Das Phänomen. Ein Portrait des jungen Schweizer Ausstellungsmachers Hans-Ulrich Obrist

Jan Winkelmann

Er ist 27 und Schweizer. Er spricht ein halbes Dutzend Sprachen fließend und wohnt zur Zeit in London, Paris und Wien. Er schläft nur zwei Stunden und trinkt 30 Espressi am Tag. Er ist Kurator im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, im museum in progress in Wien und hat mehr Telephonnummern als irgend jemand den ich kenne. Er ist Hans-Ulrich Obrist und hat in dem Alter, in denen die meisten Kunsthistoriker gerade ihr Studium beenden, bereits 42 Ausstellungen in acht Ländern kuratiert. Dies ist jene Art von Stoff, aus dem oftmals Legenden entstehen. In einigen Artikeln zu seiner Person wurde er bereits mit solchermaßen heroisierenden Attributen wie "genial", "talentiert" und "besessen" belegt. Vielleicht mag dies zutreffen, vielleicht auch nicht, Hans-Ulrich Obrist ist zumindest eines: ein Phänomen.
 

Angefangen hat alles im zarten Alter von 14 Jahren. Die Schule langweilte ihn, wie fast alle Kinder in diesem Alter. Statt sich für Fußball, Autos, Musik und andere Dinge zu interessieren, begann Obrist sich jedoch für die Kunst zu begeistern. Zuerst besuchte er Museen, Kunsthallen und Künstlerateliers in der Schweiz. Auf einer Klassenfahrt nach Paris schlug er die Adresse von Christian Boltanski im Telephonbuch nach und stattete ihm kurzerhand einen Besuch ab. In den Schulferien bereiste er 20 Städte in 20 Tagen. Tagsüber schaute er sich die wichtigsten Museen und Galerien an, die Nacht verbrachte er im Zug, auf dem Weg in die nächste Stadt. Seither ist er eigentlich immer unterwegs. Nahezu die ganze Welt hat er in den letzten zehn Jahren bereist und sich auf diese Weise ein fast enzyklopädisches Wissen rund um die zeitgenössische Kunst angeeignet.

Obrists erste Ausstellung World Soup fand 1991 in der Küche seiner St. Gallener Wohnung statt. Die Idee hierfür entstand in Gesprächen mit Christian Boltanski. Es ging ihm nicht darum, eine Ausstellung rund um die Themen "Essen" oder "Kochen" zu veranstalten. Obrist wollte vermeiden, was er das "Trüffelschwein-Syndrom" nennt: ein Thema mit Hilfe von Kunst zu illustrieren. Er wollte vielmehr eine Ausstellung an einem Ort machen, an dem üblicherweise keine Ausstellungen stattfinden. Das geschah wohlgemerkt nicht in kritischer Absicht und in Opposition zu traditionellen Ausstellungsformen, sondern als eine Art Ergänzung und Bereicherung dieser. Christian Boltanski, Fréderic Bruly Bouabré, Hans Peter Feldmann, Peter Fischli/David Weiss, Paul-Armand Gette, C. O. Paeffgen, Roman Signer und Richard Wentworth wurden eingeladen, auf den vorgegebenen Raum und Kontext zu reagieren. Die Küche sollte in ihrer Funktionsfähigkeit erhalten bleiben, und nicht zum reinen Ausstellungsraum umfunktioniert werden, was dazu führte, daß die einzelnen Werke die Zwischenräume bzw. Leerstellen der Küche besetzten. Innerhalb dieses Rahmens mußten sich die Arbeiten im Kontext der Alltäglichkeit einer Küche anders definieren als in einem für die Rezeption von Kunst vorgesehenen Ausstellungsraum.

