Eine Semiotik der Oberfläche

Jan Winkelmann

Es mag zunächst ein ungewöhnliches Unterfangen darstellen, einen Text über das Motiv einer Einladungskarte zu schreiben. Noch dazu, wenn es sich dabei nicht um ein solitäres Werk im Œuvre einer Künstlerin handelt, sondern lediglich um einen fotografischen Schnappschuß. Die Rede ist von einem Foto, das Sarah Morris im MGM Grand Hotel in Las Vegas 1995 schoß und als Motiv für die Einladungskarte einer Ausstellung in Paris im Herbst des folgenden Jahres verwendete. Am 19. August 1995 fand im besagten Hotelkomplex Mike Tysons erster Boxkampf nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis statt. Sarah Morris, Jay Jopling und Jennifer Rubell flogen nach Las Vegas. Es gelang ihnen in letzter Minute, Karten für das Großereignis zu ergattern. Das Golden Nugget bot einen angemessenen Rahmen, um das bemüht glamouröse Treiben der die Atmosphäre dieser Art von Veranstaltungen prägenden Möchtegern-Celebrities und Unterwelt-Größen zu beobachten. Kurz vor dem Kampf, den Iron-Mike – seinem Spitznamen alle Ehre machend – gegen Peter McNeeley sieben Sekunden vor dem Ende der ersten Runde durch K.o. gewann, entstand das Foto auf einer Toilette des MGM.

Der weiße Kachelfußboden mit lilafarbenem, ornamenthaftem Muster ist in schräger Aufsicht zu sehen, wodurch sich eine eigentümliche Diagonalperspektive ergibt. Eingerahmt wird die „leere“ Bildmitte von den mit weißen Prada-High-Heels beschuhten Füßen der Künstlerin, die in einem fast obszön weiten Abstand zueinander einen mindestens ebenso weiten Assoziationsrahmen öffnet. Die grüne Lacklederhandtasche, die durch den linken und unteren Bildrand beschnitten ist, weist aus dem Bildraum in die Wirklichkeit außerhalb des Fotos. In mehrfacher Hinsicht markieren die sich im Schnappschuß zur Komposition verdichtenden Einzelteile eine Schnittstelle im Werk von Sarah Morris. Zunächst sei hier das Motiv der Schuhe erwähnt, das Mitte der neunziger Jahre mehrmals und in unterschiedlicher Form als Sujet in ihrem Werk auftaucht – High Heels (Purple), 1996; Japanese Shoes (Upside Down), 1996; Fishnets (Legs Crossed), 1996 etc. – und in dieser Häufigkeit fast eine eigene Werkgruppe bildet. Diese Bildserie geht auf einen weiteren Schnappschuß – High Heels (1995) – ihrer Schuhe zurück, der entstand, während Morris sich die Zeit vertrieb, als sie eines Abends in ihrem New Yorker Apartment darauf wartete, abgeholt zu werden. Auch dieses Foto diente als Motiv für eine Einladungskarte, in diesem Falle für ihre Ausstellung One False Move bei White Cube, London, im April 1996. Die perspektivische Verzerrung des modulähnlichen Kachelbodens bildet den Ausgangspunkt für Sarah Morris‘ Beschäftigung mit Perspektive. Verzichtet sie in den Gemälden Anfang der neunziger Jahre so gut wie gänzlich auf perspektivische Darstellung, wird diese in der Midtown-Serie zu einem wesentlichen, bildkonstitutiven Element. Ähnlich wie in den Gemälden die Untersicht des Flaneurs auf die realen Gebäudefassaden eingeschrieben ist, wird hier dem Betrachter durch die diagonale Aufsicht dessen Blickperspektive bewußt gemacht.

Sarah Morris‘ Werk, so könnte man zuspitzend behaupten, definiert eine „Semiotik der Oberfläche“. Seien es Hochhausfassaden, die als architektonische Häute eine Art weithin sichtbares Image von Macht und Prosperität vermitteln und gleichzeitig als „dekoratives“ sowie anonymes Pars pro toto die Physiognomie des sie umgebenden urbanen Kontexts prägen. Seien es die leuchtenden Oberflächen des in den Gemälden der Midtown-Serie verwendeten Glanzlacks, die in ihrer Gleichmäßigkeit keinerlei Tiefe suggerieren und somit als Medium wiederum eine Analogie zur spiegelnden Oberflächlichkeit des Motivs an sich bildet. Sei es das Spektakuläre, das Momente und Sensationen des großstädtischen Lebens auf die allgemeingültige Zeichenhaftigkeit der verwendeten Sujets reduziert. Sei es Sex, der durch den repetitiven Overkill in den Massenmedien zur Inhaltslosigkeit degenerierten Projektionsfläche unerfüllter gesichtsloser Begierden mutierte und gerade in den Schuh- und Bein-Gemälden Morris‘ eine unpersönliche und undefinierte Fetischisierung erfährt. Seien es die unterschwelligen Referenzen an kulturelle Subsysteme, wie beispielsweise der Mode, mit ihren jeweils präzise definierten sozialen Feldern, Differenzierungsmechanismen und Repräsentationsmustern. Im obengenannten Foto – MGM Grand Hotel (Las Vegas) – verdichten sich unterschiedliche, für das Gesamtwerk von Sarah Morris konstitutive inhaltliche Aspekte mit rein formalen und biographischen auf komplexe Weise, so daß selbst einem Schnappschuß durchaus die Rolle eines Schlüsselwerks zukommen kann. q.e.d.

veröffentlicht in: Sarah Morris. Modern Worlds, Ausst. Kat. Museum of Modern Art Oxford, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, Le Consortium Dijon, 1999

© 1999 Jan Winkelmann

Englische Version

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