Ein grauer Bahnhof, irgendwo in der Ex-DDR-
und Jetzt-BRD-Provinz an einem winterlichen Sonntag Morgen im Jahr 1 des
ausgebliebenen Y2K-Bugs. Der Blick aus dem Fenster des leeren interregionalen,
in harmonischen Sandtönen gehaltenen Großraumabteils offeriert
ein beachtliches Dreivierteldepressionspotential. Das einzig halbwegs Beruhigende
bietet die akustische Untermalung dieser präapokalyptischen Szenerie
durch Thievery Corporations "The Mirror Conspiracy" im Laufwerk des mobilen
Schreibwerkzeugs. Erinnerungen an buntere Zeiten kommen auf, da die graugraue
neblige Landschaft gleich einer Projektionsleinwand am Fenster vorbeischwebt.
Gleichzeitig scheint sie das endlos in die Länge gezogene Setting
einer mittels künstlichem Nebel zu einem Wasteland-Szenario arrangierten
leeren Bühne. Der Schreibende imaginiert in Anlehnung an eine von
ihm kürzlich beigewohnte Performance inmitten des mit Raureif überfrorenen
Feldes eine Gruppe von 200 halbnackten Gogo-Girls sich zu den Rhythmen
von ABBA's "Dancing Queen" immer weiter ihrer textilen Verhüllungen
entledigen. Die vollschlanke Bedienung aus dem Mitropa-Restaurant offeriert
durch den Zug stolpernd den für Züge so typischen löslichen
Kaffee mit Holzstäbchen zum Umrühren, der dem an sich schon unnachahmlichen
Geschmack des Kaffees eine weitere unübertreffliche Geschmacksnote
hinzufügt. Umsteigen. Wittenberge, der Bahnhof nicht weniger trostlos
als das bereits an diesem Morgen erlebte Menschenvakuum. Der stahlblaue
Metallic-Nagellack jener den Fahrschein stumpfsinnig mit der Lochzange
entwertenden Zugbegleiterin erinnert an eine erst vor kurzem gesehene Trashfilmszene:
Der Held in einer farblich zum Nagellack der Zug-Stewardess trefflich harmonisierenden
metallblauen Latexhose nahm die abendliche Eroberung mit zu sich nach Hause
in sein doppelstöckiges Loft, um im Moment der höchsten erotischen
Verdichtung zu erleben, wie diese sich in mehr als ihr Gegenteil verwandelte,
als die sowieso nur ob des alkoholisierten Zustandes als "Gewinn" wahrgenommene,
leicht aufgeschwemmte Blonde urplötzlich innehält und erklärt,
dass sie nun leider ganz schnell ihre täglich notwendige Collagen-Injektion
vornehmen müsse, um ihre Lippen wieder entsprechend in Form zu bringen,
dass diese sie jedoch nicht weiter beeinträchtige und man ja gleich
im Anschluss unverrichteter Dinge an der jäh unterbrochenen Stelle
weiter fortfahren könne. Aber irgendwie ist dann doch "Something Sligthly
Different/From the Beginning after the End", um den Titel einer Ausstellung
ins Gespräch zu bringen, die am Beispiel von Lolo Ferrari exemplifizierend
Aspekte der Realitätsformung und deren Künstlichkeit thematisierte,
die den Menschen nicht nur als Subjekt seiner eigenen Selbstkonstitution
zeigen, sondern in erster Linie als ein zunehmend artifizielles Produkt
zahlreicher Faktoren, die sich im wesentlichen in Abhängigkeit zu
soziokulturellen Zusammenhängen bzw. Verhaltensmustern und Inszenierungsmechanismen
definieren, wie sie in den Massenmedien, der Welt des Konsums, der Brands,
der Hoch- und Semihochglanzmagazine täglich vorexerziert werden. In
diesem Sinne seien hier exemplarisch die Worte der oben erwähnten,
bereits verblichenen Silikonschönheit wiedergegeben: "There are moments
when I disconnect from reality. Then I can do anything, absolutely anything.
I swallow pills. I throw myself out of the windows. Dying seems very easy
then. I really hate reality. I want to be wholly artificial. I adore being
operated on." Willkommen in der totalen Degeneration. Künstlichkeit
erlöse uns von den Übeln der Realität. Ihr werdet schon
noch sehen, was dabei herauskommt.
