Borderlines

Jan Winkelmann

In den letzten fünf Jahren gab es eine Reihe von Versuchen, die Kunstszene Sachsens, aber auch die zeitgenössische Kunst Dresdens in Form von Ausstellungen vor Ort, überregional und mit SPLIT POINTS nun auch einer Öffentlichkeit im Ausland zu präsentieren.

Die erste ehrenhafte Initiative in Richtung einer Bestandsaufnahme aktueller sächsischer Kunst gelang mit der von Harald Kunde als Leiter des Kunsthaus Dresden initiierten und organisierten Wanderausstellung „Vitale Module“, die 1997 stattfand. Offensichtlich kam sie dem Bedürfnis einer regio-kulturellen Identitätsannäherung, wenn nicht sogar -findung nach. Sie versammelte 17 künstlerische Positionen der gegenwärtigen Kunstproduktion in Sachsen. Mittlerweile auf dem internationalen Kunstparkett durchgesetzte Stars wie Neo Rauch und Olaf Nicolai waren hier ebenso vertreten wie weniger bekannte, aber dennoch nicht weniger interessante Positionen wie beispielsweise von Adam Page & Eva Hertzsch und Tilo Schulz. Wenn diese Ausstellung auch keine Homogenität bezüglich der ihr eingeschriebenen Fokussierung auf ein Bundesland darzustellen vermochte, so ist dies weniger auf kuratorische Defizite zurückzuführen, als vielmehr auf die Diversifizierung von lokalen Szenen und demzufolge auch deren Darstellung im übergeordneten Kontext einer Ausstellung. Es gab in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Ausstellungen, die den Versuch unternahmen, die Kunstszene eines bestimmten Landes oder einer Region vorzustellen und damit eine Form von Kanonisierung in der öffentlichen Wahrnehmung zu generieren. Dass die Ergebnisse dieser Versuche in der Regel ausgesprochen heterogen ausfallen mussten und müssen, liegt in der Natur der Sache. Keine Ausstellung aktueller Kunst, sei sie nach übergeordneten nationalen oder regionalen Gesichtspunkten zusammengestellt, vermag es, einen zu „Trend“ lancieren oder gar zu generieren. Wenn überhaupt, dann mag es höchstens gelingen, Teilaspekte zu fokussieren, zu bündeln und mit der Präsentation in ein limitiertes „öffentliches Bewusstsein“ zu rücken. Da dabei immer nur eine Art Schlaglicht geworfen wird, verschwindet naturgemäß aber auch eine Menge im Dunkel außerhalb des Lichtkegels.

Wenn es dennoch immer wieder Bestrebungen gibt, die Kunstszene Dresdens mit Ausstellungen im In- und Ausland zu promoten, vor SPILT POINTS ist dies mit der Ausstellung „Success“ im Kunsthaus Dresden 2001 geschehen, dann stellt sich die Frage, was das Interessante an der Produktion aktueller Kunst in Dresden ist? Das Interessante und gleichermaßen Erstaunliche ist, dass sie sich im wesentlichen nicht von der anderer deutscher Großstädte unterscheidet. Verallgemeinernd könnte man feststellen, dass neben der Beschäftigung mit tradierten bildgestützten Medien, wie  der Malerei, in den letzten zehn Jahren mit einem veränderten Bewusstsein hinsichtlich der künstlerischen Produktions- und Denkweisen eine verstärkte Hinwendung zu Themen aus dem Bereich des Alltags, der persönlichen Lebens- und Arbeitsumstände, aber auch in Richtung gesellschaftspolitischer und soziokultureller Fragestellungen stattgefunden hat. Daneben führte die Verlagerung und fast vollständige Auflösung des traditionellen Werkbegriffs, sowie die Übergriffe und teilweisen Aneignungen aus anderen Bereichen künstlerischer und nichtkünstlerischer Produktion dazu, dass neue Präsentations- und Distributionsformen gesucht wurden. Obgleich an der Peripherie, am süd-östlichen Rand der Republik gelegen, konnte sich in Dresden innerhalb des zuvor genannten Spannungsfeldes ein künstlerisches Potenzial entwickeln, das Arbeiten entstehen ließ und lässt, die sich in gleichem Maße in einem überregionalen und globalen Kunstdiskurs einzuschreiben vermögen, wie dies in anderen Städten der Fall ist, denen man vielleicht eher den Nimbus von Zentren aktueller Kunst zuzusprechen vermag.

Die Motivation vieler auswärtiger AkademiestudentInnen, sich für eine Ausbildung ausgerechnet in Dresden zu entscheiden, mag weniger auf Faktoren beruhen, die auf ein bestimmtes diskursives Umfeld, institutionelle Rahmenbedingungen oder eine potenzielle Netzwerktauglichkeit zielen, wie Akademien in anderen Städten mit ihren Starprofessoren und einer gegebenen Nähe zum ökonomisch verwertenden Galerienumfeld einen – aber auch nur vermeintlich – leichteren Erfolg versprechen. Es sind offensichtlich vielmehr zahlreiche „weiche“ Faktoren, die viele nach Dresden zogen und immer noch ziehen.

