Moving Images. Film – Reflexion in der Kunst

Dirk Luckow, Jan Winkelmann

Der traditionelle, klassische Kinofilm hat sich frühzeitig zu einem modernen Massenprodukt entwickelt und die Unterhaltungsindustrie im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt. Das Kino spielt, ganz ähnlich wie die Pop-Musik, eine tragende Rolle bei der Konstitution dessen, was man landläufig als ›kollektives kulturelles Gedächtnis‹ bezeichnet bzw. was man als ein Bewußtsein davon umschreiben könnte. Genau genommen sind mit dem Kino die Künste ›massenkompatibel‹ geworden bzw. kann es als ein verbindendes Element der unterschiedlichen bisweilen nur sporadisch sich berührenden kulturellen Disziplinen verstanden werden. Im Film vereinigen sie sich alle: Bildende Kunst, Literatur, Schauspiel, Theater, Musik, Architektur. Ohne diese Amalgamierungen und synästhetischen Einflüsse wären die Meisterwerke des frühen Films genauso wenig denkbar wie ihre katalysatorischen Wirkungen über den Bereich der Filmkunst hinaus. Ihre Rolle als ›kollektives Gedächtnis‹ schrieb der Film sich indessen nicht selbst zu, sondern rekurriert auf dem ihm aus kommerziellen Aspekten inhärenten Wesensmerkmal der universellen Verfügbarkeit bzw. internationalen Präsenz. Vor diesem Hintergrund nimmt kaum Wunder, daß das Kino wiederum als Reservoir begriffen wird, aus dem die Künstler – vor allem in den neunziger Jahren – schöpfen, und das somit gleichermaßen wieder zum Ausgangspunkt für bildkünstlerisches Schaffen wird.

Im Vergleich zum Kino fällt ein Grundzug der bildenden Kunst ins Auge: ihr Verlangen, das Publikum in einer emotional-sinnlichen Art und Weise zu erreichen, wie es das Kino tut, und gleichzeitig ihr Anspruch, sich den Spielregeln des verwertbaren Konsumkontextes und der Unmittelbarkeit eines solchen Austausches zu entziehen. Entsprechend lag in der Massenwirkung des Kinos von Beginn seiner Entwicklung an eine Herausforderung an die Kunst, ihr Selbstverständnis zu überdenken, aus dem Elfenbeinturm eines elitären Diskurses herauszutreten und sich insbesondere mit der Rolle des Publikums für die Bedeutung des Werkes zu beschäftigen. Die Kunst war ihrerseits immer auch eine Inspirationsquelle für das Kino und zugleich kritisches Paradigma in der historischen Entwicklung des Films.

In den neunziger Jahren verzeichnet man eine zunehmende Auseinandersetzung der Kunst mit dem Kino, deren Facetten in der Ausstellung »Moving Images« gezeigt werden. In Abgrenzung zum konzeptuellen Avantgarde-Film der sechziger und siebziger Jahre bezieht sich die Künstlergeneration der neunziger Jahre direkt auf die klassischen Film-Genres, die Konstruktionen, Erzählstrukturen und Ästhetiken des Films, ohne notwendigerweise das Medium selbst zu nutzen. Die Gründe für die weitreichende Reflexion von Kino in der gegenwärtigen Kunst (ganz zu schweigen von den vielen hier nicht berücksichtigten künstlerischen Positionen, die selbst mit Film arbeiten) liegen aber nicht nur in dem tief verankerten Wissen um die erwähnte Anziehungskraft des Kinos. Zweifellos zieht mit diesen vielseitigen Bezugnahmen auf das Medium Film etwas vom Glanz Hollywoods, der Aura des Films, seiner mythologischen Ausstrahlung in die zeitgenössische Kunst ein und damit das überwältigende, Massen eindrücklich erfahrbare Bild und die Faszination ›Kino‹. Doch vor allem wird das Kino als ein komplexes Bilder- und Zeichensystem verstanden, das kulturelle Übertragungen und Rückkopplungen des alltäglichen Verhaltens und kollektiven Gedächtnisses in sich vereint. Über die Beziehung zum Kino scheint es möglich, und hierin ist die Motivation der Kunst zu suchen, künstlerische und nichtkünstlerische Diskurse miteinander zu verbinden.