Die gezuckerte Landschaft vor dem grünlich
getönten mittlerweile Intercity-Fenster erinnerte an eine
nächtliche Odyssee. Erst kürzlich, auf dem Heimweg von einem
feudalen Abendessen im aristokratischem Ambiente eines am Elbhang gelegenen
Schlosses, das er zwischen einem unablässig schwatzenden Intellektuellen
zur Linken und einer zwar heiteren, jedoch viel zu schüchternen PR-Managerin
zur Rechten genoss, obgleich er sich an diesem Tage nicht auf dem Höchststand
seiner charmanten Small-Talk-Fähigkeiten befand. Jedenfalls imaginierte
er auf der gänzlich von Neuschnee bedeckten Autobahn, die verzückende
Vorstellung den weißen Straßenbelag in Form von bolivianischem
Marschierpulver und Tausende von Menschen, kniend oder liegend sich dieses
mit Hilfe unterschiedlichster das Riechorgan verlängernder Prothesen
schniefend und saugend gierig einzuverleiben. Dabei bereitete ihm die Vorstellung
besondere Freude, wenn es sich hierbei um ein Publikum handeln würde,
das sich in erster Linie aus dem nicht gerade selten dieserlei hedonistischen
Praktiken frönenden, an sich schon geschwätzigen Kunstmischpoche
rekrutiert und dabei vor lauter Gier vergisst, wie sinnbildhaft sie sich
dem weißen Pulver, einem Götzen anbetend gleich, überantworten.
In nicht unähnlichem Maße erheiterte ihn die Vorstellung einer
Massenhalluzination beim Sammeln von psychoaktiven Pilzen in den tschechischen
Wäldern. Während durch die spärlich belaubten Zweige am
Himmel eine von der Fliegerstaffel des nahe gelegenen Militärflughafens
mit buntem, gleich Fähnchen den Flugzeugen hinterher gezogenen Rauch
der in den Himmel geschriebene Slogan "I love drugs" sichtbar wird, der
von einer besseren Zeit oderwasweißich künden soll, aber letztlich
doch nur den missglückten Versuch darstellt, in Form von gut
gemeinter jedoch leider "nur" gemeinter Vereinnahmung des eigentlich
aus dem Bereich des Tourismus-Merchandising entlehnten "I love..." (...Heidelberg,
...NY, ...Kufstein) auf die Sorglosigkeit im Umgang und die Normalität
von körperfremden stimulierenden Substanzen hinzuweisen. Dies trifft
bekanntermaßen insbesondere aber wiederum nicht ausschließlich
- auf eine Generation von um die Zwanzigjährigen zu, die im Zuge
der zum platten Mainstream degenerierten Techno-Kultur seit Beginn der
90er Jahre die unreflektierte Sehnsucht nach Momenten von Authentizität
im Zusammenklang von basstreibender Musik, ekstatischem Tanz und nicht
zuletzt durch die verstärkende Wirkung synthetischer Drogen zu stillen
versuchen, um sich verklärt der Fiktion eines unmittelbaren Wirklichkeitsrausches
hinzugeben. Eigentlich sollte jede Pille Extasy mit einem Beipackzettel
folgenden Wortlauts versehen sein: "Wir heißen Sie recht herzlich
willkommen beim Vielfliegerprogramm Higher and Higher. Für Ihre
Illusionen sind sie leider selbst verantwortlich. Die Wahrscheinlichkeit,
dass es Ihnen morgen beschissen geht, ist relativ hoch. Dennoch wünschen
wir Ihnen viel Spaß und eine sichere Landung."
Die schräg gegenüber sitzenden,
mit schwarzen Rollmützen ihren rasierten Schädel bedeckenden
Bodybuilder scheinen zwar keiner dieser im letzten Absatz genannten Leidenschaften
zu frönen, jedoch anderen körperfremden, im Falle von oraler
und/oder intravenöser Zusichnahme in Kombination mit hartem Hantel-Training
durchaus sichtbare und effektvolle körperliche Veränderungen
hervorrufenden Stoffen in ihrem bisherigen Leben nicht entsagt zu haben.
Sie unterhalten sich amüsiert über einen Typen, den sie vor ein
Paar Tagen besuchten, um ihn zwar höflich aber mit gegebenem Nachdruck
darauf hinzuweisen, dass dessen kürzlich im heiterbeschwingten Ambiente
einer Luxusdisco eroberte "Mieze" (O.-Ton) sich leider im Besitz (!) ihres
wenig zu Scherzen aufgelegten und überaus durchsetzungsfähigen
Auftraggebers befindet. Aus diesem Grunde wäre es doch ungemein schade,
wenn die sich ob der bisherigen Unwissenheit des smarten Jünglings
gerade ankündigenden Missstimmungen von Seiten ihres Bosses weiter
zunehmen und infolgedessen die zu erwartenden Reaktionen seinerseits sich
zu einem nicht mehr überschaubaren Risiko für den Seitenscheitelträger
entwickeln würden. Ob dieses bisher nur aus Film und Fernsehen ihm
bekannten und aus diesem Grunde ihn auch nachhaltig beeindruckenden Szenarios
schien sich der gute Junge entschlossen zu haben, die auf ihn zwar einen
sympathischen aber nicht wirklich unendlich wichtigen, ein solches Risiko
nur bedingt rechtfertigenden Zauber ausübenden Frau mit sofortiger
Wirkung aus seinem unmittelbaren Lebensumfeld zu verbannen. Die beiden
Rollmützenfreaks scheinen mit dieser unsäglichen Anekdote demnächst
zu Gast bei einer nachmittäglichen Talk Show zu sein. Mediale und
reale Realität verschmelzen auf immer beeindruckendere Art und Weise.
