Wildest Dreams. Bilder von Gerold Miller

Jan Winkelmann

"In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit."
Johann Georg Hamann

"Was ist eigentlich ein Bild?" Eine vordergründig banale Frage, die im Zeitalter der digitalen Revolution und vor dem Hintergrund von 1500 Jahren europäischer Kunst-, bzw. Bilder- Geschichte doch nicht so einfach zu beantworten ist, wie es zunächst scheinen mag. Im Thesaurus meines Textverarbeitungsprogrammes werden zum Begriff "Bild" folgende Bedeutungen angeführt: Kunstwerk, Photographie, Abbild, Anblick, Szene, Vorstellung, Metapher. Unter dem Begriff Kunstwerk wiederum finden sich folgende Synonyme: Bildnis, Darstellung, Gemälde, Illustration, Abbildung, Aquarell, Entwurf, Figur, Wiedergabe, Zeichnung, Kopie, Skizze, Studie. Lot's of stuff. Gehen wir den anderen Weg und versuchen den Begriff Bild einzugrenzen. Legen wir die Bedeutung "Kunstwerk" mit seinen vielfältigen, oben genannten Synonymen zugrunde, kommt man auf die "Begrenzung", als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ein Bild definiert sich zwar nicht ausschließlich über die Tatsache seiner Begrenzung, doch ist diese eine grundlegende Eigenschaft, sozusagen ein bildkonstituierendes Element. Bemühen wir erneut den Thesaurus, erscheinen die Begriffe Umriß, Abgrenzung, Grenze, Rahmen, Rand, Beschränkung, Kontur, Linie, Form, Profil. Und schon befinden wir uns inmitten der künstlerischer Begriffswelt Gerold Millers: "Was ist ein Bild?" bzw. "Was kann ein Bild heute leisten?", so könnten die zentralen Fragen lauten, mit welchen sich der Künstler in seinem Werk beschäftigt.

Gerold Miller schafft Bilder, indem er darauf verzichtet, Bilder zu zeigen. Seine Werke bestehen aus Begrenzungen, die eine Fläche, bzw. einen Raum eingrenzen, will heißen, von der sie angrenzenden Fläche oder den ihn umgebenden Raum abgrenzen. Die Werkgruppen der "Anlagen" sind aus Stahlträgern zusammengeschweißte rechteckige, rahmenartige Wandarbeiten, die handwerklich perfekt verarbeitet und einfarbig lackiert sind. Durch ihre nüchterne materielle und farbige Präsenz wird der Betrachter vom eingebundenen visuellen Vakuum derart eingenommen, daß er fast automatisch beginnt, diese Leere mit Bildern, gleich einem vorgeschalteten geistigen Auge, zu füllen. Miller verweigert nicht nur vorschnelle Deutungsmuster bzw. Sinnangebote, sondern begegnet gleichzeitig der alltäglichen Reizüberflutung mit einer ungewöhnlichen optischen Ruhe. Dem Betrachter obliegt die größtmögliche Freiheit, diese optische Lücke assoziativ zu ergänzen, oder, ganz im Gegenteil, sie als vorgegebene visuelle Leerstelle zu belassen. Will heißen: der Künstler gibt mit seinem Werk keinen Inhalt vor, sondern schafft für den Betrachter die – im wahrsten Sinne des Wortes – Rahmenbedingungen, jene Leerstellen selbst zu füllen und sich dabei möglicherweise dem Prozeß der eigenen Wahrnehmung bewußt zu werden.

