Fly Robin Fly

Jan Winkelmann

Ein grauer Bahnhof, irgendwo in der Ex-DDR- und Jetzt-BRD-Provinz an einem winterlichen Sonntag Morgen im Jahr 1 des ausgebliebenen Y2K-Bugs. Der Blick aus dem Fenster des leeren interregionalen, in harmonischen Sandtönen gehaltenen Großraumabteils offeriert ein beachtliches Dreivierteldepressionspotential. Das einzig halbwegs Beruhigende bietet die akustische Untermalung dieser präapokalyptischen Szenerie durch Thievery Corporations "The Mirror Conspiracy" im Laufwerk des mobilen Schreibwerkzeugs. Erinnerungen an buntere Zeiten kommen auf, da die graugraue neblige Landschaft gleich einer Projektionsleinwand am Fenster vorbeischwebt. Gleichzeitig scheint sie das endlos in die Länge gezogene Setting einer mittels künstlichem Nebel zu einem Wasteland-Szenario arrangierten leeren Bühne. Der Schreibende imaginiert in Anlehnung an eine von ihm kürzlich beigewohnte Performance inmitten des mit Raureif überfrorenen Feldes eine Gruppe von 200 halbnackten Gogo-Girls sich zu den Rhythmen von ABBA's "Dancing Queen" immer weiter ihrer textilen Verhüllungen entledigen. Die vollschlanke Bedienung aus dem Mitropa-Restaurant offeriert durch den Zug stolpernd den für Züge so typischen löslichen Kaffee mit Holzstäbchen zum Umrühren, der dem an sich schon unnachahmlichen Geschmack des Kaffees eine weitere unübertreffliche Geschmacksnote hinzufügt. Umsteigen. Wittenberge, der Bahnhof nicht weniger trostlos als das bereits an diesem Morgen erlebte Menschenvakuum. Der stahlblaue Metallic-Nagellack jener den Fahrschein stumpfsinnig mit der Lochzange entwertenden Zugbegleiterin erinnert an eine erst vor kurzem gesehene Trashfilmszene: Der Held in einer farblich zum Nagellack der Zug-Stewardess trefflich harmonisierenden metallblauen Latexhose nahm die abendliche Eroberung mit zu sich nach Hause in sein doppelstöckiges Loft, um im Moment der höchsten erotischen Verdichtung zu erleben, wie diese sich in mehr als ihr Gegenteil verwandelte, als die sowieso nur ob des alkoholisierten Zustandes als "Gewinn" wahrgenommene, leicht aufgeschwemmte Blonde urplötzlich innehält und erklärt, dass sie nun leider ganz schnell ihre täglich notwendige Collagen-Injektion vornehmen müsse, um ihre Lippen wieder entsprechend in Form zu bringen, dass diese sie jedoch nicht weiter beeinträchtige und man ja gleich im Anschluss unverrichteter Dinge an der jäh unterbrochenen Stelle weiter fortfahren könne. Aber irgendwie ist dann doch "Something Sligthly Different/From the Beginning after the End", um den Titel einer Ausstellung ins Gespräch zu bringen, die am Beispiel von Lolo Ferrari exemplifizierend Aspekte der Realitätsformung und deren Künstlichkeit thematisierte, die den Menschen nicht nur als Subjekt seiner eigenen Selbstkonstitution zeigen, sondern in erster Linie als ein zunehmend artifizielles Produkt zahlreicher Faktoren, die sich im wesentlichen in Abhängigkeit zu soziokulturellen Zusammenhängen bzw. Verhaltensmustern und Inszenierungsmechanismen definieren, wie sie in den Massenmedien, der Welt des Konsums, der Brands, der Hoch- und Semihochglanzmagazine täglich vorexerziert werden. In diesem Sinne seien hier exemplarisch die Worte der oben erwähnten, bereits verblichenen Silikonschönheit wiedergegeben: "There are moments when I disconnect from reality. Then I can do anything, absolutely anything. I swallow pills. I throw myself out of the windows. Dying seems very easy then. I really hate reality. I want to be wholly artificial. I adore being operated on." Willkommen in der totalen Degeneration. Künstlichkeit erlöse uns von den Übeln der Realität. Ihr werdet schon noch sehen, was dabei herauskommt.