Wenn man die filmischen Quellen kategorisieren wollte, so ließe sich zum einen unterscheiden zwischen der Bezugnahme auf Ausgangsmaterial à la Hollywood, auf Ikonen und typische Szenen der kalifornischen Traumfabrik und zum anderen auf Klassiker früherer Filmepochen wie die Filme des italienischen Neorealismus, der Nouvelle Vague, oder auf Regisseure wie Alfred Hitchcock und Rainer Werner Fassbinder. Zu den ersten KünstlerInnen, die mit Kino-Reflexionen gearbeitet haben, zählen Cindy Sherman mit ihren »Untitled Film Stills« Photographien (1977-1980), in denen die Künstlerin in verschiedenen Frauenrollen, die aus Filmen der fünfziger und sechziger Jahre stammen könnten, auftritt. Und andererseits Dan Graham mit der Einverleibung des New Wave Cinemas in seine ansonsten am Minimalismus und der Pop Art orientierte Kunst. Videokassetten mit Filmen von Michelangelo Antonioni oder Jean-Luc Godard waren zum Beispiel 1984 in Grahams Ausstellung »Interior Design for Space« integriert. Das Kino selbst blickt auf eine Tradition der Dekonstruktion und Reflexion seiner Mittel und Geschichte zurück. Dies visualisierte die Installation von Graham. Darüber hinaus knüpfte er an die kritische Rezeption des Films in der Filmtheorie und im Avantgardefilm an.

Von der zeitgenössischen Kunst wird ein direkter Bezug auf die Film- und Kinopraxis genommen. Die künstlerische Freiheit erlaubt es hierbei, sich sowohl von dem Material leiten zu lassen, als auch das Material mittels Verschiebungen und Übertretungen ambivalenten Betrachtungsweisen zu unterziehen. Befreit vom ›Apparat‹ Kino wird eine vertiefende Überprüfung der filmischen wie der künstlerischen Ebenen mit vielfältigen Interpretationen ermöglicht. Die im Kino klischeehaft wiedergegebenen Repräsentationsmuster und Identitätsmodelle werden hinterfragt und ›Remakes‹ von Filmszenen erstellt, um ihren Konstruktionscharakter und ihre Symbolik zu durchleuchten. Im Versuch, unser Zeit- und Raumempfinden zu sensibilisieren, werden Kinobild und -bildbedeutung verändert vorgestellt. In diesen Formen der Bildverschränkungen und der künstlerischen Reflexion des Films tritt ein überraschender Sublimierungseffekt der Bilder ein, voller unterschwelliger Aufschlüsselungen, verborgener Stimmungen und auch Ungewißheiten, die die Reflexion an den Betrachter selbst zurückführen.

Um der Weite des Feldes Kino und seiner Reflexion in der gegenwärtigen Kunst eine überschaubare, vermittelbare Struktur zu geben, führt die Ausstellung »Moving Images« vier Rubriken ein: »Kinematographische Bildsprache«, »Filmische Ikonographie«, »Struktur von Film« und »Institution Kino«.

»Kinematographische Bildsprache«
Der Kinofilm hat im Gegensatz zum Avantgardefilm der zwanziger Jahre und dem Experimentalfilm der sechziger Jahre nicht zuletzt aufgrund seiner Erzählstruktur ein ganz eigenes Repertoire an ästhetischen Bildmitteln entwickelt, das für die Umsetzung der narrativen Inhalte notwendig ist. Neben die filmspezifischen wie Kameraführung, Schnitt bzw. Montage treten allgemein dramaturgische Techniken, wie sie auch im Bereich des Theaters Verwendung finden, jedoch in Filmen anders eingesetzt werden: Beleuchtung, Musik, Requisiten und nicht zuletzt die Schauspieler. Im Zusammenspiel aller wurde mit dem Film eine spezifische Ästhetik geschaffen, die nicht zuletzt aufgrund der Komplexität der mit ihr zu vermittelnden Inhalte von vielen Künstlern genutzt wird.

Neben der Erfahrung von Zeit ergaben sich im Film durch die Entwicklung der Montagetechniken Möglichkeiten (beispielsweise durch Verkürzungen, Rückblendungen u.a.), das Zeitkontinuum des Betrachters mit einer zeitlichen Diskontinuität im Film zu durchbrechen. Sam Taylor Wood erreicht in ihrer mehrteiligen Fotoserie »Five Revolutionary Seconds« diese filmspezifische ›Errungenschaft‹ der Parallelität und Gleichzeitigkeit von Ereignissen, wie sie im Film nur durch den Schnitt möglich ist, durch einen panoramaartigen 360°-Schwenk der Fotokamera. Das extreme Querformat ihrer Interieurszenen scheint das Format des Cinemascope fast überspitzt wiederzugeben. Die Gleichzeitigkeit der isoliert voneinander im Raum ablaufenden Handlungen evozieren eine narrative Struktur, die jedoch nicht eingelöst wird. Die szenischen Collagen bleiben fragmentarisch.

