Tamara Grcic

Jan Winkelmann

Es passiert selten, daß Künstler Jahre später auf eine Werkidee zurückgreifen, um diese fast unverändert in einem anderen äußeren Rahmen und inhaltlichen Kontext noch einmal zu präsentieren. Ich war sehr erstaunt und gleichzeitig angenehm überrascht, als ich vor zwei Wochen bei der Wiedereröffnung der Kunst-Werke in Berlin eine Arbeit von Tamara Grcic sah, die sie 1992 in einer ihrer ersten Ausstellungsbeteiligungen (TIEFGANG. Bildräume im Schloßbunker) erstmals realisierte. Damals noch ohne Titel, stand der heute „Eierkasten“ genannte Schrank an der Wand in einem kleinen Raum in einem alten Tiefbunker aus dem 2. Weltkrieg unter dem Mannheimer Schloß. Die klaustrophobe Atmosphäre der unzähligen kleinen Räume, die erdrückende Last der Historizität des Ortes und die fast körperlich spürbare Vehemenz des mehrere Meter dicken Stahlbetons wurde von Tamara Grcic auf subtile Weise einerseits aufgenommen und gleichzeitig jedoch aufs poetischste pariert und in ihr Gegenteil verwandelt. Das kleine Fenster in einem aus Spanplatten gefertigten Schrank öffnete und lenkte den Blick auf eine Vielzahl von Holzstäben, die das Innere des Raumkörpers horizontal symmetrisch gliederten. Die in unregelmäßigen Abständen auf den Stangen angeordneten Eier schienen dem Gleichmaß der erstgenannten durch ihre Präsenz in Form und Anordnung zu begegnen, wobei durch das gedämpfte, gelbe Licht eine subtile Licht- und Schattenwirkung entstand, die dem Gesamten eine stumme Sinnlichkeit zu Eigen machte, die nicht nur die Stille des von der Außenwelt hermetisch abgeschirmten Schutzraumes in ihrer Intensität zu stärken schien, sondern auch im metaphorischen Sinne, die Schutzfunktion des Bunkers auf hintergründige Weise thematisierte. Diese Arbeit hat Tamara Grcic nun in den Kunst-Werken reinstalliert. Diesmal nicht als einen eigenständigen, freistehenden Korpus, sondern in die Wand versenkt, ist nur das Fenster sichtbar, gleich einer Art ‚Secret Window‘, das unvermittelt den Blick auf die dahinter ruhenden Eiern öffnet. Mit dem Titel selbst referiert die Künstlerin auf die zuvor beschriebene Arbeit, erinnert noch einmal an die physische Präsenz des räumlichen Behältnisses, das sich hier in der Wandfläche förmlich aufgelöst zu haben scheint.

Die Tatsache, daß Grcic diese Arbeit nach mehr als sieben Jahren noch einmal re-inszeniert, legt die Vermutung nahe, daß sie für die Künstlerin einen immer noch bleibenden, aktuellen Wert, nicht nur im Sinne einer ungebrochenen poetischen Kraft, beinhaltet, sondern sie läßt dem Autor wie Schuppen von den Augen fallen, daß die wesentlichen Elemente ihrer sich daran anschließenden Arbeiten aus den letzten Jahren in nuce hier bereits umfangreich „versammelt“ sind.

Die Arbeiten der 1964 geborenen Künstlerin sind Ereignisse, komplexe Ereignisse von Farbe und Form, seit neuestem auch von Ton und bisweilen – wie in den älteren Arbeiten – vereinzelt von Gerüchen. Bewußt ist nicht das Wort „Erlebnis“ verwendet, da dieses bereits den Wahrnehmungsprozeß umschreibt, welches das von der Künstlerin inszenierte „Ereignis“ auslöst. Die einzelnen ästhetischen Empfindungskonstanten verdichten sich in ihren unterschiedlichen Seinszuständen und eigenständigen komplexen Beziehungen zueinander oder von der Künstlerin bewußt herbeigeführte Verknüpfungen zu komplexen Erfahrungsmomenten, die durchweg immer an die Wirklichkeit angebunden sind, da sie sich aus der alltäglichen Lebens- und Dingwelt ableiten. Es entstehen Erlebnismomente existentieller Befindlichkeiten, die durch einen graduellen Prozeß der Aneignung und gleichzeitiger Abstraktion von Wirklichkeit hervorgerufen werden.