Andy Warhols Vision: "In the future everybody will be famous 15 minutes"
ist bereits längst zum Fluch für eine ganze Generation von sensationsgeilen
Minimaldenkern geworden. Andy würde sich angesichts dieser Auswüchse
wohl im Grabe drehen, mag der aufgeschlossene Bildungsbürger denken.
Weit gefehlt! Wahrscheinlich würde er jubelnd vorm Fernseher sitzen
und TV-Rezeption zur ausschließlichen Realitätserfahrung erklären,
denn genauso sieht seine Realität gewordene Prophezeiung aus. Bisher
hatte sich nur niemand vorstellen können, wie diese bemitleidenswerte
Form des Fünfzehnminutenruhmes tatsächlich aussehen könnte.
Ein weiteres Beispiel gesteigerten Darstellungsdranges, gepaart mit einem
fernsehtauglich aufbereiteten aber leider nicht wirklich authentisch wirkenden
Betroffenheitsgestus von Seiten des Moderators, flimmert gerade über
einen der acht Monitore in der Business Lounge des Frankfurter Flughafens.
Eine junge Dame erzählt die unglaubliche Geschichte ihrer Odyssee
mit einem südeuropäischen Urlaubsflirt in deren Folge sie unmenschlich
misshandelt wurde und letztlich nur mit sehr viel Glück diesem Martyrium
wieder zu entkommen in der Lage war. Schockierend genug war hier eigentlich
schon ihre Geschichte, doch der lockere Plauderton, in dem sie diese vortrug
und wie diese mit des Moderators gespielter protestantischer Betroffenheit
pariert wurde, ließ das Ganze unerträglich wirken und machte
es zu einem Paradebeispiel pervertierter Fernsehkultur, die ganz ähnlich
den obengenannten bacchantischen Hedonisten sich auf einer Sehnsucht nach
authentischer Wirklichkeitserfahrung gründet und dabei die chronischen
Hoffnungsmangelerscheinungen einer Gesellschaft in der Verlorenheit einer
ganzen Generation in den Labyrinthen der Gegenwart vortrefflich abbildet.
Das Spannungsfeld von persönlicher
und sozialer Identität, die Ambivalenz zwischen Ich-Sucht und Wir-Gefühl
treibt bisweilen und gelegentlich absonderliche Blüten. So geschah
es auch einem nachhaltig verhinderten Liebespaar im weiteren Bekanntenkreis,
das über Jahre nicht zueinander fand, weil sie, deren Herz er mit
einem in memoriam ihres ersten Kusses bei Boney Ms Uralthit "Sunny" nachkomponierten
und per SMS auf ihr Handy geschickten Klingelton ebendieses Songs zu gewinnen
begann, gefangen in den Konventionen ihrer Erziehung und im Korsett eines
ihr schmeichelnden sozialen Status in Form einer zwar nicht wirklich glücklich
machenden aber dennoch eine Menge an Sicherheit bietenden und deshalb auch
überaus bequemen Beziehung, den entscheidenden Schritt zu machen nicht
in der Lage war. Die letztlich als reine Projektion sich herausstellende
Imagination einer gemeinsamen Zukunft a la "Und wenn sie nicht gestorben
sind..." implodierte wie ein kleines Universum, als die Dame sich plötzlich
unbeabsichtigt in anderen Umständen wieder fand, wohlgemerkt wurde
dieses Unbill nicht von dem bislang so geduldig Wartenden verursacht. Der
Plan für einen Suizid mittels eines aus der Uniklinik entwendeten
und mit einer Kultur von Cholerabakterien gefüllten Reagenzglases,
das der charmante Antiheld zu trinken beabsichtigte, erschien ihm im letzten
Moment zu introvertiert und nicht wirklich spektakulär genug. Stattdessen
kaufte er sich lieber eine neue Gucci-Brille und poppte mit ihrer Schwester.
