Angela Bulloch

Jan Winkelmann

Es schläft sich gut auf den "Happy Sacks" von Angela Bulloch. Dieses Vergnügen hatte ich kürzlich. Auf einer mehr oder weniger ausgelassenen Party im Herzen Berlins blieb mir, nach entsprechendem Konsum alkoholisierender Getränke den Führerschein nicht aufs Spiel setzen wollend, nichts anderes übrig, als mich auf einer der drei mintgrünen Riesen-Bean-bags – nebenbei erwähnt, die einzigen Sitzgelegenheiten in der großzügigen, jedoch zurückhaltend möblierten Altbauwohnung – zu betten, um dem kommenden Tag mit wenigstens drei Stunden Schlaf entgegenzuruhen.

Wenn dies auch nicht gerade beispielhaft dem klassischen Kunstgenuß entsprach, so umschreibt es doch zumindest eine der zentralen Kategorien der Arbeiten Angela Bullochs: die der direkten (körperlichen) Erfahrung. Daneben treten zwei weitere, immer wiederkehrende Momente hervor: die der Anonymität des gefertigten Objekts, im Sinne des Zurücktretens der Künstlerin als Autorin, und das Zurückgreifen auf bereits existierende ästhetische Codes. Im kürzlich zur Ausstellung in Zürich erschienenen Katalog bringt Bulloch ihre Vorgehensweise wie folgt auf den Punkt: "Was mich motiviert ist das Recycling und die Neuanordnung von Dingen, die schon mal gemacht wurden, und nicht der Wille, etwas völlig Neues zu machen." Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, daß die aus den 70er Jahren bekannten Bean-bags nun in veränderter Größe im Kunstsystem der Angela Bulloch wieder auftauchen.

Zum ersten Mal waren jene Sitz-Säcke 1993 in ihrer Ausstellung im Kunstverein in Hamburg zu sehen. Zunächst nurmehr Möbelstück bzw. Sitzgelegenheit, kommen ihnen durch den Gebrauch im Kontext einer Ausstellung eigenständige skulpturale Qualitäten als Körper im Raum zu. Daneben werden sie, als Vehikel der Kommunikation, zu "Inseln des Sozialen" (Bulloch) und funktionieren als Objekte, zu denen sich der Betrachter unmittelbar physisch in Beziehung setzen kann. Wo das kommunikative Element sich hier rein personenbezogen zeigt, tritt der Betrachter in anderen Arbeiten unversehens mit technischen Gerätschaften in Interaktion. Dem binären Code vergleichbar, werden durch physische Präsenz simple An-Aus-Mechanismen bedient, die einfachste technische Geräte in Gang setzen. Nimmt der Betrachter z.B. auf der vor einem Fernseher stehenden "Sound Clash Bench" Platz, um sich das zunächst tonlose Video anzuschauen, wird – wie von Geisterhand – der Ton hörbar, oder es beginnt eine Lampe zu leuchten, sobald man die auf dem Boden liegenden Matten der "Mat Light Pieces" betritt. Die Einfachheit der ausgelösten Mechanik und des daraus resultierenden Effekts scheint dem Interagierenden im Vergleich zur hochtechnisierten Umwelt, in der er lebt, zunächst als wohltuend, womöglich belustigend. Sofort tappt man jedoch in die Falle, wenn man, jenen Mechanismus beherrschen wollend, dem kindlichen Spieltrieb folgt und die geglaubte Macht anzuwenden versucht, sich jedoch unversehens der Situation selbst ausliefert und zu spät realisiert, daß der Horizont des individuellen Spielraums über das An-Aus nicht hinausgeht.