Mark Lewis‘ Film »Centrale« (1999) kreiert beim Betrachter eine ähnliche Erwartungshaltung. Durch das Setting wird ein Spannungsbogen erzeugt, der ins Leere läuft, bis man realisiert, daß die Situation der beiden vor dem Fenster eines Cafés wartenden Personen eine Konstruktion ist, die auf einem einfachen filmischen Trick bzw. einer optischen Täuschung basiert. Eine der Wesensmerkmale des Films, die Korrespondenz von Fiktion und Wirklichkeit, wird hier auf einfache Weise dem Betrachter vor Augen geführt. Einen Schritt weiter geht Barbara Bloom mit ihrem Filmtrailer »The Diamond Lane« (1981), der während der Ausstellung in der Leipziger Schaubühne im Lindenfels im regulären Werbeblock zu sehen ist. »The Diamond Lane« kündigt einen Thriller an, der nie gedreht wurde. Die Künstlerin nutzt hierbei alle kinematographischen Mittel, um die Imagination so realistisch wie möglich zu gestalten. Das geweckte Interesse wird jedoch nicht befriedigt, die Ankündigung wird somit zum eigentlichen Film. Da der Film, selbst wenn er existierte, per se eine Fiktion ist, wird Blooms Trailer zur Fiktion von Fiktion.

Auch Stan Douglas greift mit seinen »Monodramas« (1991) auf eine dem Kino entlehnte Ästhetik zurück, wobei hier der Übergang vom Film- zum Fernsehclip fließend ist. Ihre linear narrativen Strukturen sind einer dramaturgischen Rhethorik (Anfang-Mitte-Ende) entlehnt und wirken, obwohl nur 30 bis 60 Sekunden lang, wie kleine Filme, was durch ihren Aufbau mit maximal einsekündigen Einzelsequenzen erreicht wird. Mit den Filmen, die ursprünglich für das Fernsehen produziert worden sind, wo sie in kommerziellen Werbeblöcken gesendet wurden, findet sich der Betrachter zunächst der vertrauten Fernseh-Ästhetik gegenüber, die jedoch durch die Vermengung der unterschiedlichen Filmsprachen gebrochen wird.

»Filmische Ikonographie«
Die in der Ausstellung vertretenen Künstler, die sich in ihren Werken auf bereits existierende Filme beziehen bzw. diese als Ausgangs- respektive Referenzpunkt ihrer Arbeiten nutzen, werden unter dem traditionellen, der Kunstwissenschaft entlehnten Begriff der Ikonographie subsumiert. Hierbei reichen die Zugriffe von direkter Übernahme filmischen Materials über das Herausgreifen und Isolieren bestimmter Handlungsabläufe oder Personen bis hin zu Rekonstruktionen von und Eingriffen in das filmische Vorbild.

Vanessa Beecrofts Video »Ein blonder Traum« (1994) dokumentiert eine ihrer ersten Performances, in der sie mehrere Mädchen mit Hilfe von Perücken und Kleidungsstücken eines Teils ihrer individuellen äußeren Erscheinung beraubt, um sie analog einer ikonographischen Referenz visuell ›gleichzuschalten‹ und durch ihre multiplizierte Erscheinung ein szenisches, bewegtes Bild und gleichsam einen psychologischen Raum der ›Nicht-Handlung‹ zu schaffen. In diesem Fall bezieht sich Beecroft auf die Filmfigur des Edmund aus Roberto Rosselinis neorealistischer Triologie »Deutschland im Jahre Null« (1947). Die Künstlerin überträgt die psychologische Vereinsamung des blonden Jungen indem sie die Figur bildhaft ›isoliert‹ und verstärkt diese ins fast Unerträgliche durch die 30fache Multiplikation der kostümierten, untereinander nicht kommunizierenden, beziehungslosen Mädchen im Galerieraum. Durch den Rückgriff auf eine Filmfigur und der Reinszenierung dieses ›Zitats‹ in einem anderen Kontext wird eine Verdopplung der Inszenierung erreicht, die gleichzeitig über die Referenz hinaus auf die Wirklichkeit verweist.

