Tempus Fugit. Zum Aspekt der Zeit in Matthew McCaslins Werk

Jan Winkelmann

Ausstellungen sind, unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung, in erster Linie zeitlich begrenzte Ereignisse. Für ortsspezifische Installationen gilt dies im besonderen, liegen ihnen doch ihrem Wesen nach auf den jeweiligen Ort zugeschnittene inhaltliche oder durch die spezifische räumliche Situation sich ergebene Sinnzusammenhänge zugrunde, die ohne diesen Ort keine bzw. nur wenig Aussagekraft haben. Matthew McCaslin okkupiert mit seinen Installationen aus zweckentfremdeten elektrischen Gebrauchsgütern des medial vernetzten Lebens Ausstellungsräume auf Zeit. Indem die jeweiligen Komponenten, seien es Monitore, Videorecorder, Uhren, Ventilatoren, kurz: „jene Hardware, die dem urbanen Leben der medienbestimmten Realität ihr Antlitz gibt“(1) durch sichtbar im Raum verteilte Kabel miteinander verbunden werden, schafft der Künstler eindrucksvolle Metaphern, nicht nur für die globale Vernetzung innerhalb der Informationsgesellschaft, sondern er macht gleichzeitig die für die reibungslose Funktion notwendigen Energiebahnen sichtbar. Vergleichbar mit den Adern eines Blutkreislaufes leiten und verteilen sie die Energie, die sämtlichen Aktionen und Funktionen der genannten Stromverbraucher in Gang setzt und den gesamten Kreislauf am Leben erhält. McCaslins Werke sind auf das direkte Erleben des Betrachters ausgerichtet. Neben akustischen, visuellen und körperlichen Erfahrungen steht die Wahrnehmung der Zeit, ein Sichtbarmachen des Unsichtbaren, im Vordergrund.

Kleiner Exkurs über die Zeit. – Zeit ist neben Länge, Masse und Temperatur eine grundlegende physikalische Größe, die durch das Internationale Einheitensystem genau festgelegt ist. Über Jahrhunderte hinweg basierte der wissenschaftliche Standard der Zeit auf der Rotationsperiode der Erde. Ein Tag entspricht der vollständigen Umdrehung der Erde um ihre Achse. Die Einteilung des Tages in 24 Stunden erfolgte hingegen willkürlich. Nachdem die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge jedoch nicht konstant und infolgedessen relativ ungenau ist, wurde 1967 die Sekunde neu definiert. War sie bislang als 1/86400 eines mittleren Solartages festgelegt, liegt seither der Sekunde die Energiedifferenz, die ein Cäsium-Atom beim Übergang von einem niedrigen Energieniveau auf ein höheres aufnimmt, zugrunde. Die maßgebliche Größe ist nun nicht mehr der Tag, sondern die kleinste Einheit im Zeitsystem, die Sekunde. Während im erstgenannten Modell mit dem Tag eine nachvollziehbare Größe als Grundlage der Zeitmessung dient, ist es im zweiten Fall eine abstrakte Dimension, zu der sich der Mensch nicht in Beziehung setzen kann, weil sie sich in physikalisch-chemischen Parametern ausdrückt, die sich einer direkten, erfahrbaren Maßstäblichkeit entziehen. In dieser Hinsicht entspricht sie jedoch viel eher dem immateriellen Charakter der Zeit als etwas Unsichtbarem, das nur mit Hilfe eines technischen Instruments sicht- bzw. meßbar gemacht werden kann.

