Collective Wishdream of Upper Class Possibilities als individuelle Erfahrung

Jan Winkelmann

Als ich zum ersten Mal eine Ausgabe der Flash Art vom April/Mai 2002 in den Händen hielt, war ich einigermaßen verwundert. Das Cover zeigte die Luftaufnahme eines neuen Geschäftshauses im Zentrum von Berlin, dem ein Logo in Form einer futuristischen Sprechblase entschwebte und "New Address: Plamen Dejanoff, Hackescher Markt 2-3, 10119 Berlin" verkündete. Irritierend war dabei einerseits, dass es sich um eine ausgesprochen ungewöhnliche und interessante Architektur handelte und nicht ganz klar war, ob das nun lediglich eine charmante Fiktion oder tatsächlich Dejanoffs neues Domizil in Berlin war. Andererseits ähnelte das Cover sehr stark einer Anzeige, was jedoch nicht möglich sein konnte, da es sich ja schließlich um das Titelblatt einer Kunstzeitschrift handelte. Der Blick ins Magazin selbst brachte Klarheit: Ein Text von Nicolas Bourriaud und weitere Fotos des Hauses, ebenfalls mit den gleichen Logos versehen, wiesen auf das neueste Langzeitprojekt von Plamen Dejanoff hin: Collective Wishdream of Upper Class Possibilities. Zu diesem Zeitpunkt war mir weder die Komplexität dieses Projektes bewusst noch die Tatsache absehbar, dass ich einmal selbst Teil desselben werden sollte.

Doch ich sollte von vorne beginnen: Im Frühjahr 2001 bezog Dejanoff ein zweigeschossiges Apartment am Hackeschen Markt 2-3 in Berlin Mitte. Das von den Berliner Architekten Armand Grüntuch und Almut Ernst entworfene Wohn- und Geschäftshaus gilt als eines der interessantesten und gelungensten Beispiele zeitgenössischer Architektur in Berlin. Sensibel in eine von Gründerzeit-Gebäuden umgebene Baulücke eingepasst fand dieses Haus schnell internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Die Wohnung wurde von Dejanoff als Atelier genutzt und mit eigenen Werken, Design-Objekten und Arbeiten anderer Künstler als ein Ort inszeniert, der zwischen Werbefläche und "dreidimensionalem Stillleben" (Dirk Luckow) oszillierte. So diente beispielsweise eine Tischtennisplatte mit blauer Oberfläche als Arbeitstisch und nahm mit der Farbe Blau die im imposanten Eingangsbereich und dem Treppenhaus vorherrschende Farbe der Beleuchtung auf. Die durch ihre matte Aluminiumoberfläche zurückhaltend glänzenden Tolomeo-Schreibtischlampen zitierten nahezu unbemerkt die Materialität der Aluminiumrahmen der riesigen geschwungenen Fensterflächen. Hinzu kam ein grüner Felt Chair von Marc Newson, mehr Skulptur denn Sessel, Lampen von Jorge Pardo usw. So setzte sich die durchdachte und reduzierte Ausstattung nach funktionalen, gestalterischen und skulpturalen Gesichtspunkten Stück für Stück fort.

Den Umzug und seine Präsenz am Hackeschen Markt promotete Dejanoff mit einer Serie von Anzeigen und Magazin-Covern, die in Kooperation mit verschiedenen internationalen Kunstzeitschriften realisiert wurden. Für die Dauer eines Jahres veröffentlichte der Künstler ausschließlich Fotos mit verschiedenen Ansichten des Hauses, die mit dem eingangs erwähnten "New Address"-Logo versehen waren. Die französische Designagentur M/M hatte im Auftrag von Dejanoff dieses Logo entwickelt, das dem Projekt ein unverwechselbares Corporate Design gab.

Nachdem die "Grundausstattung" seines Ateliers abgeschlossen war, realisierte Dejanoff verschiedene Projekte und Ausstellungen, die in den folgenden Monaten darin stattfanden. So wurde in Kooperation mit JRP Editions eine Auswahl von Editionen präsentiert, wodurch sich das Atelier partiell in einen Präsentations- und Verkaufsraum des Schweizer Verlags verwandelte. Zeitgleich dazu fand Dejanoffs Einzelausstellung des Palais de Tokyo, Paris statt. Statt eine Präsentation in Paris einzurichten, verlegte er die Ausstellung in sein Berliner Atelier. Mit diesem aussergewöhnlichen Projekt stellte der Künstler verschiedene Parameter institutioneller Ausstellungstätigkeit in Frage. Zum einen war es ein ungewöhnlicher Vorgang, dass eine französische Kunsthalle ein Projekt finanziert, das in der Institution selbst gar nicht zu sehen war, sondern in einer Stadt im Ausland präsentiert wurde. Das Künstleratelier, üblicherweise ein Ort der Produktion und fremdem Publikum nicht zugänglich, wurde zum öffentlichen Ausstellungsraum. Mehr noch, es war zu den gleichen Zeiten wie das Palais de Tokyo geöffnet, Einladungskarte und Beschriftung der Werke folgten dessen Corporate Design, den Besucher empfing französisch sprechendes Personal usw. Kurz: Die gesamten Rahmenbedingungen glichen dem des Palais de Tokyo. Dejanoffs Atelier verwandelte sich für die Dauer des Projektes zu einer temporären Dependance der Pariser Kunsthalle.