Angela Bulloch untersucht in ihren Arbeiten die komplexen Strategien, Abhängigkeitsverhältnisse und Funktionen von Machtstrukturen in der Gesellschaft. Verhaltensmaßstäbe, Ordnungs- bzw. Wahrnehmungsprinzipien, Regelsysteme und Kontrollnormen werden auf subtile Weise hinterfragt und sowohl innerhalb des Kunstsystems, als auch im Bereich des öffentlichen, wie privaten Lebens thematisiert. Die 1992 begonnene Werkgruppe "Rules Series" verdeutlicht die allumfassende Abhängigkeit von sozialen Regelsystemen auf einfachste Weise, indem sie auf "gefundene", bereits existierende Regeln aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zurückgreift, diese aus ihrem sozialen Kontext in einen anderen, fremden Kontext transponiert und sie somit ad absurdum führt. Die erste dieser Art fand sie an der Toiletten-Tür der Baby-Doll-Lounge, einem Striplokal in New York. Was dort in gebotener Schärfe einen reibungslosen und unkomplizierten Ablauf des Geschehens garantieren soll, verkehrt sich außerhalb des Bezugssystems ins Groteske: "If you take drugs try not to bring them to work with you" oder wird aphorismenhaft zum imaginär-erhobenen Zeigefinger: "You must be flexible about your choice of music. You are not the only one listening to it." Die einzelnen Regelsätze  existieren in drei unterschiedlichen Formen. Zum einen kopierte oder gedruckte Poster und/oder Flyer, die kostenlos distribuiert werden, dann in einer limitierten Auflage von zehn Drucken, die signiert und numeriert sind. Und zuletzt als Unikat mit einem Zertifikat, das dem Besitzer erlaubt, die Arbeit in jeder gewünschten Form herzustellen und entsprechend zu verbreiten. Der Käufer – an sich ein Paradoxon, für das Kollektiv gedachte Regeln besitzen zu können – entscheidet selbst über die Gestaltung der Regelsätze. Gleichzeitig vermeidet die Künstlerin jedoch, den per se abstrakten Regeln eine bleibende ästhetische Form zu geben.

Was sich in der Rules-Series in nahezu gegenstandsloser Form vermittelt, die Tatsache, daß man immer und überall grundsätzlich nur innerhalb eines fest umrissenen Feldes von Entscheidungen und Verhaltensmöglichkeiten handeln kann, wird mit den "Drawing Machines" dem Betrachter "malerisch" vor Augen geführt. Setzt man sich auf die Bank, wird durch einen Stromimpuls die Maschine in Gang gesetzt, die unvermittelt horizontale, vertikale oder diagonale Striche auf den Bildträger an der Wand zu zeichnen beginnt. Hat man erst einmal verstanden, wie die Maschine funktioniert, ist man versucht, durch entsprechendes Verhalten das Gerät zu steuern und die Gestaltung des Liniengemäldes zu beeinflussen. Allerdings findet die Einflußnahme immer nur im von der Künstlerin vorgegebenen – im wahrsten Sinne des Wortes – Rahmen statt. Der Betrachter begreift sich als Mitproduzent, ist in Wirklichkeit aber nur ausführendes Organ. Seine Handlung ist im Grunde genommen austauschbar und wird somit beliebig. Er genießt die Illusion der Freiheit – allerdings nur im vordefinierten und durchaus limitierten Spielraum. Ganz nebenbei stellt sich bei den "Drawing Machines" aber auch die Frage nach originärem Schöpfertum und der Rolle des Autors. Der Betrachter ist zwar Mitproduzent, deshalb aber nicht gleichzeitig Mitautor, zumal die unterschiedlichen Beiträge auch nicht voneinander zu unterscheiden sind. Durch den Gebrauch lichtempfindlicher Tinte ist die Zeichnung in ständiger Veränderung begriffen. Früher gezeichnete, ältere Linien verblassen, später hinzugekommene Linien sind dunkler. Die Zeichnung ändert sich in zweifacher Hinsicht permanent: Nicht nur in ihrer Gestalt – durch die Partizipation vieler Betrachter–, sondern auch ihrem Wesen nach. "Das Werk unterstreicht die Tatsache, daß die eigenen individuellen Entscheidungen mehr oder weniger bedeutungslos sind, weil das System  oder die Struktur die Entscheidungsparameter bereits definieren, selbst wenn eine Wahlmöglichkeit zu bestehen scheint."