Es mag zunächst einmal schwerfallen, Obrists Worten Glauben zu schenken, daß es ihm generell "um eine kritische Infragestellung der Personifizierung von Ausstellungen", im Sinne der inszenierten Goßausstellungen der 80er Jahre, wie Bilderstreit oder Metropolis, und "um ein weitgehendes Verschwinden des Kurators aus dem Verhältnis Betrachter Werk" geht. Die Küchenausstellung und die zwei Jahre später stattfindende Ausstellung Hôtel Carlton Palace Chambre 763, lebten gerade auch von dem Exotismus des Ausstellungsortes, der subjektiven Auswahl der Künstler und Präsentation der Werke und nicht zuletzt von dem persönlichen Engagement Obrists, der in diesem Rahmen nicht nur Kurator, sondern gleichzeitig auch Organisator, Aufseher und Führer in einem war. In diesem Sinne könnte die Ausstellung Hôtel Carlton Palace Chambre 763, in der in einem 12 qm großen Hotelzimmer Arbeiten von mehr als 70 Künstlern zu sehen waren, auch als eine ironische Antwort auf die oben genannten Mammutausstellungen gesehen werden. Dies nicht nur hinsichtlich der Tatsache, daß Obrist hier zeigte, wie man eine Ausstellung dieser Größenordnung zum einen ohne den infrastrukturellen Background einer Institution auf die Beine stellen kann, noch dazu ohne einen Ausstellungsetat in sechsstelliger Höhe und das alles auch noch auf nicht mehr als 12 qm.

Ausnahmslos alle ausgestellten Arbeiten standen in einem direkten Bezug zu dem Raum an sich oder den Konnotationen und Assoziationsfeldern des Ortes Hotel. Zum Teil gab es biographische Zusammenhänge, wie im Falle von On Kawara, von dem drei Zeichnungen zu sehen waren, die vor fast 30 Jahre in eben diesem Hotel entstanden sind. Andere Arbeiten glichen eher ephemeren, kaum wahrnehmbaren Eingriffen, wie jene von Maria Eichhorn, die die schummrige Deckenlampe durch eine Glühbirne mit maximaler Wattzahl austauschte. Lothar Baumgarten hatte in das Waschbecken eine Haarnadel gelegt, gleich einem fingierten Überbleibsel des letzten Besuchers und Eva Marisaldi tauschte die in jedem Hotelzimmer vorzufindende Bibel gegen eine Ausgabe des Koran aus. Neben diesen direkten Raumbezügen waren aber auch eine Vielzahl autonomer Arbeiten, wie Photos und Zeichnungen, zu sehen. Als eine Art Ausstellung in der Ausstellung fand zusätzlich die ArmoireShow statt. Anläßlich des 80. Jahrestages der legendären Armory Show von 1913 in New York wurden im Kleiderschrank (frz. armoire) Werke gezeigt, die sich im Spannungsfeld von Kleidung/ Mode und Kunst bewegen.

Eine weitere Ausstellung in einem Kontext in dem gewöhnlich keine Gegenwartskunst gezeigt wird, mit dem Unterschied, daß es sich hierbei um einen institutionellen Kontext handelte, war Cloaca Maxima, die 1994 im Museum der Stadtentwässerung in Zürich stattfand. Hier drehte sich alles rund um das Ausscheiden von Nahrungsmitteln, Defäkation, Toiletten und Kanalisation. Interessanter als der allzu didaktische theoretische Ansatz, daß Kunst "Möglichkeiten des Oszillierens vom Öffentlichen ins Private eröffnet und Exkremente von ihren Negativkonnotationen befreit" (Obrist) werden sollten, war die Tatsache, daß die ausgestellten Werke u. a. von Christian Boltanski, Gilbert & George, Mike Kelley, Gerhard Richter und Andreas Slominski mit Exponaten und Schautafeln aus der Sammlung des Museums kombiniert wurden. Die Werke waren dadurch aus dem geschlossenen System Galerie/Museum in einen sozio-kulturellen Zusammenhang gestellt, und auch innerhalb dessen, d. h. im Kontext von Urbanismus und ökologischer Fragestellungen wahrgenommen und rezipiert worden. Beispielhaft wird hier deutlich, wie Verschränkungen und Dialoge zwischen unterschiedlichen spezialisierten gesellschaftlichen Bereichen hergestellt werden konnte. Diesen "Dialog der Disziplinen" führte er in dem Projekt Art & Brain (1994) weiter fort. Im Rahmen der "Akademie zum dritten Jahrtausend" wurden anstatt der von Obrist erwarteten, einen Hirnforschungskongreß begleitenden Kunstausstellung Künstler und Wissenschaftler in das Forschungszentrum Jülich eingeladen, um einen interdisziplinären Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft ins Leben zu rufen.