Die gezuckerte Landschaft vor dem grünlich getönten – mittlerweile – Intercity-Fenster erinnerte an eine nächtliche Odyssee. Erst kürzlich, auf dem Heimweg von einem feudalen Abendessen im aristokratischem Ambiente eines am Elbhang gelegenen Schlosses, das er zwischen einem unablässig schwatzenden Intellektuellen zur Linken und einer zwar heiteren, jedoch viel zu schüchternen PR-Managerin zur Rechten genoss, obgleich er sich an diesem Tage nicht auf dem Höchststand seiner charmanten Small-Talk-Fähigkeiten befand. Jedenfalls imaginierte er auf der gänzlich von Neuschnee bedeckten Autobahn, die verzückende Vorstellung den weißen Straßenbelag in Form von bolivianischem Marschierpulver und Tausende von Menschen, kniend oder liegend sich dieses mit Hilfe unterschiedlichster das Riechorgan verlängernder Prothesen schniefend und saugend gierig einzuverleiben. Dabei bereitete ihm die Vorstellung besondere Freude, wenn es sich hierbei um ein Publikum handeln würde, das sich in erster Linie aus dem nicht gerade selten dieserlei hedonistischen Praktiken frönenden, an sich schon geschwätzigen Kunstmischpoche rekrutiert und dabei vor lauter Gier vergisst, wie sinnbildhaft sie sich dem weißen Pulver, einem Götzen anbetend gleich, überantworten. In nicht unähnlichem Maße erheiterte ihn die Vorstellung einer Massenhalluzination beim Sammeln von psychoaktiven Pilzen in den tschechischen Wäldern. Während durch die spärlich belaubten Zweige am Himmel eine von der Fliegerstaffel des nahe gelegenen Militärflughafens mit buntem, gleich Fähnchen den Flugzeugen hinterher gezogenen Rauch der in den Himmel geschriebene Slogan "I love drugs" sichtbar wird, der von einer besseren Zeit oderwasweißich künden soll, aber letztlich doch nur den missglückten Versuch darstellt, in Form von – gut gemeinter jedoch leider "nur" gemeinter – Vereinnahmung des eigentlich aus dem Bereich des Tourismus-Merchandising entlehnten "I love..." (...Heidelberg, ...NY, ...Kufstein) auf die Sorglosigkeit im Umgang und die Normalität von körperfremden stimulierenden Substanzen hinzuweisen. Dies trifft bekanntermaßen insbesondere – aber wiederum nicht ausschließlich - auf eine Generation von um die Zwanzigjährigen zu, die im Zuge der zum platten Mainstream degenerierten Techno-Kultur seit Beginn der 90er Jahre die unreflektierte Sehnsucht nach Momenten von Authentizität im Zusammenklang von basstreibender Musik, ekstatischem Tanz und nicht zuletzt durch die verstärkende Wirkung synthetischer Drogen zu stillen versuchen, um sich verklärt der Fiktion eines unmittelbaren Wirklichkeitsrausches hinzugeben. Eigentlich sollte jede Pille Extasy mit einem Beipackzettel folgenden Wortlauts versehen sein: "Wir heißen Sie recht herzlich willkommen beim Vielfliegerprogramm Higher and Higher. Für Ihre Illusionen sind sie leider selbst verantwortlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Ihnen morgen beschissen geht, ist relativ hoch. Dennoch wünschen wir Ihnen viel Spaß und eine sichere Landung."

