt werden können. Sie infiltrieren bestehende Kommunikationskanäle und überlassen dem Nutzer die Verantwortung für die jeweiligen zu transportierenden Inhalte. Der Hyperrealismus der potentiell funktionstüchtigen Bomben spielt nicht nur mit einer Strategie der Ästhetisierung von Gewalt und Terror, sondern verweist gleichzeitig auf die universelle Verfügbarkeit sowohl der zur Produktion notwendigen Mittel wie auch des entsprechenden Know-hows. Indem sie mit den Mitteln des Spektakulären operieren, entlarven sie den weitverbreiteten Voyeurismus und die Faszination von Gewalt, die üblicherweise nur in medial vermittelter Form wahrgenommen wird. Diese bekommt hier ein reales Gegenüber, das in der Unmittelbarkeit des Realen nicht nur eine Fetischisierung des Objektes als Exponat erfährt, sondern dem Betrachter ein Potential an Möglichkeiten und Optionen vor Augen führt, die nur zu Ende gedacht werden müssen, um ihre Wirkung zu erreichen.

Kendell Geers’ Wandinstallation »Title Withheld [Stillife]« ›funktioniert‹ auf einer ähnlichen Ebene der emotionalisierenden Irritation, obzwar der assoziative Projektionsrahmen weniger direkt und offensichtlich ist. Acht orangefarbene Einmal-Leichensäcke hängen in Reih und Glied an der Wand eines ansonsten leeren Raumes. Die Reißverschlüsse sind geöffnet und klaffen wundengleich auseinander. Referenzen wie die aufgeschlitzten Leinwände eines Lucio Fontana, aber auch die frühen Materialskulpturen Robert Morris’ oder Eva Hesses kommen einem in den Sinn. Die kühle Nüchternheit der Präsentation evoziert eine fast klinische Antiseptik, die mit der poppigen, fast fröhlichen Farbigkeit des Materials kollidiert und einen weiteren Referenzrahmen öffnet: Gustave Courbets »Ursprung der Welt« zoomt uns in fast vulgärer Abstraktion entgegen. Der Kreislauf von Geburt und Tod, Ursprung und apokalyptischer Vision vom Ende der Welt scheint sich hier zu öffnen und gleichzeitig wieder zu schließen. Die Arbeiten des Südafrikaners verweisen stets auf seinen eigenen kulturellen Background und den politischen Kontext, dem er entstammt und ohne die sein Werk in seinen komplexen und hoch politischen Implikationen nicht zu verstehen sind. Als eine Form des Widerstands entwickeln die strategischen Eingriffe in die Institution Kunst gleichzeitig auch Bedeutung für die Wirklichkeit außerhalb des Museums, indem sie den natürlichen Lebens- und Informationsfluß in der Ereignisgesellschaft mit unmittelbaren und schockierenden Bildern aus dem Gleichgewicht bringen.

Unterdrückung und Unterwerfung, jene polarisierenden Ambivalenzen, sind strukturelle Bestandteile eines jeden Funktionsmechanismus, der soziale Ordnung mit Hilfe von Autoritätsmodellen definiert. Die hierarchische Gliederung von Machtstrukturen und ihre gegenseitige Abhängigkeit sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Ausrichtung definiert immer ein Feld von möglicher Aktion und daraus resultierender Reaktion. Angela Bulloch thematisiert mit ihrer interaktiven Skulptur »Crowd Sound Piece for Leipzig« diesen Spielraum individueller Entscheidungen. Betritt man die temporäre Tunnel-Architektur, schallt einem die tösende Geräuschkulisse der Zuschauer eines Fußballspiels entgegen. Die Aufnahmen aus dem Londoner Wembley Stadion werden durch Trittkontaktmatten auf dem Boden gesteuert. Der binäre Code von 0 und 1, das An und Aus suggeriert eine reale Einflußmöglichkeit des Betrachters auf die Funktion der Installation. Das performative Element der Interaktivität ist jedoch nichts weiter als eine Illusion von Freiheit. Der von der Künstlerin vorgegebene eingeschränkte Handlungsspielraum ist in der Struktur angelegt und läßt darüber hinaus keine weitere Einflußmöglichkeit zu. In diesem Sinne werden vermeintlich offene, subjektive Handlungsfelder als ein limitiertes Konstrukt des sie definierenden Systems entlarvt. Individuelle Entscheidungsspielräume sind als solche ohne Relevanz, weil sie nur auf die innerhalb des vorgegebenen Rahmens vorgeschriebenen Parameter reagieren können. Mit dem Bezug zum Breitensport Fußball wird ein Referenzrahmen eröffnet, der nicht nur das Spiel als ein durch Regeln organisiertes ›Mikrosystem‹ vorführt, vielmehr wird hier auch eine weitverbreitete Form der alltäglichen kollektiven Gewalt thematisiert. Das in der Masse verschwindende Individuum wird zu einem Teil des Mobs, der mit klar strukturierten Feindbildern eigene Aus- grenzungsmechanismen mit zum Teil nicht mehr kontrollierbaren Gewaltexzessen betreibt.

