Crap Shoot, De Appel Foundation, Amsterdam

Jan Winkelmann

Beim Überfliegen der Headlines der ersten Ausgabe des Crap Shooter, der die Ausstellung in Form einer Zeitung begleitenden Publikation – die zweite Ausgabe mit Abbildungen der realisierten Projekte erscheint Anfang Mai –, fällt auf, daß diese mit wenigen Ausnahmen einem Vokabular entlehnt sind, welches dem Leser mit Worten wie Terrorism, Burned Out, Smashed, Thief, Blood, Anarchy negative Assoziationen geradezu aufdrängt. Nun ist diese Strategie, mittels knapper und übertriebener Schlagworte ein sensationslüsternes Publikum anzusprechen, aus der Regenbogenpresse hinlänglich bekannt. Im Kontext einer Ausstellungspublikation ist dies eher ungewöhnlich und legt die Vermutung nahe, daß es sich hierbei nicht nur um die Aneignung einer dem Medium Zeitung inhärenten äußeren Form handelt, sondern auch Rückschlüsse auf inhaltliche Aspekte der Ausstellung zuläßt.

In der Tat sieht man sich beim Rundgang durch Crap Shoot mit dem Thema Gewalt in vielfältigster Art konfrontiert. Gleich am Eingang bietet Maurizio Cattelan mittels eines auf dem Boden liegenden Spiegels die Möglichkeit, einen meist unmöglichen und aus gutem Grunde verwehrten Blick unter die Röcke von Frauen zu erhaschen. Diesem scherzhaft-humorvollen Vordringen in die Privatsphäre steht, ebenfalls im Eingangsbereich, das andere Ende der Gewaltskala gegenüber. Das Kassenhäuschen, ein freistehender Glaskubus, ist total zerstört ("Ticket Booth", Jes Brinch und Henrik Plenge Jakobsen). Alle Scheiben sind eingeschlagen, die herumliegenden scharfkantigen Glasscherben lassen vermuten, daß die Zerstörung erst vor kurzem stattgefunden hat. Nach dem Kauf der Eintrittskarte, der behelfsmäßig vor den Trümmern stattfindet, wartet gleich die nächste unangenehme überraschung. Der übliche Treppenaufgang ist verschwunden, wo vor kurzem noch eine Treppe war, ist jetzt eine weiße Wand. Zurück, um das Geländer herum, erreicht man die Ausstellungsräume über die Wendeltreppe des Notausgangs. Die wohlüberlegte Disposition der Ausstellungsräume ist aufgebrochen, der normale "flüssige" Rundgang nicht mehr möglich. Der Weg durch die Ausstellung ist bestimmt von Sackgassen und Einbahnstraßen. Zusätzlich sind die Zugänge zu den einzelnen Räumen ab einer Höhe von 1,60 m blockiert ("Title Witheld (160 cm)", Kendell Geers), so daß ein Hindurchgehen nur in gebückter Haltung, gelingt. Das bequeme Flanieren durch die Ausstellungsräume bleibt dem Besucher verwehrt, er muß sich seinen Weg durch die unübersichtliche Raumordnung selbst suchen. Diese Makro-Struktur versinnbildlicht sich im 2. OG noch einmal im kleinen, in Form eines Labyrinths, in dessen Zentrum, hat man sich den Weg erst einmal gebahnt, man von einem freudig grunzenden und schwanzwedelnden Spielzeugschwein ("A Pig", Maurizio Cattelan) und dem hybriden Objekt "Dionysos" (Halter/Gratwohl), einem Tierschädel, aus dessen Augenhöhlen die Arme einer Spielzeugpuppe zu wachsen scheinen, begrüßt wird.

Durch die komplexe Anlage der Ausstellung wird die Ebene der theoretisch-reflexiven Beschäftigung mit einzelnen Kunstwerken und der Ausstellung an sich um die der direkten physischen Auseinandersetzung erweitert. Der Betrachter ist nicht mehr nur Konsument, der sich je nach Interesse aussucht, mit welchem Werk er sich intensiver beschäftigen will, ihm wird das unmittelbare körperliche Beteiligtsein geradezu aufgezwungen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: CrapShoot ist kein Trimm-dich-Pfad, der körperliche Höchstleistungen abverlangt, vielmehr geht es um eine subtile Art der Vereinnahmung des Betrachters. Wesentlich weniger subtil hingegen ist die Arbeit "Office" von Jes Brinch und Henrik Plenge Jakobsen. Man findet sich in einem total verwüsteten Büroraum wieder. Der Boden ist übersät von zerrissenen und zerfledderten Akten, die Wände sind mit Farbe beschmiert, Blumentöpfe zerschlagen, eine Schreibmaschine ist demoliert, das Telefon zerstört. Im ersten Moment scheint "Office" der Arbeit "Ticket Booth" zu gleichen, doch wo dort die äußere, architektonische Struktur zerstört wurde, ist hier die innere Substanz, der organisatorisch-administrative Kern einer Institution betroffen.

