"Waiting for the Barbarians" – Kendell Geers

Jan Winkelmann

Er haßt den Kunstbetrieb. Im Palazzo Grassi pinkelte er in Duchamps „Urinoir“. Im Rahmen der Ausstellung „Crap Shoot“ ließ er Rudi Fuchs eine Woche lang von einem Privatdetektiv beschatten. In Glasgow sprengte er ein Loch in die Wand des Museums. Er wichste auf ein Hustler Centerfold und hängte es anschließend gerahmt in eine Ausstellung. Die metallene Identitäts-Marke um seinen Hals wird nach seinem Tod meistbietend versteigert und viele Titel seiner Arbeiten enthält er dem Publikum mit dem Hinweis „Title Withheld“ vor. ... Die Rede ist von einem feinsinnigen, oftmals schüchtern wirkenden, redegewandten und belesenen Südafrikaner namens Kendell Geers.

Der hier anklingende Widerspruch zwischen Persönlichkeit und Werk ist weniger diskrepant als dies zunächst scheinen mag. Geers künstlerische Strategie basiert auf präzise konstruierten Schockmomenten, die den Betrachter in seinen natürlichen Wahrnehmungsgewohnheiten mit unmittelbaren und verstörenden Bildern aus dem Gleichgewicht bringen und nachhaltig befremden. Als eine Form des Widerstands entwickeln Geers Eingriffe im Kunstkontext gleichzeitig auch Bedeutung für die Wirklichkeit außerhalb dessen. Dabei spielen mediale Codes, populärkulturelle und historische Referenzen eine ebenso große Rolle, wie sein eigener kultureller Background und der politischen Kontext, dem er entstammt und ohne den sein Werk in seinen komplexen und hoch politischen Implikationen nicht zu verstehen ist.

Geers Arbeiten reflektieren immer den spezifischen Kontext in Form von Raum, Ort und Zeit, für den oder in dem ein Projekt entsteht. Nicht selten bilden diese Faktoren unterschiedliche Subtexte, die seinen Arbeiten eingeschrieben sind und sie als ortsspezifische Setzung interpretierbar machen, diese im gleichen Moment aber auch davon losgelöst lesbar werden lassen. Das Projekt „Waiting for the Barbarians“ vereint einige dieser Spezifika auf paradigmatische Weise.

In der Nähe des einstigen Zisterzienserinnenklosters Gravenhorst soll ein quadratischer Irrgarten mit einer Kantenlänge von 30 Metern und einer Gesamtfläche von 900 Quadratmeter errichtet werden. Die Wände des Irrgartens sind in Form von Grenzzäunen geplant, dessen Abschluss in drei Metern Höhe eine Spirale sogenannten Widerhakensperrdrahts, wie er zur Sicherung von Ländergrenzen und Militäranlagen verwendet wird, bildet. Das Zentrum der Anlage markiert ein Grenzturm der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, der sich über die Zäune erhebt und von dem aus die labyrinthischen Wege überblickt und „entschlüsselt“ werden können. Nach der Fertigstellung der Anlage ist es vorgesehen, die Zäune mit Efeu zu bepflanzen.

Der von Geers für dieses Projekt gewählte Ort ist in mehrfacher Hinsicht für die Form, Gestalt und die komplexen inhaltlichen Implikationen und Referenzen der Arbeit von Relevanz. An ihm verbinden sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft sowohl auf reale, wie auch auf metaphorische Weise.

Der Teutoburger Wald wurde als Austragungsort der „Varus-Schlacht“ zum Symbol des Sieges der „barbarischen“ Germanen über die römischen Legionen, aufgrund dessen sich die Grenze des Römischen Reiches und damit ihr Einflussbereich unterhalb des Rheins verschob. Ein weiteres geschichtsträchtiges und für die territoriale Neuordnung Europas folgenreiches Ereignis in dieser Region, war der Westfälische Friede, der 1648 den 30-jährigen Krieg beendete und die Aufteilung Europas in souveräne Einzelstaaten zur Folge hatte. Die hier angeführten militärischen Auseinandersetzungen bzw. die durch sie hervorgerufenen weitreichenden territorialen und hegemonialen Veränderungen verdichten sich symbolhaft in Form des Widerhakensperrdraht-Zauns, der als ein Instrument der Ein- und Ausgrenzung diese Funktion auch in seiner martialisch anmutenden Erscheinung transportiert. Die vorgegebene Ästhetik schließt sowohl potentielle Handlungsfelder als auch mögliche Aktionsmechanismen ein und öffnet als ein eindringliches und stark emotionalisierendes Bild unterschiedliche, in erster Linie negativ aufgeladene Assoziations- bzw. Bezugsfelder. In seiner Form verweist der Irrgartenzaun nicht zuletzt auch auf den ihm zugrunde liegenden Produktions- respektive Installationsprozess - er sollte, was einen integralen Bestandteil der Arbeit bildet, von der Bundeswehr aufgebaut und installiert -, womit Geers die Organisatoren und ihre politischen und administrativen Verbindungen bei der Realisierung des Projektes auf subtile Weise instrumentalisiert.