In ähnlicher Weise gelingt es Isabell Heimerdinger, mit ihren »Interiors« (1997) einen psychologisierenden Raum von beklemmender Leere und Isolation zu schaffen. Mit Hilfe digitaler Retuschiertechnik wurden aus Stills bekannter Filme des Neo-American Gothic Genre, wie »Shining« oder »Blue Velvet«, die Schauspieler entfernt. Auf diese Art ihres narrativen Inhalts entkleidet, entsteht eine Art visuelles Vakuum, das den Blick auf die Inszenierung des Raums mit Hilfe der Lichtregie und der vorgegebenen Blickwinkel öffnet. Die Bedeutung des Interieurs als wichtiges stilistisches Mittel der spezifischen Inszenierung im Film wird somit erkenn- und nachvollziehbar. Die ›Mechanik‹ der Manipulation und Konstruktion bestimmter psychologisierender Befindlichkeiten mit filmischen Mitteln ist als solche lesbar und in ihrer Wirkungsweise seziert bzw. offengelegt.

Neben diesen Elementen, die die Künstlichkeit und Inszenierung des Films in ihrer Konstruktion vorführen und entlarven, gehen einige der Künstler darüber hinaus und fokussieren in ihren Arbeiten die Funktion des Kinos als ein Ort der Träume und ›Heile Welt‹-Konstruktionen, wie es der Begriff ›Traumfabrik Hollywood‹ sinnfällig nahelegt, wobei nicht nur die amerikanische Filmindustrie gemeint ist, sondern dieser Begriff als Synonym für das Kino der Sehnsüchte und Gefühle schlechthin steht.

In Klaus vom Bruchs Arbeit »Kino.Kino« wird diese Utopie einer ›heilen‹ und ›guten‹ Welt auf eindringliche Weise vor Augen geführt. In einer unendlichen Drehbewegung tanzen und steppen Fred Astaire und Ginger Rogers im Kreis. Durch die Drehung der Projektionen selbst entsteht eine Verdopplung und damit eine zusätzliche Dynamik der Kreisbewegung. Die Konstruktionsmechanismen von ›Heiler Welt‹, wie sie vorzugsweise in den Hollywood-Film-Musicals der vierziger Jahre zu finden sind, werden durch die unendliche Bewegung ad absurdum geführt und mit Einblendungen von Arbeitern aus der Rüstungsindustrie als ein Konstrukt, das die Realität für einen kurzen Moment vergessen lassen soll, dekonstruiert. Auf ganz ähnliche Weise konterkariert Andreas M. Kaufmann mit »Kiss« (1994/95) einen der berühmtesten Küsse der Filmgeschichte von Kim Novak und James Stewart in Hitchcocks Thriller »Vertigo«, indem er die spezifische formale Anlage der Filmszene zum Ausgangspunkt seiner Präsentation macht. Das filmtechnisch Besondere und bis heute Einzigartige ist die Aufnahme mit einer langsamen 360°-Drehung um das sich küssende Paar. Das Leidenschaftliche des Kusses wird durch die filmische Umsetzung zusätzlich verstärkt. Kaufmann projiziert diese Szene mit einem sich drehenden Videoprojektor in den Raum. Durch die Synchronisation der Bewegung von Film-Kamera und Projektor ist auf dem selben Wandstück immer die gleiche filmische Situation zu sehen. Die durch die Drehung der Kamera entstehende Dynamik erscheint durch die Rotation des Projektors aufgehoben, wobei die Bewegung der Projektion an sich den Raum zusätzlich dynamisiert. Hier wird mit dem Herauslösen einer bestimmten Szene aus ihrem Gesamtzusammenhang ein Aufbrechen der für den Kinofilm wesensimmanenten linearen Erzählstruktur erreicht. Gleichzeitig bleibt ein weiterer wesentlicher, damit verbundener Parameter erhalten: die Erfahrung des Werkes in der Zeit. Die damit verbundenen Wahrnehmungskonventionen werden auch bei David Reed in ihrer illusionsgenerierenden Konstruktion auf subtile Weise entlarvt. Im Rückgriff auf die gleiche Filmszene wie in der Arbeit von Kaufmann, wird in »Judy’s Bedroom« das Hotelzimmer, in dem der zuvor erwähnte Kuß stattfindet, rekonstruiert. Auf einem Monitor ist der Ausschnitt aus dem Film zu sehen, der ihre ungleiche Kußszene darstellt. Eingescannt in Hitchcocks Film erkennt man das Gemälde Reeds auf der Wand im Hintergrund des gefilmten Zimmers, das auch über dem Bett im Ausstellungsraum hängt. Die Entschlüsselung des Plots zwischen Malerei und Film, Desillusionierung und erneuter Illusionserzeugung scheint einen endlosen Prozeß zu durchlaufen. Filmische bzw. außerfilmische Realität treten sich in einem ununterscheidbaren Vexierspiel gegenüber. In Pierre Huyghes »Remake« (1995) werden ähnliche Fragen nach der Konstruktion von Realität thematisiert. Das mit einfachsten Mitteln und Laiendarstellern in Handlung und Dialogen identisch nachgedrehte Remake von Hitchcocks »Fenster zum Hof« stellt nicht nur die Kategorie von Original und Kopie zur Disposition, vielmehr wird hier die Wahrnehmung und die Erwartungshaltung des Betrachters hinterfragt. Der Film selbst ist seiner spezifischen Aura entkleidet und auf seine Handlung reduziert. Keine charismatischen Schauspieler, keine professionelle Kamera und gezielt eingesetzte Lichtregie fesseln den Betrachter, die linguistischen und kinematographischen Strukturen sind lediglich vom Original geborgt.