Die schräg gegenüber sitzenden, mit schwarzen Rollmützen ihren rasierten Schädel bedeckenden Bodybuilder scheinen zwar keiner dieser im letzten Absatz genannten Leidenschaften zu frönen, jedoch anderen körperfremden, im Falle von oraler und/oder intravenöser Zusichnahme in Kombination mit hartem Hantel-Training durchaus sichtbare und effektvolle körperliche Veränderungen hervorrufenden Stoffen in ihrem bisherigen Leben nicht entsagt zu haben. Sie unterhalten sich amüsiert über einen Typen, den sie vor ein Paar Tagen besuchten, um ihn zwar höflich aber mit gegebenem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass dessen kürzlich im heiterbeschwingten Ambiente einer Luxusdisco eroberte "Mieze" (O.-Ton) sich leider im Besitz (!) ihres wenig zu Scherzen aufgelegten und überaus durchsetzungsfähigen Auftraggebers befindet. Aus diesem Grunde wäre es doch ungemein schade, wenn die sich ob der bisherigen Unwissenheit des smarten Jünglings gerade ankündigenden Missstimmungen von Seiten ihres Bosses weiter zunehmen und infolgedessen die zu erwartenden Reaktionen seinerseits sich zu einem nicht mehr überschaubaren Risiko für den Seitenscheitelträger entwickeln würden. Ob dieses bisher nur aus Film und Fernsehen ihm bekannten und aus diesem Grunde ihn auch nachhaltig beeindruckenden Szenarios schien sich der gute Junge entschlossen zu haben, die auf ihn zwar einen sympathischen aber nicht wirklich unendlich wichtigen, ein solches Risiko nur bedingt rechtfertigenden Zauber ausübenden Frau mit sofortiger Wirkung aus seinem unmittelbaren Lebensumfeld zu verbannen. Die beiden Rollmützenfreaks scheinen mit dieser unsäglichen Anekdote demnächst zu Gast bei einer nachmittäglichen Talk Show zu sein. Mediale und reale Realität verschmelzen auf immer beeindruckendere Art und Weise. Andy Warhols Vision: "In the future everybody will be famous 15 minutes" ist bereits längst zum Fluch für eine ganze Generation von sensationsgeilen Minimaldenkern geworden. Andy würde sich angesichts dieser Auswüchse wohl im Grabe drehen, mag der aufgeschlossene Bildungsbürger denken. Weit gefehlt! Wahrscheinlich würde er jubelnd vorm Fernseher sitzen und TV-Rezeption zur ausschließlichen Realitätserfahrung erklären, denn genauso sieht seine Realität gewordene Prophezeiung aus. Bisher hatte sich nur niemand vorstellen können, wie diese bemitleidenswerte Form des Fünfzehnminutenruhmes tatsächlich aussehen könnte. Ein weiteres Beispiel gesteigerten Darstellungsdranges, gepaart mit einem fernsehtauglich aufbereiteten aber leider nicht wirklich authentisch wirkenden Betroffenheitsgestus von Seiten des Moderators, flimmert gerade über einen der acht Monitore in der Business Lounge des Frankfurter Flughafens. Eine junge Dame erzählt die unglaubliche Geschichte ihrer Odyssee mit einem südeuropäischen Urlaubsflirt in deren Folge sie unmenschlich misshandelt wurde und letztlich nur mit sehr viel Glück diesem Martyrium wieder zu entkommen in der Lage war. Schockierend genug war hier eigentlich schon ihre Geschichte, doch der lockere Plauderton, in dem sie diese vortrug und wie diese mit des Moderators gespielter protestantischer Betroffenheit pariert wurde, ließ das Ganze unerträglich wirken und machte es zu einem Paradebeispiel pervertierter Fernsehkultur, die ganz ähnlich den obengenannten bacchantischen Hedonisten sich auf einer Sehnsucht nach authentischer Wirklichkeitserfahrung gründet und dabei die chronischen Hoffnungsmangelerscheinungen einer Gesellschaft in der Verlorenheit einer ganzen Generation in den Labyrinthen der Gegenwart vortrefflich abbildet.

Das Spannungsfeld von persönlicher und sozialer Identität, die Ambivalenz zwischen Ich-Sucht und Wir-Gefühl treibt bisweilen und gelegentlich absonderliche Blüten. So geschah es auch einem nachhaltig verhinderten Liebespaar im weiteren Bekanntenkreis, das über Jahre nicht zueinander fand, weil sie, deren Herz er mit einem in memoriam ihres ersten Kusses bei Boney Ms Uralthit "Sunny" nachkomponierten und per SMS auf ihr Handy geschickten Klingelton ebendieses Songs zu gewinnen begann, gefangen in den Konventionen ihrer Erziehung und im Korsett eines ihr schmeichelnden sozialen Status in Form einer zwar nicht wirklich glücklich machenden aber dennoch eine Menge an Sicherheit bietenden und deshalb auch überaus bequemen Beziehung, den entscheidenden Schritt zu machen nicht in der Lage war. Die letztlich als reine Projektion sich herausstellende Imagination einer gemeinsamen Zukunft a la "Und wenn sie nicht gestorben sind..." implodierte wie ein kleines Universum, als die Dame sich plötzlich unbeabsichtigt in anderen Umständen wieder fand, wohlgemerkt wurde dieses Unbill nicht von dem bislang so geduldig Wartenden verursacht. Der Plan für einen Suizid mittels eines aus der Uniklinik entwendeten und mit einer Kultur von Cholerabakterien gefüllten Reagenzglases, das der charmante Antiheld zu trinken beabsichtigte, erschien ihm im letzten Moment zu introvertiert und nicht wirklich spektakulär genug. Stattdessen kaufte er sich lieber eine neue Gucci-Brille und poppte mit ihrer Schwester. Einmal mehr gerierte sich hier auf exemplarische Weise die Welt der vermeintlich tiefen, ehrlichen und wahrhaftigen Gefühle als eine Bühne von Konstruktionen, die eine hauptsächlich durch äußere Einflüsse generierte Realität darstellt. Die eigene Wahrnehmung von sich selbst und der Wirklichkeit in Beziehung zu der sie gestaltenden unmittelbaren sozialen Umgebung wird leider viel zu selten hinterfragt, wie auch die unterschiedlichen Mechanismen und Strategien der sozialen und kulturellen Meinungs- und Wertebildungsmaschinerie, wie sie für die Welt am Beginn des neuen Jahrtausends kennzeichnend sind, in den seltensten Fällen nachhaltig reflektiert werden. Die unkritische Affirmation von unterschiedlichen medial vorgegebenen Erfahrungen aus dem Bereich der Werbung, des TV und des Kinos, als auch von Versatzstücken der Populärkultur, in der die Oberfläche in Form von Konsumexzessen in einer Welt der "Mental Prisons" und "Mindsets" geradezu obsessiv zelebriert werden, nimmt einen größeren Stellenwert ein, als kontemplative Reflexion und die Besinnung auf innere Werte. Das führt leider oftmals zu so tragischen Begebenheiten, wie der oben beschriebenen. Amen.

