„Man kann sich natürlich allerhand einfallen lassen, wenn man in einen leeren Rahmen guckt!“ A. Kubinski

Jan Winkelmann

Haben Sie schon einmal einen leeren Bilderrahmen, der an einer Wand hängt, gesehen und die Leere der exportierten, weil umschlossenen Wandfläche genau betrachtet? Dies kommt höchst selten vor, wobei es mir erst kürzlich passiert ist. Im Wohnzimmer einer Freundin hängt ein visuell äußerst üppiges Bild von Niki de Saint Phalle. Daneben hat sie einen leeren Bilderrahmen plaziert. Auf meine Frage hin, wie dieses ungewöhnliche Ensemble zu verstehen sei bzw. welche Idee dem Arrangement zugrunde liegt, antwortete sie, das eine sei so voll, daß daneben etwas Leeres hängen müsse, um die Fülle auszugleichen. Ein interessanter Gedanke, wenn man bedenkt, daß sie dies nicht etwa durch die leer belassene Wandfläche, sondern durch einen Bilderrahmen, ohne den üblicherweise darin befindlichen Inhalt eines wie auch immer geschaffenen Bildes, zu erreichen glaubte. Leere entsteht bei diesem Modell nur durch die Abwesenheit von Fülle.

Sie fragen sich nun, was dieses Beispiel mit den Arbeiten von Gerold Miller zu tun hat. Die Antwort liegt denkbar nah: Millers „Anlagen“, aus Stahlleisten zusammengeschweißte, rechteckige und einfarbig lackierte Wandarbeiten, die oft genug als Rahmen mißverstanden wurden, stellen das absolute Gegenteil zu dem eben beschriebenen leeren Bilderrahmen dar. Es handelt sich bei den „Anlagen“ vielmehr um Begrenzungen, die eine Fläche, bzw. einen Raum eingrenzen, will heißen, von der sie angrenzenden Wandfläche oder den ihn umgebenden Raum abgrenzen. Durch ihre nüchterne materielle und farbige Präsenz wird der Betrachter vom eingebundenen visuellen Vakuum derart eingenommen, daß er fast automatisch beginnt, diese Leere mit Bildern, gleich einem vorgeschalteten geistigen Auge, zu füllen. Gerold Miller schafft also Bilder, indem er darauf verzichtet, Bilder zu zeigen. Des Künstlers Werke verweigern sich nicht nur vorschnellen Deutungsmustern bzw. Sinnangeboten, sondern begegnen der alltäglichen Reizüberflutung mit einer ungewöhnlichen optischen Ruhe. Dem Betrachter obliegt die größtmögliche Freiheit, die optischen Lücken assoziativ zu ergänzen, oder, ganz im Gegenteil, sie als vorgegebene visuelle Leerstellen zu belassen. Er gibt mit seinem Werk keinen Inhalt vor, sondern schafft für den Betrachter die Rahmenbedingungen, jene Leerstellen selbst zu füllen und sich dabei möglicherweise dem Prozeß der eigenen Wahrnehmung bewußt zu werden.

Dieser Konzeption liegt die gleichermaßen einfache, wie hochkomplexe Frage zugrunde: „Was ist ein Bild?“ bzw. „Was kann ein Bild heute leisten?“. Im Zeitalter der digitalen Revolution und vor dem Hintergrund von 1500 Jahren europäischer Kunst- bzw. Bilder-Geschichte eine keineswegs leicht zu beantwortende Frage. Lassen wir sämtliche vielfältige Bedeutungsebenen außerhalb der Begriffsdefinition „Bild im Sinne eines Kunstwerkes‘ beiseite, kommen wir mit der „Begrenzung“, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ein Bild definiert sich über die Tatsache seiner Begrenzung, die eine grundlegende Eigenschaft, sozusagen ein bildkonstituierendes Element darstellt. Offene wie geschlossene Begrenzungen, die Flächen, Gebiete, Räume, Plätze, Felder umschreiben, sind die im übertragenen Sinne Arbeitsmaterialien des Künstlers.