Nicht ganz so einfach ist die Funktionsweise der "Mat Light Pieces" (Yellow) und (Red) zu verstehen. In der Südwest-LB in Stuttgart waren sie an der Kreuzung zweier Bürogänge installiert. Über einen simplen Trittkontakt, der unter zwei Matten verborgen ist, werden die gelbe bzw. rote Kugellampe geschaltet. Die gelbe ist ständig in Betrieb und erlischt, wenn die um die Ecke liegende Matte betreten wird, wohingegen die Rote wie ein Warnsignal leuchtet, wenn sich durch das Betreten der anderen Matte der Stromkreislauf schließt. Die jeweilige Reaktion ist für den Auslösenden nicht sichtbar, da er, wenn er um die Ecke biegt, die Matte nicht mehr berührt und die Lampe in ihren "Ausgangszustand" zurückgekehrt ist. Das System mag wie eine Ampelsituation anmuten, nicht zuletzt weil es die aus dem Straßenverkehr bekannte gelbe und rote Farbgebung zitiert, wobei die Lichter keine  hinweisende und regelnde, sondern lediglich eine indikative Funktion erfüllen. Sie zeigen an, was um die Ecke passiert, bzw. sie signalisieren, ob jemand die Matte passiert. Auch hier ist wieder der Mensch als Auslöser werkkonstituierender Bestandteil der Arbeit.

Etwas komplexer noch als die "Mat Light Pieces" stellt sich die in der Leipziger Messe dauerhaft installierte Arbeit "Belisha Beacon Indicator System" dar. In den gläsernen Verbindungstunnels von den Messehallen Ost zu den Westhallen und im Tunnel zur Haupthalle sind in über Kopfhöhe in regelmäßigen Abständen an beiden Wänden gelbe ballonartige Lichtkugeln befestigt. Das System bezieht sich auf das in Großbritannien übliche Ampelsystem an Fußgängerüberwegen, das in den 30er Jahren von einem Politiker namens Baron Hore-Belisha erfunden wurde und sich noch heute im Gebrauch befindet. An Fußgängerüberwegen signalisieren sie Autofahrern, daß sich Passanten auf der Straße befinden. Bulloch selbst zu ihrer ready-made  ähnlichen Strategie: "Ich habe die Rahmenbedingungen dieses Zeichens verändert, die grundlegende Sprache blinkender Lichter in einen anderen Zusammenhang verschoben." Im Grunde genommen findet auch hier, wie bei der "Rules Series" ein Wiederaufnehmen vorhandener ästhetischer Codes und eine Rekontextualisierung dieser statt. Ähnlich der "Mat Light Pieces" dienen die Leuchten in der Leipziger Messe als ein Indikatorensystem für die Bewegung von Menschen in den Gängen an sich und geben auch Auskunft über die Richtung, in der der Tunnel passiert wird. Ersteres funktioniert in der Form, daß beim Passieren einer Lampe durch einen Lichtschrankenmechanismus deren Beleuchtung aktiviert wird. Das zweitgenannte gestaltet sich ein wenig komplexer und ist nicht so leicht zu durchschauen. Beim Passieren des Tunnel-Eingangs beginnen die Lampen kreuzweise dem Ende des Ganges entgegenzublinken. Dort angekommen setzt eine rückläufige Bewegung ein. Sie bleiben an einer beliebigen Stelle "stehen", von wo aus sie wieder "starten", wenn der nächste Passant den Gang betritt. Wenngleich sich die Funktionsweise dieses Systems dem Passanten nicht unmittelbar erschließt, so wird er sich zumindest der Tatsache gewahr, daß er selbst Bestandteil des Verkehrs und damit auch Teil der übergeordneten, den "Verkehr" generierenden Struktur ist. Auch hier wird im kleinen durch die individuelle Reaktion auf einen Teil des Systems die übergeordnete, komplexere Konstruktion sichtbar. "Es hebt die Tatsache hervor, daß du in dem System, in dem du bist, einen Effekt auslösen kannst." Mehr aber auch nicht! Womit wir wieder bei der Realität angelangt wären, daß ein System die Parameter vorgibt und sich der Spielraum für individuelle Entscheidungen denkbar verschwindend ausnimmt.

veröffentlicht in: artist Kunstmagazin, Heft 35, 2/1998

© 1998 Jan Winkelmann

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