Ein Bild ist ein Image ist eine Erinnerung
Jan Winkelmann
„Na, du alte
Sau...“ entlockt ihm die sich am anderen Ende der Leitung meldende
Stimme, nicht realisierend, dass dabei alle um ihn herum sich befindenden
Passanten erstaunt und nicht wenig konsterniert von diesem Ausbruch an
Fäkalsprache leicht irritiert zu sein scheinen, nicht wissend, dass es
sich dabei lediglich um eine, unter ihnen beiden seit Jahren gepflegte,
ausnehmend freundschaftliche, wenn nicht sogar fast liebevoll zu nennende
Begrüßungsformel handelt. Freudig nimmt er zur Kenntnis, dass sein
„Gegenüber“ und er sich in allernächster Zukunft in der
gleichen Stadt befinden werden und folglich eine ihrer, seit nahezu einem Jahrzehnt
in unregelmäßigen Abständen stattfindenden Ausschweifungen, in
Kürze wieder einmal ansteht. Zuletzt trafen sie sich am Rande eines
Ausstellungsbesuches, die den Großmeister der Reproduktion, Andy Warhol
huldigte, wenngleich dies in jener Exposition geschah, ohne ein einziges
„Original“ von Warhol zu zeigen. Vielmehr waren eigentlich nur
Reproduktionen von Reproduktionen von Reproduktionen zu sehen. Wo, wenn nicht
bei Warhol wäre das möglich, wo dessen Images doch so unmittelbar ins
Gedächtnis dringen, sich dort festsetzen und sie vor diesem Hintergrund
– wie ein Kollege Warhols einmal so passend formulierte – „in
Katalogen oftmals genauso gut sind wie in Wirklichkeit“. Offensichtlich
scheint wohl doch noch ein Unterschied zu bestehen zwischen medialer bzw. medial
vermittelter Realität und realer Realität. „Old
School“-Denken, oder eben ein altes Zitat! Eine Bekannte erzählte
ihm kürzlich davon, wie sie aus nächster Nähe in einem Hotel in
Sichtweite des World Trade Centers den Einschlag von United Flug 175 in den
Südturm verfolgte. Obgleich sie nur aus dem Fenster hätte sehen
müssen, um die Realität in ihrer ganzen, zuvor nicht für
möglich gehaltenen perversen Tragweite „life“ mitzuerleben,
fraßen sich ihre Blicke an der glänzenden Oberfläche des
Fernsehers fest, denn die dort übertragenen Bilder schienen trotz ihrer
Vermitteltheit irgendwie realer als die Realität vor der glänzenden
Oberfläche des leicht getönten Hotelzimmerfensters. Längst sind
die Bilder vom 11. September, wie unzählige andere Bilder auch, Teil eines
kollektiven Gedächtnisses geworden. Aber haben Sie sich denn schon einmal
Gedanken gemacht, was dieses, so oft zitierte „kollektive
Gedächtnis“ denn eigentlich ist bzw. was es sein könnte? Nähern wir uns ihm doch
ein wenig an. Offensichtlich ist dieses gemeinschaftliche Erinnerungsvermögen
in erster Linie eines, das sich auf Bilder stützt bzw. dem Bilder zugrunde
liegen. Liegt es lediglich an der Unmittelbarkeit von Bildern, dass sie zur
Grundlage eines so genannten kollektiven Gedächtnisses auserkoren wurden?
Sicherlich auch, doch sind akustische und olfaktorische Reize nicht weniger
unmittelbar, wenn nicht sogar noch unmittelbarer und sie haben trotzdem nicht
die Kraft und das Vermögen in gleichem Masse wie Bilder im Sinne eines
kollektiven Gedächtnisses zu wirken. Das mag vielleicht auch daran liegen,
dass sie nicht auf dieselbe Art und Weise medial und damit weltumspannend
vermittelbar sind. Sicherlich ist der Duft von frisch gebrühtem Kaffee
nahezu jedem Menschen bekannt, doch würde man in diesem Falle nicht auf
die Idee kommen, von Kaffeeduft als Teil des kollektiven Gedächtnisses zu
sprechen. Womit wir bei der Relevanz und demzufolge auch der Nachhaltigkeit als
den beiden nächsten Definitionsgrößen wären. Kaffeeduft
als Teil eines kollektiven Gedächtnisses ist seinem Wesen nach dann doch
zu banal, als dass man es ihm wirklich ernsthaft zuschreiben möge. Bei
akustischen Reizen in Form von Musik stellt sich das schon etwas anders dar,
obzwar diese vielleicht dann doch eher einer privaten Erinnerung im Rahmen
eines kollektiven Gedächtnisses gleichen. Oder haben Sie etwa die gleichen
Memories wie ich, wenn Sie das Lied „Sunny“ von Boney M hören?
Ich wage zu behaupten, dass das nicht der Fall ist und trotzdem gehört es
zumindest für einen bestimmten Teil der Menschheit zu „ihrem“
kollektiven Gedächtnis. Für einen überwiegenden Teil der
Weltbevölkerung aber auch wieder nicht. Ich möchte nicht
beschwören, dass man in Ulan Bator in den ausklingenden 70er Jahren nicht
auch Boney M gehört hat. Doch könnte ich mir vorstellen, dass dort
ein anderer Song an der Spitze der Charts stand, der für die Bewohner dort
in gleichem Masse Teil ihres kollektiven Gedächtnisses ist und war, wie
oben genanntes für das meinige/unsrige. Also scheint es doch auch
geographisch unterteilte und demzufolge mehrere verschiedene kollektive
Gedächtnisse zu geben, und dies nicht nur im Bereich von Musik. Denn in
Marrakesch wird ein Foto vom toten Uwe Barschel in der Badewanne eines Genfer
Hotels zweifelsohne keine allzu großen Erinnerungen auslösen. Auch
sind es ja – wie im vorgenannten Beispiel deutlich wird – in erster
Linie negative und entsprechend emphatische Ereignisse, die wir dem kollektiven
Gedächtnis zuschreiben, oder haben Sie etwa noch die Bilder von Diana
Spencers Hochzeit mit Prince Charles und ihren unschuldigen und scheuen, aber
irgendwie doch glücklichen Blick vor Augen? Wenn wir uns nun auf der Suche
nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner für „das“ oder besser
„ein“ wieauchimmergeartetes kollektives Gedächtnis auf die
mediale Vermittelbarkeit einigen könnten, würde das aber wiederum
bedeuten, dass ein kollektives Gedächtnis womöglich also nur
in/durch/mit den Massenmedien existiert, was wiederum zu dem Schluss
führt, dass es vor der weltweiten Verbreitung der Massenmedien
überhaupt kein kollektives Gedächtnis gegeben haben kann. „...
ich stehe übrigens gerade vor Andy Warhols Grab. Eigentlich ist es als
Grab ziemlich banal, dafür, dass es Andy Warhols Grab ist. Anyway... bis
bald.“
Dieses Text
wird in: Andreas Kaufmann: Images without Imagery“, Ausst. Kat. Bunkier Sztuki, Krakau,
veröffentlicht.
© 2003 Jan Winkelmann