Für die Ausstellung "Widerstand – heute!?", die 1994 in der Innenstadt von Esslingen stattfand, realisierte Miller mit "Präzisieren" eines seiner ersten Projekte im öffentlichen Raum. An der unspektakulären, nüchternen Außenwand einer Garage wurden zwei 4 Meter lange Winkelschienen aus Aluminium parallel zueinander angebracht, eine in der Sockelzone, wenige Zentimeter über dem Boden, die andere einen halben Meter unter dem Dach. Sie umschrieben nicht nur eine imaginäre rechteckige Fläche auf der Wand, sondern öffneten auch einen künstlichen dreidimensionalen Raum im urbanen Gefüge. Der Zigarettenautomat, vom Automatenbetreiber abschließend mit der linken Kante der Wand angebracht, wird durch Millers gezielten, mit sparsamsten Mitteln erfolgten Eingriff zu einem konkret bildhaften und gleichzeitig fiktiven räumlichen Ort.

Die hier, wie in allen "Anlagen" bereits angedeutete Erweiterung der Fläche in den Raum, erfuhr ihre räumliche Umsetzung erstmals mit der Arbeit "Wildest Dreams", die im Obergeschoß des Esslinger Bahnwärterhauses 1995 zu sehen war. In die Ecken des längsrechteckigen Raumes plazierte der Künstler vier verschiedene Stühle. Zunächst verwirrte der Titel, der so gar nicht zur kargen Möblierung des Raumes passen mochte. Andererseits offenbarte sich hier das konzeptuell-plastische Denken des Bildhauers in positiv-negativ Formen auf spielerische Art und Weise. Für den Betrachter blieb es ebenso offen, inwieweit sich die Funktionalität der Stühle zugunsten der skulpturalen Gesamterscheinung der Installation im Raum auflöste, wie sich der überaus assoziationsreiche, bildhafte Titel im erklärten Gegensatz zum spärlichen visuellen Angebot des Raumes verhielt. In gewissem Sinne sind Millers "Eckenarbeiten" eine Weiterführung der mit den "Anlagen" bereits angesprochenen Thematik der Begrenzungen. Im Gegensatz zu den "Anlagen" geschieht dies hier nicht durch eine klare Begrenzung, vielmehr verzichtet der Künstler auf die eigentlichen horizontal und vertikal verlaufenden Bildgrenzen. Die umschriebene Fläche definiert sich ausschließlich durch die vier markierten Ecken.

1995, mit der "Anlage 58" – alle "Anlagen" sind in der Reihenfolge ihrer Entstehung numeriert – bricht Miller mit der Hermetik früherer Arbeiten. Der Farbauftrag gestaltet sich nicht mehr gleichmäßig, sondern verkehrt sich in das Gegenteil. Die Farbe wird über die Stahlleisten gegossen und rinnt in Schlieren hinab, wodurch das Metall an mehreren Stellen sichtbar bleibt. Der Vorgang des Farbverlaufs wird vom Künstler nicht weiter beeinflußt und bleibt als Ergenbis einer zufälligen Farbverteilung sichtbar. Die wohlkalkulierte, präzise und nüchterne Formulierung der in ihrer Perfektion an genormte und industriell gefertigte Produkte erinnernden früheren "Anlagen" weicht einem scheinbar willkürlichen und spielerischen Moment. Der mit der Trennung von Material und Farbe anklingende konzeptuelle Ansatz und das betont Prozeßhafte spielt in vielen zukünftigen Werken eine wichtige Rolle.

So z. B. in der Arbeit "Amazing", die für wenige Minuten im Atelier des Künstlers existierte. Vier auf dem Fußboden vorgefundene Zigarettenkippen wurden so angeordnet, daß jeweils zwei eine Linie andeuteten, die sich wiederum diagonal im Mittelpunkt eines imaginären Rechteckes schnitten. Die auf diese Weise angeordneten Zigarettenstummel wirkten erst dadurch wie die Ecken eines Quadrates, da die braunen Filter einheitlich nach außen zeigten. Bei einer andersartigen Anordnung wäre diese flächige Wirkung nicht zustande gekommen; es wäre bei den zwei optisch angedeuteten Linien, die sich wie ein X schneiden, geblieben. Die durch die Steinplatten bereits vorgegebene quadratische Rasterung des Fußbodens wurde mit einer neuen Fläche überlagert, die für einen Augenblick die schablonenartige Symmetrie der Platten aufbrach. Um noch einmal auf die Titel "Amazing" und "Wildest Dreams" zurückzukommen: Einerseits stehen sie, wie oben bereits erwähnt, mit der Fülle der durch sie hervorgerufenen bildhaften Assoziationen im erklärten Gegensatz zu den mit sparsamsten formalen Mitteln erzeugten Werken. Auf der anderen Seite entsprechen sie auf der Ebene des Titels eben jenen durch den Betrachter vorzunehmenden Füllungen der angebotenen Leerstellen.