Bullochs »Rules Series« thematisiert Ordnungsprinzipien und Regelsysteme, die den Ablauf und die Funktion unseres gesellschaftlichen Lebens bestimmen, sowohl allgemein in ihrer Funktion und Struktur als auch im Hinblick auf die jeweiligen spezifischen Inhalte der einzelnen »Rules«. Die Künstlerin betreibt eine Art strategische Aneignung existierender Regelkanons, die sie als ›soziale Ready-mades‹ aus ihrem eigentlichen, sinnstiftenden Kontext löst, um sie in einem neuen, fremden Kontext ihrer Funktion zu entkleiden. Die nun funktionslos gewordene Regel läßt die einzelnen Inhalte ohne den Referenzrahmen bisweilen grotesk erscheinen und macht sie sowohl in Bezug auf ihre spezifischen Aussage als auch in ihrer regulativen Struktur zum Subjekt kritischer Analyse.

In ähnlicher Weise erlauben die Schimpfworte in Kendell Geers’ Bildschirmschoner [»T.W. [H.S.]«] eine strukturelle Analyse, indem sie die mit ihrem Gebrauch verbundenen Ausgrenzungsmechanismen offenlegen. Gleichzeitig werden aber auch die unterschiedlichen Feindbilder deutlich, derer sie sich bedienen. Seien es die Heraushebung ethnischer oder sexueller Andersartigkeiten, die verbale Belegung mit physiognomischen Fäkalvulgaritäten oder einfach nur pauschalisierende Abwertungen, sie funktionieren alle nach einer uns wohlbekannten Strategie der Überheblichkeit. In ihrer blitzschnellen Abfolge auf dem Bildschirm vermischen sie sich, so daß die einzelnen Worte kaum noch als autonome Einheiten wahrnehmbar sind. Eine zeitgenössische Form der [maschinellen] Publikumsbeschimpfung.

Neben der Macht von Symbolen und Bildern als inhärente Bestandteile eines Repräsentationsapparats existieren vielfältige Metaphern des Autoritären, die sich weniger deutlich und zeichenhaft darstellen, sondern sich in erster Linie durch den assoziativen Gehalt von Form, Material und potentieller Nutzung gerieren. Fabrice Gygis »Tribunal« impliziert monumentale Wirkung durch seine minimalistisch-theatralisch technoide Ästhetik. In der Perfektion der materiellen Ausführung strahlt die kühle Autorität des Werks etwas fetischhaftes aus. Als ein potentiell benutzbarer Ort liegt seine Funktion im Ambivalenten, obwohl alleine durch die räumliche Disposition der einzelnen Einrichtungsgegenstände klar hierarchisch gegliederte Verhältnisse von oben-unten, rechts-links bzw. vorne-hinten definiert werden. Daneben suggeriert der Hammer als ein Attribut der Macht, eine bestimmte Funktion des Settings als eine Art mobile Gerichtsbarkeit. Gygi schuf eine Infrastruktur, die in ihrer Form im bereits erwähnten Maße Hierarchisierungsmechanismen antizipiert, gleichzeitig aber keine Aussage macht über die Inhalte und die Struktur der Jurisdiktion, die hier zur Anwendung kommen soll. Das Zelt definiert einen autonomen Ort mit provisorischem Charakter. Als ein öffentlicher Ort impliziert er aktives Verhalten, bleibt aber auch ohne diese performative Dimension ein eindringliches Bild der Auseinandersetzung mit autoritären Instanzen. Im Zusammenspiel von Leere und Materialwirkung wird ein Melancholiepotential deutlich, das die Autorität des gesellschaftlichen Apparats und ihrer Institutionen in Bezug auf das Individuum metaphorisch charakterisiert. Das Provisorium als ein ortsungebundener aber gleichzeitig durch konkreten Funktion definierter Ort stellt die Absolutheit normativer Systeme in Frage. Fabrice Gygi schuf mit seinem »Tribunal« ein kraftvolles Bild, das, wie alle in der Ausstellung präsentierten Arbeiten, losgelöst von konkreten realpolitischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen, Gegenwart kritisch und sensibel reflektiert. Sie alle stellen Fragen und obwohl sie uns keine Antworten geben bringen sie uns dem Verständnis von Welt ein Stück näher.

on – OFF

veröffentlicht in: power, Ausst. Kat. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 1999

© 1999 Jan Winkelmann

Englische Version

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