Norbert Kricke hat einmal über
die Kunst gesagt, daß sie vielleicht nur ein Gespräch der Welt
mit sich selbst ist, durch das Medium Künstler. Dies könnte auch
für eine Ausstellung zutreffen, die gestern Abend in Singen am Hohentwiel
in einem ehemaligen Umspannwerk eröffnet wurde. 21 Künstlerinnen
und Künstler präsentieren unter dem Titel "fast nichts/almost
invisible" ein Konzept, das Jan Winkelmann, freischaffender Kurator in
Mannheim, entwickelt hat.
"Es geht hier um die große Lücke zwischen Präsenz und Absenz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit." (Winkelmann) Man könnte auch sagen, es geht um fast unsichtbare Kunst. Was könnte das sein? Klein aber fein, trifft die Sache nur halb. Klein stimmt, wenn es etwa um die Formate der Bilder des russischen Künstlers Anatolij Shuravlevs geht. An einer 40 oder 50 Meter langen und zehn Meter hohen Wand hängen drei 4 x 9 mm, also fingernagelgroße, Photographien von Landschaftsgemälden. Leicht zu übersehen ist die fast unsichtbare Kunst. Wie sich denken läßt, ist sie demjenigen Herausforderung, der seine Wahrnehmung aktiviert.
In einem Gebäude, dessen Wände hunderte von Quadratmetern weiße Fläche bieten, hängt zum Beispiel eine Plexiglasscheibe, etwa in DIN A 4-Größe. "Es wird ein Stück Wand sichtbar, nicht nur weil es eingerahmt ist, sondern auch weil es sich hinter Glas befindet, dem man normalerweise keine große Aufmerksamkeit schenken würde." (Winkelmann) Nun steht man davor, überrascht, diese Arbeit fast übersehen zu haben. Auch mit der Skulptur Erwin Wurms könnte das passieren. "Wir sehen hier eine Staubskulptur. Wobei Skulptur vielleicht fast zu viel gesagt ist. Es ist eigentlich nur die Spur dessen, was einmal dort stand. Sie kennen ja das Phänomen. Wenn man ein Bild lange an einer Wand hängen hat und es abnimmt, sieht man einen Rand. Wo das Bild hing, befindet sich noch die ursprüngliche Wandfarbe, daneben Staub und Schmutz. Dasselbe findet hier auf dem Boden statt. Es ist nur Staub zu sehen, der sich um eine rechteckige Fläche angesammelt hat. Man kann sich nun überlegen, was dort wohl einmal gestanden haben könnte. Es geht hier im Grunde genommen um skulpturale Probleme, wie Dreidimensionalität und Raum. Nur daß hier die Dreidimensionalität in die Zweidmensionalität übergeht, da sie nur auf dem Boden zu sehen ist." (Winkelmann) Die Arbeit des Betrachters, die dritte Dimension sich dazu auszudenken, findet in dessen Kopf statt.
Das Spiel um Wahrnehmung und Assoziation ist der rote Faden der Ausstellung. Jan Winkelmann präsentiert dazu Arbeiten von 21 Künstlerinnen und Künstlern aus Europa und den USA. Sie testen die Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Zeitgenossen. Ist sie nicht gut genug entwickelt, bleibt allerdings der Kunstgenuß auf der Strecke. "Der normale Ausstellungsbesucher, der nicht in besonderem Maße sensibilisiert ist, wird, wenn er die Ausstellung nicht sehr aufmerksam betrachtet, auf den ersten Blick fast nichts oder sogar überhaupt nichts sehen." Dem im Ansatz zu begegnen, wird dem Ausstellungsbesucher ein Plan in die Hand gedrückt, in dem die Stellen mit Titel der Werke und Namen der Künstler markiert sind, wo die einzelnen Arbeiten zu sehen sind.
Den kleinen Farbtopf, der wie vergessen auf einem Wandvorsprung stehengelassen zu sein scheint, sollte man eigentlich in die Hand nehmen "Im ersten Moment denkt jeder, er ist echt. Erst wenn man ihn in die Hand nimmt was jedoch nicht erlaubt ist merkt man, wie leicht er ist, weil er nicht aus Plastik, sondern aus Polyurethanschaum gefertigt ist. Der Betrachter muß schon sehr genau hinschauen, um zu sehen, daß er tatsächlich von Hand geschnitzt und bemalt wurde, weil er so verblüffend echt aussieht."
Wer die etwa 2000 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf drei Etagen, lange schmale Gänge, größere und kleine Räume durchwandert, vorbei an Galerien von Kojen und Überbleibseln einstiger Funktionalität des Industriebaus, vorbei an Schalttafeln, Sicherungskästen und Kabelsträngen, kann, bei großer Neugierde und noch größerer Aufmerksamkeit, auf seine Kosten kommen. Man kann das Abenteuer fast nichts zu sehen durchaus auskosten und darüber reflektieren, inwieweit sich eine in den Ausstellungsräumen ausgebreitete "vermeintliche Leere", wie es der Ausstellungsmacher formuliert, "als intensive Präsenz von Ideen, Gedanken und Konzepten erweist".
Elisabeth Erdmenger