In einem weiteren Projekt, das ab September 2002 stattfand, wurde Dejanoff von der Schweizer Firma Tomato Financial & Treasury Services S.A. für die Dauer eines Jahres angestellt. Als Beschäftigter des Unternehmens unterschrieb er einen Arbeitsvertrag, bezog ein Gehalt und hatte Anspruch auf bezahlten Urlaub, allerdings musste er nicht – wie üblich – seine Produktivkraft in den Dienst der Firma stellen. Die einzige Aufgabe, die ihm zukam, war, als Künstler die Firma nach außen darzustellen. Dies war nicht zuletzt vor allem auch durch die repräsentativen, in ihrer Gesamterscheinung eher einer Werbeagentur oder einem Start-up-Unternehmen ähnelnden Räumlichkeiten seines Ateliers möglich.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie Plamen Dejanoff die Systeme Kunst und Ökonomie sowie deren Schnittstelle differenziert beleuchtet und gegeneinander auslotet. In seinen Projekten werden die jeweiligen unterschiedlichen strukturellen Parameter hinterfragt, indem er ihre ästhetischen Codes adaptiert und integrale Bestandteile der jeweiligen Systeme sinnstiftend von dem einen in das andere überführt.

Zu jedem Projekt schuf Dejanoff eine Arbeit. So "übersetzte" er das Logo von M/M dreidimensional in eine mit cremefarbenem Lack überzogene Wandskulptur aus Acrylglas. Die hoch glänzenden Oberflächen sowie die erhabenen, mit einem Spiegel hinterlegten Buchstaben reflektierten ihre Umgebung und verliehen der Skulptur im Raum eine einnehmende Präsenz. In unregelmäßigen Abständen wurden die vorhandenen Skulpturen und Objekte von Dejanoff neu arrangiert und/oder mit Werken anderer Künstler aus dessen Sammlung ergänzt. Das Atelier war nicht nur ein Ort der Produktion, sondern vielmehr ein vitaler, sich ständig verändernder Präsentationsrahmen, der bei jedem Besuch die Gelegenheit bot Neues zu entdecken und den Raum jeweils anders zu erfahren. In dieser Eigenschaft stellt das Studio eine räumliche Umsetzung der so genannten "Plattformen" dar, mit denen Dejanoff Mitte der 90er Jahre bekannt wurde: die Architektur als ein Display für die unterschiedlichsten skulpturalen Interventionen des Künstlers.

An diesem Punkt kam ich ins Spiel. Nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt und davon fast die Hälfte an einem Museum, der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, als Kurator tätig war, entschloss ich mich im Frühjahr 2003 die Institution zu verlassen, um eine Galerie zu eröffnen.

Ich bat Plamen, ein Projekt für die Eröffnungsausstellung meiner Galerie zu entwickeln, das die komplexen strukturellen, inhaltlichen und organisatorischen Abläufe, Aufgaben und Entscheidungen bei einer Galerie-Neugründung reflektieren. Anstelle eines Ausstellungsprojektes schlug er vor, sein Atelier und die von ihm am Hackeschen Markt aufgebaute Infrastruktur für die Dauer eines halben Jahres zu nutzen, bevor im Herbst 2004 die Galerie an einem anderen Ort eröffnet werden sollte. Dies ermöglichte mir, meine Tätigkeit bereits vor dem offiziellen Start aufzunehmen und, einer "Ouvertüre" ähnlich, einen Ausblick auf die zukünftigen Aktivitäten der Galerie zu geben. Damit wurde Collective Wishdream of Upper Class Possibilities um eine zusätzliche Ebene erweitert: Die vom Künstler geschaffene und bislang hauptsächlich von ihm selbst bewohnte und genutzte Struktur wurde an einen Galeristen übertragen, der diese mit neuen Inhalten füllte, wodurch sie sich wiederum von ihrer ursprünglichen Funktion emanzipierte.

Das Langzeitprojekt trat mit Plamens Auszug und meinem Einzug im September 2003 in seine letzte Phase ein. Ich bezog die Wohnung mit wenig mehr als einem Koffer und beliess die ursprüngliche Ausstattung sowie verschiedene Arbeiten des Künstlers als "Relikte" der zuvor genannten Projekte an ihrem Ort. In diesem Sinne diente der Raum nicht nur als Präsentationsplattform, sondern gleichzeitig als ein "Archiv" der Projekte, die in den letzten beiden Jahren hier entstanden waren.