Als ehemalige Residenz strahlt die Landeshauptstadt in bestimmten Teilen zwar immer noch den Glanz früherer Zeiten aus, die Elbmetropole lebt jedoch vor allem auch durch ihre Brüche. Sie ist eine Stadt im Wandlungsprozess, deren Geist irgendwo zwischen dem Mythos alter Tage, dem Trauma der Zerstörung im zweiten Weltkrieg und einer verhaltenen Euphorie für das Zukünftige zu erahnen ist. Städtebauliche Wandlungsprozesse sind noch im vollen Gange, ebenso wie sich erste Imagegewinne abzeichnen, die vor allem durch kluge strukturbildende Entscheidungen und massive Investitionen zur Ansiedlung neuer innovativer Technologien beitrugen. Im Volksmund immer noch gern als „der wilde Osten“ bezeichnet, fanden und finden sich in den neuen Bundesländern zum Teil auch heute noch interessante Rahmenbedingungen und vielfältige Verortungsmöglichkeiten innerhalb einer noch nicht saturierten Gesellschaft. Der Reiz in einer durch die gesellschaftlichen Umbrüche der Wende gekennzeichneten Stadt zu leben und zu arbeiten liegt vor allem aber in der ungeheuren Dynamik, die sie bietet. Keine festgefahrenen Strukturen engen den eigenen Aktionsradius ein, wenn auch nicht alles, so ist doch vieles offen und noch mehr möglich.

Gleichwohl ist in den letzten Jahren eine künstlerische Dresden-Flucht zu bemerken, die man vielleicht am ehesten mit einem Exodus aus der Wüste Dresden in die gelobte Stadt Berlin umschreiben könnte. Viele der in Dresden ansässigen Künstler suchen mittlerweile ihr Heil in einem Umzug nach Berlin, denn Dresden mag zwar offensichtlich ein ausgesprochen fruchtbares und inspirierendes Pflaster während der Ausbildung – oder besser: während eines bestimmten Abschnitts in der künstlerischen Entwicklung – sein, die Möglichkeiten für weitere Schritte, um im Kunstbetrieb Fuß zu fassen sind offensichtlich jedoch begrenzt, da die Stadt ein für das erfolgreiche und professionelle Weiterkommen notwendiges infrastrukturelles Netzwerk, das den Sprung aus der Peripherie in die Zentren ermöglicht, nicht bietet. Dresden kann zwar mit etlichen Pfründen, wie den Sammlungen der Alten und Neuen Meister, dem Grünen Gewölbe und der Semperoper wuchern, jedoch sind dies Solitäre, die in erster Linie das bildungsbürgerliche und vor allem touristische Kunstverständnis bedienen. Es gibt weder eine, auf internationaler Ebene operierende Ausstellungsinstitution für zeitgenössische Kunst, noch gibt es einen florierenden Kunsthandel und demzufolge – von einigen Ausnahmen einmal abgesehen – auch keine nennenswerten, im internationalen Kunstmarkt operierenden Galerien, die einerseits eine Möglichkeit der wirtschaftlichen Grundlage für ortsansässige Künstler bietet, andererseits aber auch einen Teil dazu beitragen würde, den Standort Dresden für zeitgenössische Kunst attraktiver zu machen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Dresden insbesondere auch im Vergleich zu Leipzig in Sachen zeitgenössischer Kunst an einer Form von Unentschiedenheit zu leiden scheint. Mit der Hochschule für bildende Künste bietet sie zwar hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten und darüber hinaus mit unterschiedlichen Stipendienprogrammen (u.a. durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen) finanzielle Förderungen, die den ökonomischen Druck während und nach dem Studium erträglicher gestalten. Daneben finden sich auch eine Reihe wichtiger Institutionen, wie beispielsweise das Albertinum, das Deutsche Hygiene-Museum, und das Festspielhaus Hellerau, deren gelegentliche und zaghafte Versuche im Bereich der zeitgenössischen Kulturproduktion jedoch außerhalb der Stadt- bzw. Ländergrenzen leider nur selten wahrgenommen werden. Im Vergleich zu Leipzig, wo in den letzten fünf Jahren eine erfreulich rasante Entwicklung, insbesondere im Bereich von neu gegründeten selbst verwalteten Institutionen und nichtkommerziellen Ausstellungsräumen zu verzeichnen ist, spürt man mit Blick auf Dresden aus der Ferne keine Aufbruchstimmung, wenngleich in der Stadt ein gewaltiges künstlerisches Potenzial zu schlummern scheint, was die Erfolge zahlreicher Künstler der jüngeren Generation, die sich entweder bereits aus der Stadt verabschiedet haben oder sich gerade „auf dem Sprung“ befinden, nachhaltig unter Beweis stellen. Eine weniger zögerliche Haltung von offizieller Seite in Richtung einer mit Sicherheit neue Impulse setzenden Belebung der institutionellen Kunstszene würde ohne Zweifel Dresdens Ruf als ein Zentrum für zeitgenössische Kunst gut tun und helfen den Aufbau Ost in Sachen aktueller Kunst weiter auszubauen.

Wenn denn eine Ausstellung mit der Präsentation zeitgenössischer Kunst Dresdens neben ihrer visuellen, ästhetischen, konzeptionellen und kritischen Präsenz auch bestimmte (infra)strukturelle Problemfelder am Ort ihres Entstehens ins Bewusstsein ruft, dann wäre damit sicherlich mehr erreicht, als lediglich eine Öffentlichkeit für die Werke der beteiligten Künstler zu generieren.

Published in: SPLIT POINTS, Ausst. Kat. National Galerie Prag, 2003.

© 2003 Jan Winkelmann

Englische Version

home