Der kathartische Purismus von Stefan Kerns Skulpturen

Jan Winkelmann

Stefan Kern ist ein Wahnsinniger. Er steht Samstags um vier Uhr früh auf, an Sonntagen schläft er aus und wird erst um halb sieben wach. Womöglich ist es eine Art innere Unruhe oder besser gesagt eine entfesselte Energie, die ihm den oft so gepriesenen gesunden ›Langschlaf‹ verwehrt. Jedenfalls lernt man selten Künstler kennen, die in ähnlicher Weise kompromißlos und unerbittlich mit sich und den eigenen Ressourcen umgehen, wie es bei Stefan Kern zu erleben ist. Ich bin weit davon entfernt, ein romantisierendes Klischee vom Künstler als einem Rastlosen, weil vom ungezügelten Schaffensdrang Getriebenen, zu konstruieren. Vielmehr erwähne ich es, weil sich damit symptomatisch eine Haltung vermittelt, die sich auch in den Werken von Stefan Kern artikuliert und die mit kathartischem Purismus vielleicht am sinnfälligsten umschrieben werden kann.

Kerns Skulpturen sind schön, erhaben und vor allem unbequem. Die exakte Verarbeitung der auf ein Minimum ihrer Funktionen reduzierten Form unterstreichen das Statische ihrer dezidiert skulpturalen Erscheinung. In ihrer einheitlichen neutralen Farbigkeit, die den Charakter der industriellen Fertigung zusätzlich unterstreicht, löst sich jedoch die geschlossene in sich ruhende Form zugunsten einer Öffnung und Entgrenzung in Richtung des sie umgebenden Raumes. Selten entstehen seine Arbeiten als autonome Einheiten und obwohl man ihnen ihren Ortsbezug oftmals nicht unmittelbar ansieht, liegen der spezifischen Form präzise analytisch-formale wie inhaltliche Bezüge zum Ort, für den sie entstehen, zugrunde. Diese verorteten Qualitäten bedingen die Skulptur zwar einerseits, sind jedoch gleichzeitig keine werkimmanenten Bestandteile, die eine Präsentation in einem anderen Kontext unmöglich machen würden.

Der die visuelle Erscheinung wie die materielle Präsenz der Werke prägende Purismus ist den formalen Errungenschaften der Minimal Art ebenso entlehnt, wie das Bewußtsein um die Wahrnehmung und Rezeption eines Werkes von der wechselseitigen Beziehung zwischen Betrachter und Kunstwerk, zwischen Objekt und Subjekt bestimmt sind. Die von den Minimal Künstlern erstmals reflektierte Abhängigkeit der Wahrnehmung eines Kunstwerkes über dessen formale Eigenschaften hinaus (Raum, Licht und die Perspektive des Betrachters u.a.) wird in Kerns Skulpturen in Richtung performativer Eigenschaften erweitert. Neben diesen und ihren skulpturalen sind ihnen aber vor allem funktionale Qualitäten zu eigen, da sie auf eine konkrete körperliche Erfahrung durch den Betrachter und mit ihm hin konzipiert sind, gleichwohl sich ihre Funktionalität einer schmeichelhaften Bequemlichkeit widersetzt. Die sich ergebende Ambivalenz von autonomer Skulptur einerseits und der auf eine Benutzbarkeit ausgerichteten Funktion andererseits läßt den Betrachter sich nicht nur seiner physischen Präsenz bewußt werden, er wird darüber hinaus im Akt der Benutzung durch und mit seiner Handlung exponiert und somit selbst zum temporären Bestandteil des Werkes.

Neben diesen performativen Qualitäten sind Kerns skulpturale Nutzungsangebote zugleich aber immer auch auf kommunikative Prozesse angelegt. In der Benutzung von mehreren Personen gestalten sich interaktive Situationen, die die Erfahrung des Werkes von der individuellen Perzeption zur kollektiven Kommunikation verlagert. Weil dies hingegen in einem hauptsächlich von ästhetischen Konstanten geprägten Kontext stattfindet, durchbrechen sich die Erfahrung der den Skulpturen inhärenten formalen und funktionalen Eigenschaften und die Wahrnehmung der kommunikativen Situation. Dieser mehrstufige Perzeptionsprozeß erlaubt eine Erfahrung des Werkes in der Zeit. In diesem Sinne wird die visuell-rezeptive Wahrnehmung um eine Erlebnisdimension erweitert. Ganz im Sinne Merleau Pontys: »Zeit ist kein realer Prozeß [...] Sie entsteht durch meine Beziehung mit den Dingen.«

Veröffentlicht in: German Open. Gegenwartskunst in Deutschland, Ausst.kat. Kunstmuseum Wolfsburg (Cantz-Verlag), 1999.

© 1999 Jan Winkelmann

Englische Version

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