Mit der Eröffnungsausstellung im Oktober 2003 wurden die unterschiedlichen Teilprojekte von Collective Wishdream of Upper Class Possibilities erstmals zusammengefasst. Neben der Komplexität und Vielzahl der inhaltlichen Zusammenhänge erschlossen sich dem Besucher die verschiedenen parallelen und sich zeitlich überschneidenden Funktionen ein und desselben Ortes: Atelier, Apartment und Büro Plamen Dejanoffs, kurzfristig Showroom von JRP Editions, temporäre Dependance des Palais de Tokyo sowie Berliner "Außenstelle" von TOMATO, dann Galerie und Wohnung von Jan Winkelmann sowie Archiv von Collective Wishdream of Upper Class Possibilities.

Bevor ich am Hackeschen Markt einzog, fragte ich mich, wie es wohl sei, in einem so artifiziellen und stark codierten Ambiente zu wohnen. Selbstverständlich schien es zunächst durchaus reizvoll in einer ausgesprochen grosszügigen, wunderbar ausgestatteten Wohnung umgeben von zahlreichen Kunstwerken zu leben. Dies im Austausch gegen die Abwesenheit all dessen, was mich in meiner Leipziger Wohnung tagtäglich umgab – meine Möbel, meine Bücher, persönliche Erinnerungsgegenstände usw. – versprach ein spannungsreiches Experiment zu werden. Fragen wie: "Inwieweit übereignet man sich einer so klar definierten fremden Struktur?", "Wie weit ergreift sie von einem selbst Besitz?", "Wie fühlt es sich an, als Teil eines so komplexen Kunstprojektes in einer fremden Umgebung zu leben?" rückten so aus der gedanklichen Abstraktion und sollten jeden Tag neu überprüft werden können.

Ich war ausgesprochen gespannt auf die Antworten und muss sagen, es ist wesentlich leichter, all das vermeintlich Unverzichtbare zu entbehren, als ursprünglich angenommen. Gleichzeitig tauchten vor allem von Seiten der Besucher neue Fragen auf: "Wohnen Sie wirklich hier?", "Wie ist es denn so, Teil eines künstlerischen Projektes zu sein?" und "Stört es Sie nicht, dass täglich wildfremde Menschen durch Ihr Schlafzimmer laufen?" Interessanterweise empfand ich das nie als problematisch, denn die verschiedenen Funktionen des Ortes wurden durch die jeweiligen Tageszeiten strukturiert. Ausserhalb der Öffnungszeiten war es meine Wohnung. Von 11 bis 18 Uhr wurde die Wohnung zur Galerie, alles Private verschwand in den großen Wandschränken. Die Grenze zum Privaten war weder die Wohnungstür noch die (nicht vorhandene) Schlafzimmertür, sondern: die Türen des Wandschrankes. Der Raum wurde zur Oberfläche, der sich von mir als Privatperson löste, gleich einer Bühne, auf der Privates nichts zu suchen hatte. Demzufolge erschien es mir nie eigentümlich, wenn Besucher in meinem Schlafzimmer standen, etwa um sich Plamens Arbeit Made in Bulgaria anzusehen: eine raumgreifende Bodenarbeit, die aus 17 eiförmigen mundgeblasenen, blauen Glaslampen besteht. Grosszügig auf dem Boden gruppiert schlängelten sich deren überlange weiße Kabel wie Linien einer Zeichnung auf dem Boden zwischen den Lampen. Tagsüber eine skulpturale Installation, die abends den gesamten Raum in blaues Licht tauchte.

Eine weitere spannende Herausforderung bot sich mir im weiteren Verlauf mit der Präsentation von Werken und Projekten der anderen von mir vertretenen Künstler. Dem von Dejanoff vorgegebenen additiven Prinzip folgend realisierte ich bis zu meinem Auszug drei weitere Projekte mit Tilo Schulz, Stéphane Dafflon und Katarina Löfström. Auf diese Weise wurde der Ort noch einmal ganz anders bespielt und in seinen Möglichkeiten weiter ausgelotet.

Rückblickend war für mich die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Funktionen eines Raumes – neben den vielfältigen, zuvor angeführten inhaltlichen Ebenen des Projektes Collective Wishdream of Upper Class Possibilities – der interessanteste Aspekt. In diesem Sinne stellt Dejanoffs neuestes Langzeitprojekt Planets of Comparison eine unmittelbare Weiterführung des Berliner Projektes dar. Im Laufe der nächsten Jahre wird im bulgarischen Veliko Tarnovo, der Heimatstadt des Künstlers, ein neues Atelier entstehen. Geplant ist dabei ein Komplex von mehreren Gebäuden, der sowohl aus Neubauten als auch durch den Umbau bereits vorhandener Häuser entstehen soll. Die von Dejanoff initiierten und in Zusammenarbeit mit jüngeren Architekten geplanten Häuser werden mit Sicherheit zu einem einzigartigen Ensemble zeitgenössischer Kunst und Architektur, das weit über Bulgarien hinaus Beachtung finden wird.

Veröffentlicht in: Dejanoff, Ausst.kat. MUMOK, Museum Moderner Kunst Stiftung Lufwig, Wien (JRP Ringier) 2007.

© 2007 Jan Winkelmann

ENGLISCHE Version

home