Wo Reed und Huyghe die Künstlichkeit und Konstruktion der Welt im Film schlechthin offenlegen, werden bei »Heidi« (1992) von Paul McCarthy/Mike Kelley und Florian Wüsts »Re.edit Winnetou« (1998) die von der Filmindustrie sorgsam inszenierten Klischees und Weltbilder, wie sie vor allem in den romantischen Idyllen von Berg- und Naturfilmen der deutschen Filmindustrie zelebriert werden, entlarvt. Sowohl »Heidi« als auch »Winnetou« liegen als Verfilmungen von Kinderbüchern bzw. Jugendliteratur bereits relativ einfach gestrickte, spezifisch codierte Muster von Gut und Böse bzw. Recht und Unrecht zugrunde. Die imaginative Kraft der detaillierten Naturbeschreibungen im Roman wurden in beiden Verfilmungen mit stereotypischen Natur- und Landschaftsbildern umgesetzt. In McCarthys und Kelleys ›Re-Inszenierung‹ von »Heidi« werden diese alpinen Klischeebilder in einer zynischen Trash-Parodie ironisiert. Wüst setzt die standardisierte Naturromantik mit männlichen Helden- und Abenteuerphantasien gleich, wie sie vor allem in den Karl May-Verfilmungen, aber auch in anderen Heimatfilmen der sechziger und siebziger Jahre vermittelt wurden, und entlarvt diese als spezifische romantische Konstruktionen deutscher Filmindustrie aus dieser Zeit.

Im Vergleich dazu werden in den Arbeiten von Rirkrit Tiravanija und Christian Philipp Müller die beiden Filme (Fassbinders »Angst essen Seele« auf im ersten, und »Anders als du und ich« von Veith Harlan im zweiten Falle) weniger einer kritischen Analyse unterzogen, da in den Filmen selbst bereits ein gewisses gesellschaftskritisches Potential vorgegeben ist, wie sie als Spiegel gesellschaftlicher Realität für die Autorenfilme vor allem der sechziger Jahre typisch waren. Tiravanija reflektiert die Ausländerproblematik, wie sie in Fassbinders Film pointiert dargestellt wird, vor allem als ein auf Vorurteilen und Ignoranz basierendes Problem, das sich in erster Linie auf fehlender bzw. mangelhafter Kommunikation gründet. Müllers »Vergessene Zukunft« (1992) dokumentiert hingegen einen aus heutiger Sicht lächerlich erscheinenden Skandal um Veit Harlans Film »Anders als du und ich«, der 1957 als einer der ersten Filme die männliche Homosexualität thematisierte und dadurch eine höchst emotional geführte Moraldebatte auslöste, die letztlich die Zensoren auf den Plan rief.

Werner Kaligofskys Fotoserie »Lucy, 1941« (1994) greift mit seinem Bezug zu Orson Welles‘ Film »The Magnificant Ambersons«, einer anschaulichen Darstellung des Ruhms und Niedergangs einer amerikanischen Familien-Dynastie, einen weiteren gesellschaftskritischen Aspekt auf, der vor allem im Vor- und Abspann des Films durch das in Szene setzen und die Darstellung der zur Produktion des Films notwendigen Mittel (wie Kamera, Mischpult, Mikrophon) eine Entsprechung findet.