Parallel zu dieser Art von Projekten hat Obrist sich aber immer auch mit konventionellen Ausstellungen innerhalb institutioneller Rahmen beschäftigt. So stellte er 1992 für das Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris gemeinsam mit Laurence Bosse Qui Quoi Où, eine große Übersichtsausstellung zeitgenössischer deutscher Kunst zusammen. Im selben Jahr und im gleichen Museum konzipierte er eine Hans-Peter Feldmann-Retrospektive und 1993 zusammen mit Kasper König die Ausstellung Der zerbrochene Spiegel, die in der Kunsthalle Wien und den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen war, in der verschiedene Positionen zum Thema Malerei präsentiert wurden. Mit Kasper König, der Obrist als "gleichberechtigten Partner" sieht, hat er bereits 1991 den Jahresring Nr. 38 mit dem Titel "Der öffentliche Blick" herausgegeben. Der Beginn von Obrists "nebenberuflicher" Tätigkeit als Herausgeber einer Vielzahl von Büchern, wie die Schriften und Interviews Gerhard Richters, ein Künstlerbuch von Fabrice Hybert und die in Kürze erscheinenden Bücher über Fischli/Weiss, Gilbert & George und Louise Bourgeois.

Abgesehen von der Ausstellungsreihe Migrateurs im Musée d'Art Moderne in Paris hier werden jeweils zwei Tage pro Woche kleine Einzelausstellungen innerhalb der ständigen Sammlung des Museums präsentiert scheinen jene Projekte weitaus interessanter als die eben beschriebenen konventionellen Ausstellungen, die außerhalb traditioneller Ausstellungsinstitutionen stattfanden. Die ersten dieser Art waren die vom museum in progress initiierte Ausstellungsreihe im Bordmagazin der Austrian Airlines. Es wurden Künstler eingeladen wie Alighero Boetti und Andreas Slominski, die jeweils eine Doppelseite des Bordmagazins SKY LINES gestalteten, die über einen Zeitraum von sechs Monaten geschaltet wurde und gleichzeitig auch als Puzzle bei den Flugbegleitern erhältlich war. Genau genommen findet hier eine Inversion des Ausstellungsbegriffs statt. Die Geschlossenheit des traditionellen Ausstellungsraumes weicht dem grenzenlosen öffentlichen Raum, das Original wird ersetzt von einer Reproduktion in einem Massenmedium und nicht zuletzt ändert sich das Verhältnis zum Rezipienten. Dieser geht nicht mehr zur Kunst, die Kunst kommt zu ihm. Völlig zurecht könnte hier nun der Einwand erfolgen, daß diese Charakteristika bereits Mitte der 80er Jahre in Werken von Künstlern wie Jenny Holzer, Barbara Kruger und Les Levine zu finden sind. Doch handelt es sich dabei um Bestandteile von Konzeptionen und Werken einzelner Künstler. Hier hingegen bilden sie die Konzeption einer Ausstellung und sind nicht notwendigerweise werkimmanente Bestandteile der ausgestellten Arbeiten.

Eine ähnliche Konzeption liegt der Ausstellungsreihe Vital Use zugrunde, die in einer Serie von fünf Projekten im Zeitraum von zwei Jahren (1994/95) realisiert wurde und ebenfalls im Rahmen der Aktivitäten des museum in progress in Wien stattfand. Ausgangspunkt für dieses "Museum ohne Mauern" ist die Beobachtung, "daß eine große, wenn nicht bestimmende Anzahl führender Künstler zumindest seit der Entstehung der Concept-art Ende der 60er Jahre in Medienbegriffen denkt" (Robert Fleck). Das mip organisiert in erster Linie Ausstellungen und Projekte in Massenmedien (Zeitungen, TV, Internet etc.), um "mitten in der gesellschaftlichen Realität zu operieren und nicht mehr geschützt zu sein durch einen weißen Ausstellungsraum". In der Tageszeitung Der Standard wurden von den Künstlern eigens für diese Ausstellung geschaffene Beiträge geschaltet, Die Zeitung mutierte zum "virtuellen Museum" und bot die "Möglichkeit, Ghettos zu durchbrechen und Kunst in andere Kontexte zu tragen. Kunst fließt ins Leben, das Leben in die Kunst. Grenzen werden porös." (Obrist).

