Die Geometrisierung der Wirklichkeit. Malerei und Plastik zwischen Mimesis und Abstraktion

Jan Winkelmann

"Die Luft ist überfüllt von Kunstgeschrei"
Wilhelm Worringer, 1921

Zwischen Bild und Abbild
Wenn von den abstrakten Tendenzen der 20er Jahre dieses Jahrhunderts die Rede ist, werden Assoziationen an die großen kunsthistorischen Stilrichtungen wie Suprematismus, Konstruktivismus, De Stijl und Bauhaus wach. Diese Richtungen der Abstraktion oder Konkretion entwickelten sich aus einer Vielzahl künstlerischer Bewegungen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts – ausgehend vom Kubismus – nicht mehr in erster Linie mit einem Motiv in einem traditionell gegenständlichen Sinn beschäftigten, sondern sich mit Problemen der bildnerischen Gestaltung auseinandersetzten. Die illusionistische Abbildhaftigkeit, die bis zu diesem Zeitpunkt immer im Zentrum der künstlerischen Werke stand, trat zugunsten einer gestalterischen "Grundlagenforschung" in den Hintergrund. An die Formfindungen des französischen Kubismus, aber auch an jene des italienischen Futurismus und der der deutschen Gruppe Blauer Reiter anknüpfend entwickelten sich ab 1910 unterschiedlichste Richtungen wie der russische Kubofuturismus und der französische Orphismus, die jeweils in Richtung einer gegenstandslosen Malerei weiterentwickelt wurden. Diese erreichte mit dem russischen Suprematismus, dem holländischen De Stijl und Kandinsky einen vorläufigen Höhepunkt: Malewitsch und Mondrian zogen eine der möglichen Konsequenzen aus dem Kubismus, indem sie auf den Bildgegenstand verzichteten und ausschließlich mit kunstimmanenten Gestaltungswerten arbeiteten. Kandinsky hatte in seinen Improvisationen die Motive soweit reduziert, bis sie als Form- und Farbelemente auf der Bildfläche frei verfügbar waren. Das Kunstwerk bezog sich nicht mehr auf eine Wirklichkeit, die außerhalb des Kunstwerkes lag, sondern setzte sich ausschließlich mit den geometrischen oder intuitiv gesetzten Gestaltungselementen wie Farbe, Form und Komposition auseinander, wobei besonders bei Kandinsky der emotionale Wert der Gestaltungsmittel immer eine Rolle spielte.

Ausgehend von diesen frühen abstrakten, suprematistischen und elementaren Formfindungen, die in der künstlerischen Welt vielfach diskutiert wurden entstand eine Vielzahl von künstlerischen Arbeitsweisen, die sich auf die von den "Vätern" der Abstrakten Kunst entwickelten bildnerischen Gesetze bezogen. Eine bedeutende Gruppe von Künstlern ließ sich zwar von den Ergebnissen der sogenannten reinen Abstrakten beeinflussen, verzichtete aber nicht auf eine eigene künstlerische Konzeption. Wobei man immer im Auge behalten sollte, wenn man auf die äußerst lebhafte Zeit der Jahre zwischen 1920 und 1930 blickt, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Künstlergruppen – seien sie konstruktivistisch, dadaistisch oder gar realistisch orientiert – mehr oder weniger fließend waren. Daraus folgt, daß man eine Reihe von Künstlern weder der einen noch der anderen Tendenz eindeutig zuordnen kann, da viele Künstler versuchten, eine Bildsprache zu finden, in welcher sowohl die Regeln einer sichtbaren äußerlichen Wirklichkeit als auch jener eine bildnerischen Wirklichkeit beachtet wurden. Da die grundlegenden Erfindungen und Neuerungen der Abstrakten Kunst bereits in den 10er Jahren formuliert waren, konnten sich in den 20er Jahren die Künstler der zweiten Generation der Abstrakten bereits reflektierend und zum Teil distanzierend, vor allem aber individuell mit den Leistungen der "Kerngruppen" der gegenstandslosen Kunst auseinandersetzen und diese Formfindungen anderen künstlerischen Zielen einordnen.