In gleicher Weise temporär, weil nur für einen kurzen Zeitraum existent, war "Victor", die Arbeit eines Hundes. Im Vorfeld der Ausstellung "Halle 1", die im Sommer 1996 in einer stillgelegten Fabrikhalle in München stattfand, hatte Gerold Miller dem Hund anhand seines zuletzt erschienenen Kataloges seine künstlerischen Ansätze erläutert. Kurz darauf begann Victor innerhalb des realen Raumes ein Gebiet mittels der für Hunde üblichen Duftmarken abzugrenzen. Nicht zufällig stimmten die imaginären mit den tatsächlichen Raumecken überein. Ähnlich der Arbeit im Bahnwärterhaus wird dem real existierenden Raum, ein künstlicher Raum eingeschrieben. Die der vielschichtigen Bezeichnung "Anlage" begleitenden Ambivalenz von räumlich und bildhaft, gewinnt mit dem territorialen Besitzanspruch des Hundes der Begriff des Gebietes an Relevanz. Wodurch gleichzeitig Millers konzeptionelle Begrifflichkeit eine zuvor mehrmals anklingende Erweiterung – siehe "Wildest Dreams" und "Präzisieren" – in die Dreidimensionalität erfährt.

Millers Umgang mit vorgefundenen alltäglichen Materialien und das Verknüpfen dieser mit bereits vorhandenen bildnerischen Konzepten, bzw. existierenden Werken manifestiert sich nicht nur in einzelnen Arbeiten, sondern zeigt sich auch darin, wie der Künstler in seinen Ausstellungen den vorgegebenen Raum inszeniert. Im Ausstellungsraum der Städtischen Galerie im Alten Theater Ravensburg wurden in den nischenartigen Wandstücken der von Halbsäulen und vorgelagerten Rundbögen rhythmisierten Wände, "Anlagen" verschiedener Größe und Farbe, dadurch einer traditionellen Bildergalerie ähnlich, präsentiert. Die vorgegebene symmetrische Struktur des offenen Raumes wurde durch diese Art der klassischen Hängung in seiner Wirkung zusätzlich verstärkt. Durch eine 12 x 5 Meter große Holzwand, die schräg an vier der fünf Säulen lehnte und mit 90 Plakaten von Pamela Anderson, dem Busenwunder einer amerikanischen Fernsehserie, beklebt war, brach der Künstler die strenge und klare Ordnung des gründerzeitlichen Raumes auf. Ihm wurde nicht nur ein gegensätzliches strukturierendes Element in Form einer zusätzlichen Wand hinzugefügt, sondern es wurde darüber hinaus mit der opulenten Fülle des Plakatmotives – das gleichzeitig als Ausstellungsplakat diente – ein Gegensatz zur visuellen Leere der "Anlagen" geschaffen. Die dadurch erzeugte Spannung von voll - leer, üppig - karg, bzw. sinnlich - abstrakt verdeutlichte ein weiteres Mal, wie Gerold Miller das plastische positiv- negativ-Prinzip des Bildhauers auf ungewöhnliche und verblüffend neuartige Weise umzusetzen versteht.

veröffentlicht in: artist Kunstmagazin, Heft 31, 2/97

© 1997 Jan Winkelmann

home