»Struktur von Film«
Verschiedene Beiträge der Ausstellung setzen sich wörtlich genommen mit der »Struktur von Film«, oder dem, was den Film im Sinne versteckter Typisierungen oder Standardisierungen prägt, auseinander. Der Begriff ›Struktur‹ bedeutet hier kein Rückgriff auf philosophische Termini. Diese filmischen oder photographischen Beiträge nehmen den Charakter von systematischen Untersuchungen an und sind als wirkungsvolle Rekonstruktionen der eigenen kulturellen Geschichte verstehbar. Filmbilder erscheinen hierbei wie auseinandergenommen und neu geordnet, um sich auf diese Weise gegenläufigen Interpretationen zu öffnen oder ihre Festlegungen des Menschenbildes zu entlarven oder visuelle Sprachformen als Bedeutungsträger zu pointieren. Schon der strukturelle Film der sechziger Jahre und einige seiner Vorläufer interessierten sich für Vorspannzahlen (zum Beispiel Bruce Connor in »A Movie«, 1958) wie auch Margreiter, Poledna und Zobernig mit der Arbeit »Film Titel Video« von 1996. In der Regel aber untersuchte der strukturelle Film, zu dem auch frühe Filme von Andy Warhol zählen, vor allem das, was man als rein filmische Ausdruckswerte begreift, als sich überschneidende Formen primärer optischer und akustischer Erfahrung. In Abgrenzung zu diesen basieren die Werke aus den neunziger Jahren auf der planmäßigen Auswertung historischen Filmmaterials in der Form von Materialsammlungen und visuellen Zitaten, die durch das bloße Nebeneinanderstellen ihre unterliegenden kulturellen oder gesellschaftlichen Parameter aufdecken.

So lenkt das Video »Do You Really Want It That Much?« – »...More!« von Eichelmann, Faiers und Rust den Blick auf die gesellschaftliche Rollenzuschreibung von Kunst und ihren Institutionen, den Galerien, Kunsthallen und Museen, wie sie in vielen Darstellungen von Mainstreamfilmen erfolgt. Sie zeigen die Diskrepanz auf, die zwischen künstlerischem Anliegen einerseits und der banalen Rezeption und sich klischeehaft entwickelnder Vorstellungen im Umgang mit Kunst andererseits liegt; Spiegel allgemein gesellschaftlichen Verhaltens. Monica Bonvicinis Video-Installation »Destroy She Said« (1998) reflektiert unter Bezugnahme auf feministische Filmtheorie und mit Filmbeispielen aus den sechziger und siebziger Jahren Klischees über Frauen anhand ihres Verhaltens zu Architektur. Diese Arbeit korrespondiert mit anderen Werken der Künstlerin, in denen ebenfalls innenarchitektonische Situationen für bestimmte Funktions- und Verhaltensweisen prädestiniert erscheinen. Bonvicini verdichtet hierbei gewalttätige oder auch sexuelle Reaktionen von Frauen gegenüber den sie umgebenden räumlichen Strukturen, die als Ausbruchversuche oder als Zeichen von Unterdrückung gewertet werden können. Eine leicht schräge Projektionswand irritiert zusätzlich das Identitätsgefüge zwischen Dargestelltem und Darstellung. Margreiters, Polednas und Zobernigs erwähnte Arbeit »Film Titel Video« vereint Gestaltungen von Filmtitelsequenzen nach den in ihnen enthaltenen Mustern und stilistischen Zuordnungen in ihren unterschiedlichen Layout-Prinzipien und schafft eine eigene, präzise Sprache, die nicht zuletzt Wiener Tradition und Vorliebe an der formalen Gestaltung und dem Interesse der darin liegenden chiffrenartigen Bedeutung spiegelt.

Mark Lewis betont, daß er sich explizit mit jenen filmtypischen Momenten in seinen Arbeiten auseinandersetzt, die sich gerade deswegen als Filmerfindungen herausstellen, weil der Film eine tiefverwurzelte parasitäre Beziehung zu anderen älteren Gattungen wie dem Theater oder der Novelle habe, sich aber in diesen entscheidenden Momenten davon abgrenzt. Lewis ahmt in seinen filmischen Arbeiten Standards aus dem TV- oder Filmbereich nach und entwickelt eigene Bildsequenzen. In der Folge erscheinen sie zugleich als kinematographische Sprache und Struktur seiner Filme. In »Upside Down Touch of Evil« von 1997, einem Remake von Orson Welles’ Auftaktszene zu »Touch of Evil« aus dem Jahr 1957, kommt er in seiner Kameraführung der Tatsache nach, daß die Kamera die Dinge, die sie filmt, als eine auf dem Kopf stehende Bildsequenz empfängt, wodurch Lewis die der Bildfolge unterliegende Konstruktion des Films sichtbar macht.