Einmal mehr gerierte sich hier auf exemplarische Weise die Welt der vermeintlich
tiefen, ehrlichen und wahrhaftigen Gefühle als eine Bühne von
Konstruktionen, die eine hauptsächlich durch äußere Einflüsse
generierte Realität darstellt. Die eigene Wahrnehmung von sich selbst
und der Wirklichkeit in Beziehung zu der sie gestaltenden unmittelbaren
sozialen Umgebung wird leider viel zu selten hinterfragt, wie auch die
unterschiedlichen Mechanismen und Strategien der sozialen und kulturellen
Meinungs- und Wertebildungsmaschinerie, wie sie für die Welt am Beginn
des neuen Jahrtausends kennzeichnend sind, in den seltensten Fällen
nachhaltig reflektiert werden. Die unkritische Affirmation von unterschiedlichen
medial vorgegebenen Erfahrungen aus dem Bereich der Werbung, des TV und
des Kinos, als auch von Versatzstücken der Populärkultur, in
der die Oberfläche in Form von Konsumexzessen in einer Welt der "Mental
Prisons" und "Mindsets" geradezu obsessiv zelebriert werden, nimmt einen
größeren Stellenwert ein, als kontemplative Reflexion und die
Besinnung auf innere Werte. Das führt leider oftmals zu so tragischen
Begebenheiten, wie der oben beschriebenen. Amen.
Abflug. Scheiße. Kein Wunder, dass
die Economy-Class-Reisenden wie man bisweilen immer häufiger
liest an plötzlich auftretenden Thrombosen sterben. Hinter mir
sitzt ein Typ, der sich dauernd ob meiner bis zum Anschlag nach hinten
geklappten Lehne beschwert. Vollidiot! Trotz des absoluten Telefonverbotes
hat dieser sein Handy angeschaltet, um eine überaus wichtige Nachricht
los zu werden. Offensichtlich geht es um einen Text, der noch nicht geschrieben
ist und der allerhöchste Zeit wird geschrieben zu werden:"Was soll
der Scheiß jetzt mit dem Text. Jetzt habe ich dich hundertmal gebeten
das Ding fertig zu machen. Es wird jetzt echt Zeit, wir müssen das
Buch endlich produzieren." Mit Stirnrunzeln und Entsetzen auf dem Gesicht
eilen die charmanten Flugbegleiterinnen dem das Handyverbot in Flugzeugen
so sträflich missachtenden Jüngling mit Kamm in der rechten Gesäßtasche
entgegen. Ich kläre die Situation, indem ich dem Aufgebrachten einen
Drink an der Bar vor dem Notausgang spendiere. Bisweilen in ähnlicher
Situation mit drängelnden Redakteuren und künstlich nach vorne
gesetzten Abgabeterminen konfrontiert, schildere ich ihm die andere Seite
der Textproduktion. "... und wenn man dann zur absolut letzten und überhaupt
nicht mehr aufzuschiebenden Deadline glücklich den nach durchschriebener
Nacht, mit müdigkeitsbedingten Halluzinationen korrekturgelesenen
Text im RTF gespeichert und attached per Email abschickt hat, verwundert
es bisweilen doch etwas, wenn dann geringfügige Änderungen noch
bis fast drei Wochen nach dem so absoluten Redaktionsschluss möglich
sind. Aber davon einmal abgesehen, kommt es ihnen nicht auch manchmal so
vor, als dass es bei vielen Texten nicht besser gewesen wäre, sie
hätten in Form von Druckerschwärze auf weißem Papier nie
das Licht der Welt erblickt?" Im Gegenzug zu meinem Dozieren erzählt
er mir von seiner Freundin, deren Namen ich nicht mehr memoriere, lediglich
die Tatsache, dass dieser auf einen Typ namens Sichem aus dem Alten Testament
zurückgeht, dessen Geliebte sie einst war, ist mir im Gedächtnis
geblieben. Anyway, wir ordern einen Mango Madness wobei die Flugbegleiterin
zuerst nicht wusste, um was für einen Drink es sich dabei handelte.
Wir hätten es auch vielen anderen gleichtun können, indem wir
einen Tomatensaft bestellen. Haben Sie sich schon einmal überlegt,
warum im Flugzeug so viele Leute Tomatensaft trinken? Würde man das
auf den prozentualen Verbrauch der Bevölkerung hochrechnen, wäre
es am Ende womöglich eine hervorragende Idee für einen Start-up:
"Let's produce tomato juice". Leider mag ich keinen Tomatensaft. Allerdings
liebe ich Tomatensuppe, insbesondere jene glasklare Tomatensuppe, die mein
Vater in Perfektion zuzubereiten weiß. Gustatorisch liegen Welten
zwischen dieser und der sämigen Tomato Soup von Campbells, die kürzlich
gereicht wurde, als man zu Gast bei einem von Andy Warhols ehemaligen Superstars
war. Ein ziemlich kalter Morgen. Das Taxi hält irgendwo an der 89.