Weniger um Sachbeschädigung, als vielmehr um – übertrieben gesprochen – Körperverletzung geht es in dem Video "The Sixth Sense" von Jeroen Eisinga. Ein Mann -anzunehmen, daß es sich hierbei um den Künstler handelt -, dem die Augen verbunden sind und der dadurch so gut wie orientierungslos ist, versucht, eine Straße zu überqueren und wird dabei von vorbeifahrenden Autos ständig touchiert. Die Anteilnahme des Betrachters reicht von Voyeurismus bzw. Schadenfreude bis hin zu Hilflosigkeit, möchte man ihm doch gerne zurufen, um ihn vor dem nächsten herannahenden Auto zu warnen. An der gegenüberliegenden Wand springt dem Besucher ein zähnefletschender, stumm bellender – beide Videos werden ohne Ton gezeigt – Hund entgegen. Die erste schreckhafte Empfindung weicht der beruhigenden Erkenntnis, daß es sich um ein Video handelt, und daß, selbst wenn es Wirklichkeit wäre, sich dennoch ein schützender Zaun zwischen Mensch und Tier befindet. Obgleich der kognitiven Einsicht, daß keine reale Gefahr droht, bleibt bei dem Betrachter ein irreales Gefühl der Beklemmung.

Um Gewalt im Sinne von Subversivität, die sich gegen den institutionellen Rahmen wendet, dreht es sich in den Projekten "Maquette for Title Witheld (Private Eye)" von Kendell Geers und dem Bloom-Gallery-Pojekt von Maurizio Cattelan, das besonderes Aufsehen erregte. Geers ließ Rudi Fuchs, den Direktor des Stedelijk Museums, zwei Wochen von einem Privatdetektiven beschatten. In dem aus knappen Tagesreports bestehende Bericht, erfahren wir aus der Sicht eines Betrachters, der sich außerhalb des Kunst-Kontextes befindet, zwar einiges Oberflächliche über die Lebensumstände des Beschatteten, dennoch bleibt die Hoffnung des Voyeurs auf Informationen aus dem Privatleben, möglicherweise mag der ein oder andere auf kompromittierende Enthüllungen spekuliert haben, ungestillt. So spektakulär wie dieses Projekt durch den nicht vorhersehbaren Ausgang bei der Auftragserteilung an den Detektiven zu sein scheint, ist die in dem Bericht dargelegte Realität ernüchternd. Ein Rudi Fuchs lebt im großen und ganzen auch nicht anders und ist nicht weniger Privatperson als jeder andere Mensch auch. Der einzige, jedoch entscheidende Unterschied besteht darin, daß das Interesse an dem Privatleben einer in der Öffentlichkeit stehenden Person ungleich größer ist als jenes an dem eines Durchschnittsbürgers. In diesem Sinne bringt Geers' Projekt die menschlich-private Dimension in den öffentlichen Raum. Der eigentliche "Adressat" ist jedoch nicht Rudi Fuchs, sondern es sind vielmehr diejenigen, die der Mystifizierung einer Person in einer Position wie Fuchs Vorschub leisten. Ähnlich verhält es sich bei dem Projekt von Maurizio Cattelan. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde in die Ausstellungs- und Geschäftsräume der Bloom Gallery eingebrochen, diese ausgeräumt und alles in Kisten verpackt. Sie sollten dann eigentlich im Rahmen von Crap Shoot in den Räumen De Appels zu sehen sein, was verständlicherweise jedoch nicht möglich war. Es ging Cattelan hierbei nicht um einen vordergründig zielgerichteten Anschlag. Im Mittelpunkt stand vielmehr die "proce-dure of appropriation" (Cattelan), die Translokation von Identität und das Ausloten von Grenzen im Rahmen der grenzenlos liberalen "Anything-goes-Haltung" innerhalb des Kunstbetriebes. Eine Reduzierung des Projektes auf die Hypothese, es ginge Cattelan lediglich darum, einen Skandal zu erzeugen, geht jedoch an der eigentlichen inhaltlichen Dimension vorbei. Im Kontext der eingangs konstatierten vielfältigen Bezugspunkte zum Thema Gewalt stellt diese Arbeit den vielleicht konsequentesten, sicherlich jedoch den kontroversesten Ansatz dar, wenn man von der Tatsache einmal absieht, daß Unbeteiligten ein – letzendlich nur geringfügiger – Schaden zugefügt wurde.