Die bereits angesprochene Werkgruppe der „Anlagen“ markiert hierbei mit ihrem streng geometrischen Formenvokabular, ihrer handwerklich perfekten Verarbeitung und der monochromen Lackierung eine Art roten Faden in seinem Werk. Die zurückhaltende aber bestimmte Klarheit und Hermetik von Farbe und Form wird mit „Anlage 58“ von 1995 (alle „Anlagen“ sind in der Reihenfolge ihrer Entstehung numeriert) aufgebrochen. Ab diesem Zeitpunkt gestaltet sich der Farbauftrag nicht mehr gleichmäßig, sondern verkehrt sich in das Gegenteil. Die Farbe wird über die Stahlleisten gegossen und rinnt in Schlieren hinab, wodurch das Metall an mehreren Stellen sichtbar bleibt. Der Vorgang des Farbverlaufs wird vom Künstler nicht weiter beeinflußt und bleibt als Ergebnis einer zufälligen Farbverteilung sichtbar. Die wohl kalkulierte, präzise und nüchterne Formulierung der früheren „Anlagen“ weicht einem scheinbar willkürlichen und spielerischen Moment. Das mit der Trennung von Material und Farbe anklingende betont Prozeßhafte spielt in vielen zukünftigen Werken eine wichtige Rolle.

Diese Öffnung in Richtung eines verstärkt konzeptuellen Ansatzes spiegelt sich vor allem in der Arbeit „fast nichts/almost invisible“ (1996) wider. In der gleichnamigen Ausstellung war ein Jackett, das beiläufig auf einer Fensterbank abgelegt zu sein schien, zu sehen. Auf dem Stoff lagen Visitenkarten, die mit den Ausstellungsdaten und der Adresse Millers bedruckt waren, für die Besucher zum Mitnehmen bereit. Die stahlblaue Farbe und das geometrische Muster ließen auf den ersten Blick kaum erkennen, daß es sich dabei um ein Sakko handelte. Die auffallende Nähe von Farbe und geometrischem Muster zum Werk des Künstlers ist eine bewußt gewählte Analogie, die lange Zeit eine Einheit Künstler – Jackett – Werk bildete. Das in einem Second-hand-Laden erstandene und von ihm fast ausschließlich getragene Kleidungsstück entwickelte sich mit der Zeit zu einer Art visuellem Erscheinungsbild von Gerold Miller selbst. Die visuelle Präsenz des Jacketts begann sich zu einer eigenständigen Arbeit zu verselbständigen. Das Jackett verlor dadurch langsam seine Funktion als Kleidungsstück und war ab einem gewissen Zeitpunkt für den Künstler im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr tragbar. Es nimmt kaum Wunder, daß es als eine Art Ready-made nun in unterschiedlichen Werkzusammenhängen auftaucht, mal auf dem Boden liegend, dann wieder an einen Nagel gehängt und nicht zuletzt, in der genannten Ausstellung, als Skulptur, deren hybrider Status zwischen Objekt und biographischer Spur sich in dem zwitterhaften Kärtchen zwischen Visitenkarte und Beschriftungsschild niederschlug.

Das bereits erwähnte prozeßhafte Moment ist bei „Victor“, der Arbeit eines Hundes von besonderer Bedeutung. Im Vorfeld der Ausstellung „Halle l“, die im Sommer 1996 in einer leerstehenden Fabrikhalle in München stattfand, hatte Gerold Miller dem Hund anhand einer seiner Kataloge die künstlerischen Ansätze seines Werkes erläutert. Kurz darauf begann Victor innerhalb des realen Raumes ein Gebiet mittels der für Hunde üblichen Duftmarken abzugrenzen. Die imaginären stimmten mit den tatsächlichen Raumecken überein, wobei dem real existierenden Raum, ein künstlicher Raum eingeschrieben wurde, der für den Menschen zwar nicht mehr sichtbar, von Hunden jedoch sehr wohl noch in seiner räumlichen Ausdehnung rezipiert werden konnte. Die der vielschichtigen Bezeichnung „Anlage“ inhärente Ambivalenz von räumlich und bildhaft, gewinnt mit dem territorialen Besitzanspruch des Hundes der Begriff des Gebietes an Relevanz.

Die hier angedeutete Erweiterung der Fläche in den Raum erfuhr ihre räumliche Umsetzung erstmals mit der Arbeit „Wildest Dreams“, die im Obergeschoß des Esslinger Bahnwärterhauses 1995 zu sehen war. In den Ecken des Raumes standen vier verschiedene Stühle. Zunächst mochte der Titel verwirren, der so gar nicht zur kargen Möblierung des Raumes zu passen schien. Andererseits offenbarte sich hier das konzeptuell-plastische Denken des Bildhauers in positiv-negativ Formen auf spielerische Art und Weise. Für den Betrachter blieb es ebenso offen, inwieweit sich die Funktionalität der Stühle zugunsten der skulpturalen Gesamterscheinung der Installation im Raum auflöste, wie sich der überaus assoziationsreiche, bildhafte Titel im erklärten Gegensatz zum spärlichen visuellen Angebot des Raumes verhielt. In gewissem Sinne sind Millers „Eckenarbeiten“ eine Weiterführung der mit den „Anlagen“ bereits angesprochenen Thematik der Begrenzungen. Im Gegensatz zu den „Anlagen“ geschieht dies hier nicht durch eine klare Begrenzung, vielmehr verzichtet der Künstler auf die eigentlichen horizontal und vertikal verlaufenden Bildgrenzen. Die umschriebene Fläche definiert sich ausschließlich durch die vier markierten Ecken.