So ihre 1995 für das Lindenau-Museum in Altenburg konzipierte Installation, bei der der Boden des Ausstellungsraums in Höhe der Fußleiste vollständig mit festgetretener Erde gefüllt wurde und neben Versatzstücken aus der Realität außerhalb des musealen Raumes (Plastiktüten, Schnüre, Netze, Papiere) mit roten Paprikaschoten bedeckt war. Das auf diese Weise entstandene Raumbild erfuhr mit dem Fenster eine direkte visuelle Anbindung an die Natur. Die Gegenüberstellung von „unberührter“ Natur, deren man durch die Fensterscheibe getrennt nur visuell teilhaftig werden konnte, und die ungewöhnliche vielfache Präsenz eines kultivierten Naturprodukts sowie einfacher Verpackungsmaterialien, wie man sie in Gemüsegeschäften verwendet, um eben das zum Zwecke des Verzehrs meist in künstlichen Gewächshäusern gezüchtete Gemüse transportabel zu machen, ergaben in ihrer Zusammenfügung ein assoziationsreiches Bild über den Antagonismus von Natur und Kultur und ihre gegenseitige Durchdringung bzw. die Tatsache, daß das Erleben von Natur immer auch einer von kulturellen Faktoren beeinflußten Wahrnehmung unterliegt.

Wo Grcic hier noch eine Art „reales Stilleben“ (inklusive stetiger gradueller Veränderung der organischen Elemente) komponierte, nimmt seit Mitte der neunziger Jahre die Photographie und der Film eine immer wichtiger werdende Rolle im Schaffen der Künstlerin ein. Zunächst diente die Kamera Grcic lediglich zu dokumentarischen Zwecken bzw. die mit ihr produzierten Photographien kamen einer Art Entwurfskizzen gleich. Mittlerweile entwickelte sich sowohl Photographie als auch Film zu für sie eigenständigen Medien, durch und mit ihnen der Mensch in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit tritt.

In den beiden Serien von scheinbar beiläufig aufgenommenen Rücken- und Haarpartien, die 1997 während eines längeren New York-Aufenthaltes entstanden, wird das Motiv der unmittelbaren Nahansicht und des dadurch nach allen Seiten begrenzten Ausschnitts, wie es mit dem ausschnitthaften Blick durch das Fenster des „Eierkastens“ bereits vorgebildet ist, zu einem bis heute immer wiederkehrenden zentralen Element in ihrem Schaffens. Die aus fast intimer Distanz aufgenommenen Porträts von Schulterpartien vorbei huschender Passanten, geben wenig bis keine Auskunft über die Person an sich. Ihre Anonymität bleibt gewahrt, obgleich man sich ihnen nah glaubt. Die vorgebliche Nähe der wiedergegebenen Ausschnitte entpuppt sich als anonyme Fläche, wo Abstraktion und konkrete Wirklichkeit zu einer spannungsreichen künstlerischen Folie amalgamieren. Die Zufälligkeit und die Dualität von Farbe und Form, Licht und Schatten, Bewegung und Statik thematisieren Kleidung als Oberfläche und Schnittstelle von innerer und äußerer Lebenswelt ebenso, wie sie die Flüchtigkeit und Beiläufigkeit des urbanen Lebens und die Anonymität der Großstadt dauerhaft fixieren.

In ihrer Ausstellung 1997 im Bonner Kunstverein stellte Grcic den 96 „Haaren“ eine zwischen die vorhandenen Säulen eingepaßte Kleiderstange gegenüber, an der 81 Teile Damenoberbekleidung in Reih und Glied dicht an dicht hingen. Jene die Fotos auszeichnende Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, von Individualität und Anonymität wurden hier durch die Aneinanderreihung von konfektionierter Bekleidung zusätzlich intensiviert. In ihrer Gesamtheit schienen sie der in den Fotos wahrzunehmenden Vielfalt gleichzukommen, wobei die Sortierung nach Farbe und Form dieser aber gerade nicht entsprach.