Abflug. Scheiße. Kein Wunder, dass die Economy-Class-Reisenden – wie man bisweilen immer häufiger liest – an plötzlich auftretenden Thrombosen sterben. Hinter mir sitzt ein Typ, der sich dauernd ob meiner bis zum Anschlag nach hinten geklappten Lehne beschwert. Vollidiot! Trotz des absoluten Telefonverbotes hat dieser sein Handy angeschaltet, um eine überaus wichtige Nachricht los zu werden. Offensichtlich geht es um einen Text, der noch nicht geschrieben ist und der allerhöchste Zeit wird geschrieben zu werden:"Was soll der Scheiß jetzt mit dem Text. Jetzt habe ich dich hundertmal gebeten das Ding fertig zu machen. Es wird jetzt echt Zeit, wir müssen das Buch endlich produzieren." Mit Stirnrunzeln und Entsetzen auf dem Gesicht eilen die charmanten Flugbegleiterinnen dem das Handyverbot in Flugzeugen so sträflich missachtenden Jüngling mit Kamm in der rechten Gesäßtasche entgegen. Ich kläre die Situation, indem ich dem Aufgebrachten einen Drink an der Bar vor dem Notausgang spendiere. Bisweilen in ähnlicher Situation mit drängelnden Redakteuren und künstlich nach vorne gesetzten Abgabeterminen konfrontiert, schildere ich ihm die andere Seite der Textproduktion. "... und wenn man dann zur absolut letzten und überhaupt nicht mehr aufzuschiebenden Deadline glücklich den nach durchschriebener Nacht, mit müdigkeitsbedingten Halluzinationen korrekturgelesenen Text im RTF gespeichert und attached per Email abschickt hat, verwundert es bisweilen doch etwas, wenn dann geringfügige Änderungen noch bis fast drei Wochen nach dem so absoluten Redaktionsschluss möglich sind. Aber davon einmal abgesehen, kommt es ihnen nicht auch manchmal so vor, als dass es bei vielen Texten nicht besser gewesen wäre, sie hätten in Form von Druckerschwärze auf weißem Papier nie das Licht der Welt erblickt?" Im Gegenzug zu meinem Dozieren erzählt er mir von seiner Freundin, deren Namen ich nicht mehr memoriere, lediglich die Tatsache, dass dieser auf einen Typ namens Sichem aus dem Alten Testament zurückgeht, dessen Geliebte sie einst war, ist mir im Gedächtnis geblieben. Anyway, wir ordern einen Mango Madness wobei die Flugbegleiterin zuerst nicht wusste, um was für einen Drink es sich dabei handelte. Wir hätten es auch vielen anderen gleichtun können, indem wir einen Tomatensaft bestellen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum im Flugzeug so viele Leute Tomatensaft trinken? Würde man das auf den prozentualen Verbrauch der Bevölkerung hochrechnen, wäre es am Ende womöglich eine hervorragende Idee für einen Start-up: "Let's produce tomato juice". Leider mag ich keinen Tomatensaft. Allerdings liebe ich Tomatensuppe, insbesondere jene glasklare Tomatensuppe, die mein Vater in Perfektion zuzubereiten weiß. Gustatorisch liegen Welten zwischen dieser und der sämigen Tomato Soup von Campbells, die kürzlich gereicht wurde, als man zu Gast bei einem von Andy Warhols ehemaligen Superstars war. Ein ziemlich kalter Morgen. Das Taxi hält irgendwo an der 89. Straße. Eine durchlebte Nacht ging dem Morgen voraus. Irgendwo in einem ziemlich geilen, very fancy Club, Scharen von glamouros und extremely sexy Girls, lots of sich dauerhaft zum Selbstzweck produzierende Drag Queens, hottest House Music und viele in erster Linie chemische Stimulanzien erzeugen multiple synästhetische Sensationen und