Straße. Eine durchlebte Nacht ging dem Morgen voraus. Irgendwo in
einem ziemlich geilen, very fancy Club, Scharen von glamouros und extremely
sexy Girls, lots of sich dauerhaft zum Selbstzweck produzierende Drag Queens,
hottest House Music und viele in erster Linie chemische Stimulanzien erzeugen
multiple synästhetische Sensationen und halten den Laden in Fahrt.
Das Studio 54 muß im Vergleich hierzu eine Art Kindergeburtstag
mit Topfschlagen gewesen sein. Mein Begleiter scheint mit dem bis zum
Bauchnabel aufgeknöpften Hemd eine persönliche Referenz an die
wilde Zeit in den 70er Jahren erweisen zu wollen. Der Abend, die Nacht,
der Morgen: eine fortwährende Sozialstudie. Die Celebrity Machinery
dreht auf höchsten Touren, dazu das Konsumkarussell in atemberaubendem
Tempo ... here comes the Supernova ... nonverbale Zeichensysteme verdrängen
die verbale Kommunikation, die übermächtigen Lifestyle Codes
der Prestigekonsumenten erobern souverän die Macht für diese
Nacht ... der Tanz um Tausend Goldene Kälber ... Welcome to the Pleasuredome!
Schnitt. Ich bin 10 Minuten zu spät. In der Hand ein blutiges Taschentuch.
Ahoi! Der dieses Treffen arrangiert hat, steht fröstelnd in der Morgensonne,
in der Hand einen Blumenstrauß in den Landesfarben der südwesteuropäischen
Heimat der uns zum Frühstück erwartenden vornehmen alten Dame.
Der uniformierte Doorman kündigt unser Kommen telefonisch an, ein
Fahrstuhl bringt uns zum Penthouse mit Blick über den zugefrorenen
Central Park. An der Wand hängt eine ca. drei mal drei Meter große
Version von Drellas "Flowers", daneben, wie überhaupt im Rest der
Wohnung, allerhand schräger, zum Großteil antiquarischer Tand.
Meine neben einem persönlichen Interesse in Vorbereitung
auf einen Vortrag über die Factory zusätzlich gesteigerte Wissbegierde
nach Details aus der legendären Zeit in der legendären Factory
um den legendären Warhol beantwortete mir der mittlerweile doch sehr
gealterte Superstar abschlägig mit einem Verweis auf ihr 1990 erschienenes
Buch, mit dem alle meine bereits gestellten und noch nicht gestellten Fragen
beantwortet würden. Statt dessen möchte sie mit uns über
ihre Kunst reden. Ich aber nicht. Der Begleiter, mindestens ebenso derangiert
ob einer durchzechten Nacht, übernimmt souverän die Moderatorenfunktion.
Die fein säuberlich auf dem Küchenschrank aufgereihten Campbells
Suppendosen werden um zwei reduziert, um sie nach der Verköstigung
ihres Inhaltes mit zittriger Schrift von ihr signieren zu lassen. Desillusionierung
auf ganzer Linie. Einst inmitten der künstlerischen Avantgarde ganz
nah am Puls der Zeit, bisweilen diesem weit voraus, daneben an dem damit
verbundenen Ruhm und Glamour partizipierend, ist das heute davon Übriggebliebene
mehr als ernüchternd. Ein Schicksal, dem nicht nur die Entouragen
und Musen von Künstlern teilhaftig werden, sondern das in den meisten
Fällen auch die Protagonisten in ihrem 'Alterswerk' ereilt was
jedoch vornehmlich ein Phänomen des 20. Jahrhunderts zu sein scheint.
Der Besuch des Guggenheim Soho am Tage zuvor hatte diese These bereits
wieder einmal aufs eindrücklichste bestätigt. Warhols "Last Supper"
in allen möglichen und unmöglichen Variationen, geschmäcklerisch,
kommerzialisiert, anämisch, langweilig. Die sorgsam signierte Suppendose
landet auf der 88. Straße im nächsten Papierkorb. Mein Begleiter
verbrachte die darauffolgende Nacht im Emergency Room und verpasste seinen
Rückflug.
Veröffentlicht in: Martin
Eder The Return of the Anti-Soft, Ausst. Kat. Städtische
Kunstsammlungen Augsburg, 2001.
© 2001 Jan Winkelmann