Ebenso greift Sharon Lockhart in ihren Photographien und Filmen manipulierend in die Struktur von filmischen Bilderzählungen ein. Sie arbeitet mit Spezialeffekten und Nachstellungen wie zum Beispiel einer Kußszene aus François Truffauts »L’Argent de Poche« von 1976. Die jugendlichen ›Akteure‹, die diese Szene nachspielen, entfremden sich von ihren Rollen, indem ihre Emotionen und Unsicherheiten selbst in den Vordergrund treten und zu einer gebrochenen Wahrnehmung zwischen fiktiver, filmischer und der ›wahren‹ Realität führen.

»Institution Kino«
Andere Beiträge der Ausstellung beziehen sich auf die »Institution Kino« als gesellschaftlichem Bedeutungsträger, als betriebswirtschaftlicher Machtfaktor, modernem ›Wallfahrtsort‹ oder als sozialer Begegnungsstätte. Nicht das Filmzitat oder der Transfer typisch kinematographischer Bildsprachen, sondern Kinogeschichte, Kinomythos, die kulturelle Position des Kinos, schließlich das Filmtheater als räumlich wahrgenommener Ort bilden Ausgangspunkte der hier versammelten Arbeiten. In Douglas Gordons »Words and Pictures, Part 1« von 1996 werden wir auf den unerwarteten Zusammenhang zwischen seinem eigenen pränatalen Zustand und einer Kino-Chronologie von Glasgow, der Heimatstadt Gordons, gestoßen. Der Künstler präsentiert eine Video-Bibliothek von Filmen, die im Jahr 1966 in Glasgow während der Schwangerschaft seiner Mutter mit ihm zu sehen waren. Es erhebt sich, ironisch oder nicht, die Frage nach seiner eigenen biographischen Prägung als Filmbesessener, der schon als Ungeborener von Filmen geformt wurde, als seine Mutter möglicherweise im Kino saß. Gordon konstruiert hier die Vorstellung von archetypischen oder sphärischen Auswirkungen des Kinos auf Körper und Seele seiner Zuschauer. Zugleich ruft er das Kino als zeitgebundenes, historisches Phänomen ins Gedächtnis. Nicht weniger scheint das Projekt »cinema CASINO« von Olaf Nicolai als eine Referenz an seine persönliche Formung und Entwicklung in der DDR interpretierbar zu sein. Zumindestens faßt er Kino ebenso als bewußtseinsprägend auf, indem er Fred Gehler, den Leiter des des Internationalen Dokumentar- und Animationsfilmfestivals Leipzig, bat, ein Filmprogramm für die Laufzeit von »Moving Images« zusammenzustellen, das zu »Exkursen über das kinematographische Denken« (Gehler) einlädt. In Leipzig leitete Fred Gehler zu Zeiten der DDR ein bedeutendes Programmkino und galt als eine Institution für sein filminteressiertes Publikum als er zwischen 1968 und 1990 jeweils die vorgeführten Filme anmoderierte.