halten den Laden in Fahrt. Das Studio 54 muß im Vergleich hierzu eine Art Kindergeburtstag mit Topfschlagen gewesen sein. Mein Begleiter scheint mit dem bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemd eine persönliche Referenz an die wilde Zeit in den 70er Jahren erweisen zu wollen. Der Abend, die Nacht, der Morgen: eine fortwährende Sozialstudie. Die Celebrity Machinery dreht auf höchsten Touren, dazu das Konsumkarussell in atemberaubendem Tempo ... here comes the Supernova ... nonverbale Zeichensysteme verdrängen die verbale Kommunikation, die übermächtigen Lifestyle Codes der Prestigekonsumenten erobern souverän die Macht für diese Nacht ... der Tanz um Tausend Goldene Kälber ... Welcome to the Pleasuredome! Schnitt. Ich bin 10 Minuten zu spät. In der Hand ein blutiges Taschentuch. Ahoi! Der dieses Treffen arrangiert hat, steht fröstelnd in der Morgensonne, in der Hand einen Blumenstrauß in den Landesfarben der südwesteuropäischen Heimat der uns zum Frühstück erwartenden vornehmen alten Dame. Der uniformierte Doorman kündigt unser Kommen telefonisch an, ein Fahrstuhl bringt uns zum Penthouse mit Blick über den zugefrorenen Central Park. An der Wand hängt eine ca. drei mal drei Meter große Version von Drellas "Flowers", daneben, wie überhaupt im Rest der Wohnung, allerhand schräger, zum Großteil antiquarischer Tand. Meine – neben einem persönlichen Interesse – in Vorbereitung auf einen Vortrag über die Factory zusätzlich gesteigerte Wissbegierde nach Details aus der legendären Zeit in der legendären Factory um den legendären Warhol beantwortete mir der mittlerweile doch sehr gealterte Superstar abschlägig mit einem Verweis auf ihr 1990 erschienenes Buch, mit dem alle meine bereits gestellten und noch nicht gestellten Fragen beantwortet würden. Statt dessen möchte sie mit uns über ihre Kunst reden. Ich aber nicht. Der Begleiter, mindestens ebenso derangiert ob einer durchzechten Nacht, übernimmt souverän die Moderatorenfunktion. Die fein säuberlich auf dem Küchenschrank aufgereihten Campbells Suppendosen werden um zwei reduziert, um sie nach der Verköstigung ihres Inhaltes mit zittriger Schrift von ihr signieren zu lassen. Desillusionierung auf ganzer Linie. Einst inmitten der künstlerischen Avantgarde ganz nah am Puls der Zeit, bisweilen diesem weit voraus, daneben an dem damit verbundenen Ruhm und Glamour partizipierend, ist das heute davon Übriggebliebene mehr als ernüchternd. Ein Schicksal, dem nicht nur die Entouragen und Musen von Künstlern teilhaftig werden, sondern das in den meisten Fällen auch die Protagonisten in ihrem 'Alterswerk' ereilt – was jedoch vornehmlich ein Phänomen des 20. Jahrhunderts zu sein scheint. Der Besuch des Guggenheim Soho am Tage zuvor hatte diese These bereits wieder einmal aufs eindrücklichste bestätigt. Warhols "Last Supper" in allen möglichen und unmöglichen Variationen, geschmäcklerisch, kommerzialisiert, anämisch, langweilig. Die sorgsam signierte Suppendose landet auf der 88. Straße im nächsten Papierkorb. Mein Begleiter verbrachte die darauffolgende Nacht im Emergency Room und verpasste seinen Rückflug.

Veröffentlicht in: Martin Eder  – The Return of the Anti-Soft, Ausst. Kat. Städtische Kunstsammlungen Augsburg, 2001.

© 2001 Jan Winkelmann

Englische Version

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