Diese Arbeit zeigte Tamara Grcics 1998 auch in der Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen, jedoch war ihr eine zweiteilige Installation gegenübergestellt, die als eine Art Bindeglied zu ihren neuesten, aus mehreren Projektionen bestehenden Rauminstallationen („Boxer“, 1998 und „Turf“, 1999) verstanden werden kann. Ein 16 mm-Projektor projizierte als Loop eine Aufnahme jener Körperstelle, die sich zwischen Schlüsselbein und Brust befindet. Die zunächst schwer definierbare Aufnahme unterlag verschiedenen irritierenden Tempo-Wechseln. Die gefilmte Hautpartie bewegte sich mal langsamer, mal schneller, kurzfristig gehetzt, um im nächsten Moment fast kontemplative Ruhe auszustrahlen. Die ungeschützte Körperstelle wirkte durch die unterschiedlichen Bewegungstempi noch verwundbarer, was durch die konstante Geräuschkulisse einer unablässig ratternden Nähmaschine im Gleichklang mit dem monoton surrenden Projektor ins fast unerträgliche gesteigert wurde.

Die in dieser Arbeit anklingenden Spannungsfelder menschlicher Befindlichkeiten zwischen den Polen Distanz–Nähe, Stärke–Verletzlichkeit, Gewalt–Gefühl werden auf sinnlich-ambivalente Weise in der bereits erwähnten mehrteiligen Projektion „Boxer“, die im vergangenen Jahr in der Galerie für Zeitgenössische Kunst zu sehen war, thematisiert. Im zentralen Raum im Erdgeschoß der Galerie wurden drei gleich große Ausschnitte von unbekleideten männlichen Rücken nebeneinander projiziert. Die Größe und unmittelbare Aneinanderreihung der drei Projektionen machte eine Wahrnehmung der Bild-Wand als Ganzes fast unmöglich. Ausschnitthaft zeigten sie die nackten Rückenpartien von an Sandsäcken trainierenden Boxern. Über Lautsprecher waren die dumpfen Schläge, das schnelle Atmen der Boxer zu hören, wobei dem Ton durch seine Lautstärke eine fast physische Qualität zukam. Die Enge des abgedunkelten White Cube generierte eine klaustrophobe Atmosphäre, die durch die überproportional großen, sich wild bewegenden, zuckenden Körpern noch verstärkt wurde. Die abstrakten Rückenpartien bewegten sich ungleichmäßig, kraftvoll und doch grazil. Der glänzende Schweiß überstrahlte die sich kontrahierenden Muskeln. Die unterschiedlich schnellen Bewegungen ließen die gesamte Wand flimmern, obgleich sich ab und zu die pulsierenden Bewegungen zweier Projektionen für einen kurzen Moment synchronisierten. Für den Bruchteil eines Augenblicks verschmolzen die gegenläufigen Bewegungen und verlangsamten sich zu fast tänzerisch anmutenden Gesten. Die abstrakt wirkenden Bilder wurden durch den unangenehm präsenten Ton auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Körper begannen zu schwitzen, ihr Kampf gegen sich selbst schien sich endlos fortzusetzen, während Farbe, Form, Ton und Bewegung einen vielschichtigen Erlebnisraum schufen, der zwischen der ambivalenten Gegensätzlichkeit bzw. Gleichzeitigkeit von Stärke und Verletzlichkeit oszillierte.

In Grcics jüngste Arbeit „Turf“, die im Westfälischen Kunstverein in Münster im Sommer dieses Jahres zu sehen war, scheint sie noch einmal näher auf das Motiv zuzugehen bzw. dieses heranzuzoomen. Das Motiv des in extremer Nahsicht aufgenommenen sich bewegenden Körpers (in diesem Falle sind es Pferde, wie sie auf dem Vorführparcours vor und nach dem Galopprennen laufen) wirkte in den Einzelbildern jedoch bisweilen so abstrakt und aufgelöst, daß die Perzeption weniger erkennend, sondern fast nur ahnend stattfinden konnte. Die in fünf Projektionen sich in die Tiefe des Raum erstreckende Installation folgte einer einheitlichen Bewegung von links nach rechts. Die Grazie der sich geschmeidig bewegenden Körper, ebenso wie die konzentrierte Muskelkraft, die sich in heraustretenden Adern abzeichnete, wie auch der Glanz der nach dem Rennen schwitzenden Tiere wurde im Raum als ästhetisches Gesamtereignis choreographiert, das als solches auf sich selbst verwies und ebenso, wie in den zuvor beschriebenen Arbeiten, in ihrer assoziativen Präsenz einen ambivalenten Schwebezustand schuf, bei dem das Pendel der Affekte nicht schwerelos im Raum-Zeit-Kontinuum verharrte, sondern den Betrachter in einen kalkulierten Sog von Authenzitätserfahrungen zog.

veröffentlicht in: artist Kunstmagazin, Heft Nr. 41, 10/1999

© 1999 Jan Winkelmann

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