So wie bei diesen Ausstellungen der Ausstellungsraum in den medialen öffentlichen Raum verlagert wurde, sind die festgelegten traditionellen Grenzen einer Museumsausstellung in der Ausstellung Take me (I'm yours), die Obrist 1995 für die Serpentine Gallery in London zusammengestellt hatte, gänzlich gesprengt worden. Die Idee war, eine Ausstellung zum Thema Dispersion zu machen, und der Frage nachzugehen, "ob es überhaupt möglich ist die Dispersion an einen Ort zu binden oder ob sie nicht besser in einem Printmedium aufgehoben ist" (Obrist). Erlaubt war, was gefiel und üblicherweise in Museen streng verboten ist. Der Besucher hatte die Gelegenheit die Ausstellungsobjekte zu berühren, zu benutzen, zu testen, zu kaufen oder gar mitzunehmen. Dies alles war nicht nur erlaubt, vielmehr war die aktive Teilnahme des Betrachters ein wesentlicher konzeptioneller Bestandteil vieler Werke. So konnte man sich an der Altkleider-Installation Boltanskis beliebig bedienen, hatte die Möglichkeit bei einem Preisausschreiben von Douglas Gordon ein Abendessen mit dem Künstler gewinnen, oder konnte sich auch einfach nur auf einer von Franz Wests Liegen ausruhen. Da viele der Arbeiten auf zwei Ebenen, zum einen als Alltagsgegenstände und andererseits als Kunstwerke funktionieren, wird hier nicht nur der Begriff des Kunstwerkes in seiner Funktion sondern auch in seinem Wertgehalt in Frage gestellt, ein heute weitverbreitetes Phänomen, bzw. Praxis gegenwärtiger künstlerischer Produktion. Eine ähnliche Überführung von Alltagsgegenständen in einen Kunstkontext wurde bereits von vielen Fluxus-Künstlern praktiziert. Der entscheidende Unterschied zu heute liegt darin begründet, daß damals ein Objekt, wenn es erst einmal in einen künstlerischen Kontext überführt und somit semantisch aufgeladen war, diesen Status behielt, wohingegen in der Ausstellung die doppelte Wertigkeit (Alltagsgegenstand/ Kunstwerk) a priori festgelegt ist. Ohne Take me (I'm yours) gesehen zu haben, fällt es schwer zu beurteilen, ob die theoretischen Ansätze in der Ausstellung nachzuvollziehen waren, oder ob der marktähnliche Trubel die Ausstellung wurde 50.000 Besucher gesehen dies von vornherein unmöglich machte, oder gar in das Gegenteil verkehrte.

Ähnliche Prämissen, die in der künstlerischen Produktion vieler junger Künstler wie beispielsweise im Werk Rirkrit Tiravanija zu finden sind so die Tatsache. daß der Begriff des Originals aufgegeben wird und Gegenstände und Handlungen des täglichen Lebens als Ausgangspunkt und/oder Arbeitsmaterial dienen liegen der Ausstellung Do it zugrunde. Do it ist eine Wanderausstellung, die nicht aus Kunstwerken, sondern aus Handlungsanweisungen zur Herstellung von Kunstwerken besteht, wie beispielsweise "Get 180 lbs of a local wrapped candy and drop in a corner" von Felix Gonzalez-Torres, die von der jeweiligen Institution ausgeführt werden. Es handelt sich hierbei um ein neuartiges, offenes Ausstellungsmodell, das nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist und lediglich einen Rahmen vorgibt, der auf jeweils unterschiedliche Weise gefüllt wird, denn "zwei umgesetzte Versionen sind nie identisch. Mit der Anweisung strömt das spezifische, alltägliche, profane Umfeld in den Ausstellungsraum ein, so daß die Grenzen zwischen Außen- und Innenraum porös werden." (Obrist) Auch hier bildet eine künstlerische Strategie den Ausgangspunkt, die bei Duchamp ihren Anfang hatte und über Fluxus zur Concept-art reichen, in ihrer Spezifität und Notwendigkeit jedoch in der heutigen Kunstdiskussion gründet. Vom konzeptionellen Ansatz ähnlich interessant wie Take me (I'm yours), ist es auch hier gedanklich nur schwer vorstellbar, ob und inwiefern dessen Umsetzung als Ausstellung, d. h. als Exponate im Raum, funktionierte.