Das bei „Victor“ erstmals auftretende momenthafte bzw. ephemere findet seine Fortsetzung auch in der Arbeit „Amazing“ (1996), die nur für wenige Minuten im Atelier des Künstlers existierte. Vier auf dem Fußboden vorgefundene Zigarettenkippen wurden so angeordnet, daß jeweils zwei eine Linie andeuteten, die sich wiederum diagonal im Mittelpunkt eines imaginären Rechteckes schnitten. Die auf diese Weise angeordneten Zigarettenstummel wirkten erst dadurch wie die Ecken eines Quadrates, da die braunen Filter einheitlich nach außen zeigten. Bei einer andersartigen Anordnung wäre diese flächige Wirkung nicht zustande gekommen; vielmehr hätten sich zwei optisch angedeutete Linien, die sich wie ein X schneiden, ergeben. Die durch die Steinplatten bereits vorgegebene quadratische Rasterung des Fußbodens wurde mit einer neuen Fläche überlagert, die für einen Augenblick die schablonenartige Symmetrie der Platten aufbrach. Um noch einmal auf die Titel „Amazing“ und „Wildest Dreams“ zurückzukommen: Einerseits stehen Titel wie diese mit der Fülle der durch sie hervorgerufenen bildhaften Assoziationen im erklärten Gegensatz zu den mit sparsamsten formalen Mitteln erzeugten Werken. Auf der anderen Seite entsprechen sie auf der Ebene des Titels eben jenen durch den Betrachter vorzunehmenden Füllungen der angebotenen Leerstellen.

Millers Umgang mit vorgefundenen alltäglichen Materialien und das Verknüpfen dieser mit bereits vorhandenen bildnerischen Konzepten bzw. existierenden Werken manifestiert sich nicht nur in den bereits beschriebenen Arbeiten, sondern zeigt sich auch darin, wie der Künstler in seinen Ausstellungen den vorgegebenen Raum inszeniert. Im Ausstellungsraum der Städtischen Galerie im Alten Theater Ravensburg wurden in den nischenartigen Wandstücken der von Halbsäulen und vorgelagerten Rundbögen rhythmisierten Wände „Anlagen“ verschiedener Größe und Farbe, dadurch einer traditionellen Bildergalerie ähnlich, präsentiert. Die vorgegebene symmetrische Struktur des offenen Raumes wurde durch diese Art der klassischen Hängung in seiner Wirkung zusätzlich verstärkt. Durch eine 12 x 5 Meter große Holzwand, die schräg an vier der fünf Säulen lehnte und mit 90 Plakaten von Pamela Anderson, dem Busenwunder einer amerikanischen Fernsehserie, beklebt war, brach der Künstler die strenge und klare Ordnung des gründerzeitlichen Raumes auf. Ihm wurde nicht nur ein gegensätzliches strukturierendes Element in Form einer zusätzlichen Wand hinzugefügt, sondern es wurde darüber hinaus mit der opulenten Fülle des Plakatmotivs das gleichzeitig als Ausstellungsplakat diente ein Gegensatz zur visuellen Leere der „Anlagen“ geschaffen. Die dadurch erzeugte Spannung von voll-leer, üppig-karg bzw. sinnlich-abstrakt verdeutlichte ein weiteres Mal das plastische positiv-negativ-Prinzip des Bildhauers.

Auf ähnliche Weise bezieht sich die Installation an der Außenwand des Institute of Modern Art in Brisbane trotz der Beschränkung auf sparsamste formale Mittel auf die außerkünstlerische Wirklichkeit. Links und rechts der Eingangstür sind je ein rechtwinkliges Aluminiumprofil parallel zueinander angebracht. Sie umschreiben nur scheinbar eine rechteckige imaginäre Fläche, die von einem Teil der Türöffnung unterbrochen wird. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Trapez, die rechte Leiste 182 cm, die linke 179 cm lang. Der Titel der Arbeit verrät, warum dies so ist: „It‘s Michael and Me“. Der Künstler ist eben um 3 cm größer als der Direktor des Instituts.

veröffentlicht in: Gerold Miller, Ausst. Kat. Städtische Galerie Villingen-Schwenningen 1997

© 1997 Jan Winkelmann

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