Daneben verweisen sowohl der Widerhakensperrdraht selbst als auch der Titel der Arbeit auf den sozio-historischen Kontext dem Geers entstammt. Der von dem südafrikanischen Autor J.M. Coetzee 1980 veröffentlichte Roman „Waiting for the Barbarians“ erzählt die Geschichte eines provozierten Grenzkonfliktes zweier südafrikanischer Kleinstaaten und des damit verbundenen menschlichen Leids. Anhand des Schicksals seines Protagonisten exemplifiziert Coetzee Fragen nach der Würde und Mitverantwortung des Einzelnen in einem Regime, das sich über Recht und Anstand hinwegsetzt. In ähnlicher Weise impliziert die spezielle Form des Stacheldrahtes die ihm inhärenten spezifischen Funktionsmechanismen. Als eine Erfindung des Apartheid-Regimes, diente er den dortigen Sicherheitskräften als ein einfach handhabbares, schnell zu installierendes und probates Mittel, um größere Areale innerhalb kürzester Zeit abzusperren und so auf einfache Weise kontrollierbar zu machen. In diesem Sinne repräsentiert der „Razorwire“ eine institutionalisierte Politik der Regulierung und Kontrolle von Zugangsmöglichkeiten. Die Präsentation in einem anderen politischen Gefüge führt zu einer Bedeutungsverschiebung vom konkreten funktional-repräsentativen Zeichen zu einem allgemeingültigeren Bild, das in der spezifischen Form eines Irrgartens, weitere Assoziationsfelder und Zuschreibungen impliziert.

Über diese, dem „Material“ innewohnenden Bezugs- und Interpretationsfelder hinaus, erschließen sich durch die Geschichte und Gegenwart des konkreten Orts weitere Deutungsebenen. Einerseits liegt der von Geers präferierte Ort in der Nähe des so genannten „Nonnenpättchens“, der den Bewohnerinnen des Klosters damals als Fluchtweg vor einfallenden Angreifern zum nahe gelegenen Dorf diente. In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung der Region für die christlichen Pilger auf ihren Reisen nach Santiago de Compostella von Bedeutung, deren strapaziöser Weg zur Erlösung sehr oft bildhaft in Form eines Labyrinths symbolische Verwendung findet. Auf der anderen Seite wird das ehemalige Kloster in den nächsten Jahren in ein Mitspielmuseum für Kinder umgewandelt, womit dem seit Jahren leerstehenden Gebäudekomplex eine neue Funktion zukommt und dadurch als ein Ort der Kommunikation und Wissensvermittlung wieder belebt wird. Geers Irrgarten ist also sowohl als eine Art Addendum der ohnehin vorgesehenen Nutzung als ein Erlebnis- und Spielmuseum für Kinder zu verstehen, wie er andererseits auch einen Ort symbolisch markiert, der im Laufe seiner Geschichte sowohl religiöse Bedeutung hatte, wie er auch unterschiedliche kriegerische Auseinandersetzungen erlebte.

Geers „Waiting for the Barbarians“ ist eine Art Antimonument der unzähligen Grenzen auf dieser Welt, die Länder und Menschen teil(t)en und in zahllose Streitigkeiten und Kriege verwickelt(e) und gleichzeitig auch ein Ort der spielerischen Aneignung, der Suche nach dem richtigen Weg und im übertragenen Sinne ein Bild der Sinnsuche mit ihren unzähligen Umwegen und Einbahnstraßen. Der technoide Irrgarten wird seine martialische Gestalt so lange behalten, bis sich die grüne Anarchie in Form des Efeus dieses Bauwerks bemächtigt hat und die natürliche Flora die Anlage mit einem biologischen Mantel des Schweigens überzieht, ohne sie jedoch wirklich gänzlich zum Verschwinden und somit zum Vergessen zu bringen.

Veröffentlicht in: Skulptur-Biennale Münsterland, Ausst.kat. Kreis Steinfurt (Vice Versa Verlag, Berlin), 2001.

© 2001 Jan Winkelmann

Englische Version

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