Isabell Heimerdingers Beitrag »Admit One« verlegt in sehr direkter Weise ihr Thema auf die Ritualien außerhalb des Films, wie das Kartenabreißen und das Warten auf Einlaß. Mit einer einzigen Geste, dem Zerstreuen einer unüberschaubaren Anzahl von Kinotickets auf dem Ausstellungsboden wie als Happening-Relikt, verweist sie auf die anonyme Gemeinschaft der Zuschauerschaft, den Preis und die Vergänglichkeit des Genusses im Kino. Der Kinobesuch als gelebte und ökonomisch bedeutsame Handlung wird gesehen. Denkt man von hier aus an Kunstgroßveranstaltungen und deren Marketing, an den Vertrieb und die Verwertungsformen von Kunstprodukten, die promotebare Seite der Kunst, könnte man darauf schließen, daß sich die heutigen Mechanismen des Kunstbetriebs mehr und mehr dem Kino angeglichen haben. Von einer solchen ›Hollywoodisierung‹ des Kunstbetriebs jedenfalls geht Peter Friedl in seiner documenta-Arbeit »KINO« aus, die auf der documenta-Halle 1998 verheißungsvoll in den Kasseler Abendhimmel strahlte. Friedl verkehrte zeichenhaft die Bedeutung des Gebäudes und stellte damit die ganze Ausstellung in Frage. Die Arbeit zeigte das kinoübliche Prinzip, Eigenwerbung weit sichtbar in die Stadtlandschaft hinein zu betreiben. Wie weckt man Begehren und eröffnet gleichzeitig den Diskurs über materielle Strukturen des Begehrens? Auch für Louise Lawler spielt diese Frage bei der Kinoarbeit »A Movie without the Picture« eine zentrale Rolle. 1979 ließ sie einen Hollywoodfilm nur mit Ton und ohne Licht in einem Kino in Santa Monica zeigen. Die Werbung auf dem Billboard des Kinos war Teil des Konzeptes ihrer Arbeit, die ansonsten den unmittelbaren Inhalt der Institution Kino hinterfragt. Die Reflexion der Betrachterposition und des Bildinhalts bei Lawler im Kinosaal wird in der scheinbaren Bildlosigkeit der Projektionsfläche bei Hiroshi Sugimotos Photographien amerikanischer Autokinos und Filmtheater aus den zwanziger und dreißiger Jahren neu aufgegriffen. Sie sparen den Film selbst aus, belassen ihn als weißleuchtende Projektionsfläche ähnlich einer fundamentalen Malereireflexion des weißen Bildgrundes. Dabei vermitteln sie eine geheimnisvolle Kinoatmosphäre, verdichten ihren Kern als Erinnerungsträgerin und illusionäre Traumwelt. Dem gesellschaftlichen Ort des Films bei Sugimoto, dem Autokino, entspricht bei Felix Stephan Huber die Vorstadt-Videothek. Seine »V-Worlds« bilden entleerte Gegenpole zum großen amerikanischen Kinomythos. Gleichzeitig verhilft die Videothek dem Kino zum massenhaften Vertrieb. Die Filminhalte werden über die Vermassung noch kommunizierbarer. Hubers Interviews mit Besuchern der Videothek zeugen davon, wie groß die Identifikationsmöglichkeiten mit Film sind.

Institution Kino bedeutet vor allem auch Personenkult. Daß Film-Ikonen nicht nur begehrte Objekte des Publikums darstellen, sondern selbst begehrende Subjekte sind, zeigen T.J. Wilcox in einem Film über das rekonstruierte Begräbnis der Kultfigur Marlene Dietrich sowie Hans Peter Feldmann in der Film- und Bilddokumentation einer ›Institution‹ des deutschen Films, Theo Lingen. Während Wilcox die allürenhafte Selbstüberhebung und Mystifikation eines Stars wie Marlene Dietrich durch Nachfilmen ihrer eigenen, unrealisierten Wunschvorstellung behutsam entlarvt, dokumentiert Feldmann die wenig bekannten Lebensabschnitte Lingens, die dieser durchlief bevor er zum TV-Star der sechziger Jahre avancierte. Mit der Ausschöpfung eines reichhaltigen Bilderfundus beleuchtet Feldmann unter anderem die experimentellen Anfänge Lingens als Avantgarde-Schauspieler in den zwanziger Jahren und die Ausübung eines jahrzehntelangen Engagements am Wiener Burgtheater. Das Bild vom ›Klischee Lingen‹ wird in das einer Künstlerfigur mit vielschichtigen Facetten verkehrt und spiegelt biographische wie zeitgeschichtliche Entwicklungen.

Den Künstlerbeiträgen der nächsten Seiten sind drei Textbeiträge von Thomas Meder, Sebastian Weber und Melita Zajc vorangestellt. Sie beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Position des Kinos. Meder betrachtet das Kino in seiner Wechselbeziehung zur Kunst, Weber in dem Verhältnis zur eigenen experimentellen Avantgarde und Zajc im Kontext kommerzieller und technologischer Einflußnahmen sowie spezifischer Wahrnehmungsformen des Kinos. Dem Bildmaterial auf den Künstlerseiten wurden erläuternde oder assoziative Texte, die sich auf das jeweils abgebildete Werk beziehen, an die Seite gestellt. Die Gestaltung des Kataloges erfolgte durch Alexander Feldmann, dem Herausgeber der Zeitschrift »KINO digital«, München.

veröffentlicht in: Moving Images. Film – Reflexion in der Kunst, Ausst. Kat. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, 1999

© 1999 Jan Winkelmann

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