In einer Zeit, wo in der Kunstwelt jeder Versuch von Subversivität sofort verpufft, weil grundsätzlich alles möglich bzw. nichts mehr unmöglich und somit grundsätzlich alles akzeptabel ist, stellt sich zwar einerseits die Frage, ob es denn immer noch sinnvoll und notwendig ist, Grenzen zu überschreiten, andererseits ist jedoch festzustellen, daß ohne Grenzüberschreitungen kein Fortschritt möglich ist. Hiermit sei jedoch nicht gesagt, daß jede Erweiterung oder überschreitung von Grenzen automatisch einen Fortschritt mit sich bringt. Vielmehr ist Fortschritt ohne kontroverse Diskussionen undenkbar und hierfür bieten Grenzüberschreitungen in der Regel die Grundlagen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die Frage nach dem Selbstzweck von Grenzverstößen. Haben Kunstwerke ihre Aufgabe – so sie denn überhaupt eine haben – erfüllt, wenn sie zwar Diskussion hervorrufen, jedoch als Kunstwerk nicht funktionieren, und möglicherweise aufgrund dieser Tatsache erst Ausgangspunkt einer Kontroverse werden? Um deutlich zu werden: Kann die "schizophrenic gap between the intention of subverting the existing order of things and its unavoidable institutional, social and cultural framing" (Presse-Information) dadurch überwunden werden, daß institutionell abgesegnete, d. h. geplante, zielgerichtete und erlaubte Zerstörung stattfindet, wie beispielsweise im Falle von "Ticket Booth". Oder ist dieser Versuch nicht im voraus zum Scheitern verurteilt, da das Resultat, vor dem Hintergrund des Einverständnisses seitens der Institution zu einer reinen Metapher verkommt. Verliert Gewalt nicht ihre Stoßkraft im Sinne von Subversivität, wenn sie sanktioniert und in ihrem Ausmaß von vornherein überschaubar ist?

Inwieweit bezieht sich die – ohne Zweifel vorhandene – subversive Kraft von Crap Shoot auf den institutionellen Rahmen an sich, bzw. inwieweit ist sie an den Ort De Appel gebunden und darauf festgelegt. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als einer der Teilnehmer des ersten Curatorial Training Programme und einer der Kuratoren von Shift kamen mir beim Gang durch die Ausstellung mehrmals Diskussionen von uns in Erinnerung, welche sich hier in fortgeschrittenem und erweitertem Stadium zum Teil wiederfinden. Sei es die Nähe von Kunst zum Alltagsleben bzw. das gegenseitige Aufweichen der Grenzen beider, sei es die Idee von einem offenen, nicht festgelegten Ausstellungskonzept, sei es der Versuch die Erwartungen der Besucher zu untergraben oder letztlich der starke Wunsch, uns von der Art von Ausstellung abzugrenzen, die sonst bei De Appel stattfinden, wohlgemerkt ohne hierdurch eine Wertung vornehmen zu wollen. Gerade dieser letzte Punkt, scheint mir im Rückblick, lag uns am meisten am Herzen und gerade in bezug auf diese Tatsache ist meiner Ansicht nach CrapShoot besonders und Shift weniger gut gelungen, insofern eine solche Bewertung überhaupt möglich und sinnvoll ist.

Dies hat meines Erachtens zwei Gründe. Zum einen war unser theoretischer Ansatz ein reduzierter. Vereinfacht gesprochen: bei Shift ging es um die Idee des Kunstwerkes, als ein offenes, undefiniertes Konstrukt, das mehr in Bezug zur Erlebniswelt des täglichen Lebens, als in Bezug zur Kunst, im Sinne eines künstlich erschaffenen fertigen Produktes, steht. Crap Shoot geht einen Schritt weiter. Der Ausgangspunkt ist nicht die Auflösung des Werkbegriffes, sondern die Auflösung der Grenzen des Begriffes der (Kunst-)Institution. Dies, so dachten wir, kann bereits erreicht werden, indem dem Kunstwerk an sich eine andere strukturelle und semantische Bedeutung zukommt, die insbesondere durch die Nähe zur Alltagswelt noch verstärkt wird. Im Vergleich zu Crap Shoot war bei Shift der Werkbegriff noch recht konventionell, was allerdings nicht zu verwundert, denn immerhin war unsere gedanklich-theoretische Vorleistung den Kuratoren von Crap Shoot bekannt. Dies führt zum zweiten der oben erwähnten Gründe. Die Grenzüberschreitung von Crap Shoot, d.h. die Erweiterung auf die Institution machte es notwendig, in erster Linie in das gegebene architektonische und strukturelle Gefüge einzugreifen und dieses zu verändern (der "transformierte" Werkbegriff mußte hierbei als Voraussetzung nicht noch einmal hinterfragt werden). Die Ausgangssituation und Aufgabenstellung der fünf Künstler, bei Shift waren es nahezu dreimal mehr, ist insofern eine andere gewesen, als ausnahmslos neue Projekte für Crap Shoot erarbeitet werden sollten, was für ein grundlegendes Eingreifen bzw. Transformieren der räumlichen Situation unabdingbar erscheint. In dieser Tatsache und in der reduzierten Zahl an Künstlern gründet sich nicht nur deren großer Spielraum, sondern auch die Gelegenheit, daß sich ein übergeordneter Themenkomplex herausbilden konnte, sei er nun von den Kuratoren intendiert gewesen oder auch nicht.

In niederländischer Sprache veröffentlicht in: Metropolis M. Tijdschrift over hedendaagse kunst, No. 3, Juni 1996

© 1996 Jan Winkelmann

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