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Unterschiede dieser ausgewählten Beispiele sowohl inhaltlich-konzeptioneller Art, als auch bezüglich der Form des Endproduktes Ausstellung scheint es kaum möglich Obrist auf eine bestimmte Vorgehensweise festlegen und his way of curating definieren zu können. Er selbst unterscheidet seine Ausstellungen in vier verschiedene Kategorien. Zum einen Ausstellungen in Institutionen für Gegenwartskunst (Museen, Kunsthallen etc.). Zweitens Ausstellungen in Kontexten, in denen üblicherweise keine Gegenwartskunst gezeigt wird wobei hier ein Unterschied zwischen institutionellen Kontexten und nichtinstitutionellen Kontexten besteht . Dabei können sie einerseits als Ergänzung des bestehenden Rahmens, andererseits aber auch als Störfaktor wirksam werden, der den vorgegebenen Kontext radikal in Frage stellt oder erweitert und Hierarchien umordnet. Drittens Ausstellungen in selbstbegründeten Strukturen, im Sinne einer, wie er es nennt "institutionellen Fiktion" oder "fiktionalen Institution" als Beispiel hierfür ist das Robert Walser Museum zu nennen, das aus einer Ausstellungsvitrine besteht, die von 1992 bis 1994 im Hotel zur Krone in Gais/Schweiz zu sehen war und "auf Wanderschaft" in andere Städte wie Berlin und Paris geht, und für jeweils einen Monat von einem Künstler bestückt wurde (u. a. Roman Signer, Fabrice Hybert und Heimo Zobernig). Und zuletzt mobile Ausstellungen, die nicht mehr an einen einzigen bzw. bestimmten Ort gebunden sind.

Der eingangs erwähnte Zweifel an Obrists Haltung ("Mir geht es um eine kritische Infragestellung der Personifizierung von Ausstellungen") zielt vordergründig in die gleiche Richtung jener immer öfter gestellten Frage, ob Obrists Aktivitäten möglicherweise nicht doch eher künstlerischer, denn kuratorischer Praxis gleichen. Oberflächlich gesehen mag dies zutreffen, wenn man einzelne Ausstellungen auf ihre Exotismen (ungewöhnliche Orte, Themen, Formen) reduziert. Überflüssig wird dieser Vorwurf jedoch, wenn man die Konsequenz und Stringenz betrachtet, mit der Obrist den Begriff Ausstellung immer wieder einer kritischen Prüfung unterzieht bzw. von Projekt zu Projekt neu definiert, indem er die traditionellen Parameter, die eine konventionelle Ausstellung determinieren (Exponate in einem zur Rezeption von Kunstwerken vorgesehenen Raum) ganz oder in ihren Einzelteilen in Frage stellt, umbewertet, auflöst oder ersetzt. Sei es, wie bei Vital Use, daß der geschlossene Ausstellungsraum durch den öffentlichen Medienraum ersetzt wird oder daß der klassische Ausstellungsraum beibehalten wird, die Exponate aber nicht mehr den tradierten Vorstellungen entsprechen (Take me (I'm yours) und Do it). Daß diese Formen von Ausstellungen nicht unbedingt neu sind und in der ein oder anderen ähnlichen Form bereits zu sehen waren, macht Obrists nicht unbedingt zum Plagiaten. Ähnlich wie bei künstlerischen Konzepten Rückgriffe und Anleihen in der Vergangenheit gängige Praxis sind (erwähnt sei hier das oben genannte Beispiel gewisser Parallelen von zeitgenössischer Kunst mit den Ansätzen und Kon zepten der Fluxus-Künstler), gilt dies auch für Ausstellungen. Insbesondere dann, wenn, wie bei Obrists Vorgehen der Fall, der Ausgangspunkt für eine Ausstellung die zeitgenössische Kunstproduktion und nicht ein intellektuelles Konstrukt (siehe das anfangs erwähnte "Trüffelschwein-Syndrom") ist. Man könnte einen zugegebenermaßen gewagten Vergleich zu Gerhard Richters künstlerischer Praxis anstellen. So wie dieser, vereinfacht gesprochen, die Malerei durch die Malerei einer andauernden Prüfung und Reflektion unterzieht, die oftmals in zueinander gegensätzliche formale Lösungen mündet, erforscht und analysiert Obrist das Feld Ausstellungen auf unterschiedliche Weise. Hierbei ist er nicht auf der Suche nach der ultimativen zeitgemäßen Form einer Ausstellung, sondern begreift das "Ausstellungsmachen" als ein Experimentierfeld im Sinne jenes von ihm sehr oft zitierten und leicht abgewandelten Wortes von Marcel Broodthaers: "Jede Wahrheit ist von anderen Wahrheiten umgeben, die es wert sind, erforscht zu werden."

in holländischer Sprache veröffentlicht in: Metropolis M. Tijdschrift over hedendaagse kunst, No. 1, Februar 1996

© 1996 Jan Winkelmann

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