Die elektrischen Uhren stehen im übertragenen Sinne für das Durch-die-Zeit-Strukturierte, Zum-funktionieren-Notwendige, nicht nur der medial und technologisch vernetzten Gesellschaft, sondern des Lebens in der industrialisierten Zivilisation im allgemeinen. In diesem Sinne ähneln sie der Funktion der Kabelleitungen, die als wichtige Bestandteile, um „das reibungslose Funktionieren unserer alltäglichen Infrastruktur“(2) zu gewährleisten, verstanden werden. Eigentlich sind Uhren ein Medium, das eine Information – die Uhrzeit – vermittelt. Doch was zeigen sie an? Ist es die momentane Ortszeit, ist es die Zeit an einem anderen Ort der Erde, oder ist es die Zeit, die verstrichen ist, seit der Stecker in der Dose steckt? An sich geben die Uhren selbst keine Auskunft darüber. Es fehlt ein Bezugsrahmen, der nur außerhalb des geschlossenen Systems der Installation zu finden ist und somit wieder auf ihre Hermetik verweist. Diese Unklarheit wird dadurch zusätzlich verstärkt, daß jede der Uhren eine andere Zeit anzeigt. Sehen wir von diesen Fragen einmal ab, so steht dahinter die unmittelbare Erfahrung der Vergänglichkeit von Zeit und – daraus resultierend – ein Reflektieren über das Erleben von Gegenwart.

Dem chaotisch-provisorisch anmutenden Charakter der Installationen McCaslins tritt durch die Uhr ein Moment der Ordnung, der gleichförmigen Bewegung und Genauigkeit, gegenüber. Die fließenden energetischen Ströme werden nicht nur durch die von ihnen betriebenen Stromverbraucher sichtbar gemacht, sondern erfahren zusätzlich eine präzise Messung durch die Uhren. Wobei jenem lediglich dem Selbstzweck dienende Kreislauf von Energie mit den Uhren eine nur scheinbar objektive Dimension hinzugefügt wird. Sie messen zwar die Zeit, doch welche bleibt dem Betrachter verborgen. Das ontologische Gerüst der Zeitwahrnehmung ist somit abstrakt und konkret zugleich.

Neben den Uhren treten verschiedentlich auch andere Momente der Zeiterfahrung auf. Zwei Beispiele seien abschließend erwähnt. In der Installation „Bloomer“ ist auf den Videomonitoren das Erblühen einer Blumenknospe zu sehen. Der sich normalerweise über mehrere Stunden erstreckende Prozeß wird hier in wenigen Sekunden wiedergegeben. Mit Hilfe moderner Zeitraffertechnik verkürzt sich der Vorgang und ermöglicht dem Betrachter ein nur scheinbar naturhaftes Erlebnis, das ohne Technik in dieser Form nicht möglich wäre und demzufolge auch keine originär natürliche Erfahrung sein kann. Zeit wird hier, im Gegensatz zu den Uhren, nicht etwa kommentarlos gezeigt, sondern unmittelbar und anschaulich erlebbar vorgeführt.

Das Moment der Flüchtigkeit von Zeit wurde in der Installation im Castello di Rivara (1993) durch einen sich ständig wiederholenden akustischen Countdown von Zehn bis Eins anschaulich thematisiert. Das Rückwärtszählen suggeriert, daß in wenigen Sekunden ein (bedeutungsvolles) Ereignis stattfinden wird. Da nach dem Countdown jedoch nichts passiert, läuft die aufgebaute Spannung ins Leere und verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenngleich darauf der nächste Countdown beginnt. Im Gegensatz zu den gleichmäßig vorwärts gehenden Uhren wird hier der Verlust von Zeit, ihr unerbittliches Verrinnen, deutlich gemacht. Dem positiv fortschreitenden, in die Zukunft gerichteten und gleichzeitig die Gegenwart markierenden Moment tritt das Vergängliche unmittelbar gegenüber. Damit hält McCaslin dem Betrachter nicht nur die Vergänglichkeit seiner eigenen Existenz vor Augen, sondern vor allem die Endlichkeit des gegenwärtigen Moments. Vorbei.

(1) Gail B. Kirkpatrick: „Fernseher, Uhren“, in: Dietmar Elger, Gail B. Kirkpatrick (Hrsg.): Matthew McCaslin. Downunder, Kat. Wandelhalle, Köln, 1995, unpag.
(2) Konrad Bitterli: Site Nonsite in the City of Berne, Kat. Galerie Erika und Otto Friedrich, Bern 1997, unpag.

veröffentlicht in: Matthew McCaslin. Works – Sites, Ostfildern (Cantz-Verlag) 1997

© 1997 Jan Winkelmann

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