Den meist individuellen Positionen, die im folgenden skizzierend vorgestellt werden, ist gemeinsam, daß sie von den Erscheinungen der sichtbaren Wirklichkeit ausgehen, wobei die Motivation der einzelnen Künstler, abstrakte Formelemente und Relikte der sichtbaren Wirklichkeit zu mischen, gegensätzlich sein konnte. Die Künstler berücksichtigten je nach persönlicher Haltung das Bildmotiv mehr oder weniger. In diesem Sinne besetzten sie einen Bereich zwischen der "großen Realistik" und der "großen Abstraktion" (Kandinsky), den man trotz der von dem Maler und Dichter Michel Seuphor 1957 geforderten scharfen Trennlinie "daß jede noch so weit vorangetriebene Umgestaltung einer naturgegebenen Realität immer noch als gegenständlich zu betrachten ist", heute eher dem Bereich der abstrakten und mit geometrischen Flächenstrukturen arbeitenden Tendenzen zuordnen würde. Einen Grund hierfür bildet die Tatsache, daß es diesen Künstlern weniger um eine naturalistische, realistische oder metaphysische Schilderung von äußerer Wirklichkeit oder von Phantasie ging, sie versuchten vielmehr die Prinzipien einer autonomen Gestaltung auf ein vorgegebenes Bildmotiv anzuwenden: im Rahmen des Themas könnte man verkürzend behaupten, daß sich die "alte Wirklichkeit" (der Welt) in der "neuen Wirklichkeit" (des Bildes) spiegeln sollte.

Der Bildgegenstand wurde zum Bildanlaß; er spielt innerhalb des Bildgefüges keine zentrale Rolle mehr, scheint eher ein Appell an einen Betrachter zu sein, anhand des Wiedererkennens eines Motivs auch die Mittel der Gestaltung zu erkennen. Das Neue an diesen Kunstrichtungen, die sich im Spannungsfeld von Mimesis und Abstraktion bewegten, ist, daß sowohl kunstimmanente Formprobleme als auch tradierte Motive wie Landschaft, Porträt und Stilleben einer individuell erarbeiteten Formensprache deren Bezugssystem die Fläche des Bildes ist, integriert werden. Man könnte diese Form der Gegenständlichkeit als eine "sekundäre Gegenständlichkeit" im Sinne von Zeichen, Analogien, Assoziationen, Spuren und Erinnerungen an Dingformen bezeichnen.

Individuelle Konzepte
In den 20er Jahren kam es aufgrund der verschiedensten Diskussionen, die sich teilweise auf künstlerische aber auch auf gesellschaftliche Phänomene beriefen, zu einer Reihe von Stilbrechungen, die meist ausschließlich mit der individuellen Haltung und dem persönlichen Gestaltungsinteresse der Künstler korrespondierten. Aus diesem Grund kann das Festhalten am Bildgegenstand kaum auf einen Anlaß oder einen ursächlichen Ausgangspunkt zurückgeführt werden. Oft schwingen in den Werken der Künstler unterschiedlichste Einflüsse mit, die die Kunstwerke als Katalysatoren der künstlerisch oder geistigen Strömungen der Zeit erscheinen lassen. Besonders durch diesen Aspekt sind diese Werke signifikant für die künstlerischen Möglichkeiten der 20er Jahre:

Gelegentlich wurden Motive der sichtbaren Wirklichkeit beibehalten, um sich bewußt von l´art pour l´art-Tendenzen abzugrenzen. Gelegentlich wurden die ins Bild genommenen Dinge der sichtbaren Wirklichkeit soweit reduziert, daß fast eine Ungegenständlichkeit erreicht wird, ohne daß systematische Regeln befolgt würden. Gelegentlich nahmen sich die Künstler auch die Freiheit zwischen abstrakten Formexperimenten, dekorativen Entwürfen und traditioneller Motivdarstellung zu wechseln. Gelegentlich bedienten sich die Künstler auch der Errungenschaften der abstrakten Kunstrichtungen, um mit modernen Mitteln die Phänomene der modernen Wirklichkeit darzustellen. Es handelt sich bei den Künstlern, die in dieser Weise arbeiteten nicht um Randfiguren der Kunstgeschichte, sondern um im Wesentlichen nur individuell faßbare Größen, die in ihrem Werk weniger aktuelle Kunsttheorien, Kunstdiktate oder Kunstrezepte weiterführten als vielmehr eigenständige Formulierungen für ihre eigene Sicht auf die Welt und auf die Kunst fanden.

Transzendenz
Lyonel Feininger, der im Alter von 36 Jahren zu malen begann wird ebenso wie Kandinsky, Malewitsch und Mondrian zu den Meistern der klassischen Moderne gezählt. Er gehört zu jenen Künstlern, die in ihrem Gesamtwerk nie auf eine Abbildhaftigkeit verzichteten. Feininger, der von den Kubisten beeinflußt war – 1911 sah er im Salon des Indèpendants in Paris, wo er ebenfalls ausstellte, erstmals Werke der Kubisten – überführte das bildnerische System des analytischen Kubismus in eine eigene Formensprache, deren Ziel weniger die Zerlegung der dinglichen Wirklichkeit in elementare Flächen und Körperformen, als das Sichtbarmachen von Transzendenz war. Dem Künstler ging es nicht um eine Gleichzeitigkeit verschiedener Ansichten in einem Bild; es ging ihm um die Darstellung von Bewegung, um die Durchdringung verschiedenster Wahrnehmungsebenen und um das Anklingen einer metaphysischen Dimension.

In den Werken der Futuristen, die Feininger um 1912 erstmals gesehen hatte, fand er die dynamische Verschmelzung von Form, Farbe, Perspektive und Rhythmus, welche ihn interessierte. Er selbst setzte diese Prinzipien in seinen Bildern auf unterschiedliche Weise um. Vor allem in seinen Landschaftsdarstellungen erreichte er durch die Verzahnung von kleinen und großen, nahen und entfernten Motiven und einen dynamischen Perspektivwechsel den Eindruck von Bewegung und Spannung. Aufgrund der Gestaltung konnte er in der Bildfläche eine zeitliche Dimension sichtbar werden lassen.

Nach 1919, in den Jahren als Feininger als Meister am Bauhaus in Weimar tätig war, bildete die Darstellung von Architekturen einen Schwerpunkt in seinem Schaffen. In dem Holzschnitt Kathedrale des Sozialismus, der als Titelblatt des Bauhaus-Manifestes von Walter Gropius, das 1919 erschien, diente, klingt die Bedeutung an, die der Architektur als Trägerin des (gesellschaftlichen) Gesamtkunstwerkes im Umfeld des Bauhauses beigemessen wurde. Ähnlich wie in diesem Holzschnitt löste Feininger auch in seinen anderen Gemälden der frühen 20er Jahre das Bildmotiv in transparente, überlagernde Farbflächen auf, entmaterialisierte den Gegenstand sozusagen und stellte die ihm innewohnenden Energien durch die Facettierung in prismatische und kristalline Formen gleichnishaft dar. Seine einer traditionellen Bildordnung und Darstellung verpflichteten Gemälde folgten eigenen Bildgesetzen, intuitiv festgelegten Maßverhältnissen und malerischen Notwendigkeiten: Sie künden vor allem aufgrund der besonderen Licht- und Linienführung von einer anderen, noch nicht eingelösten Wirklichkeit.

In verwandter Weise behandelte auch Adolf Fleischmann seine Bildmotive. Der Künstler, dessen Frühwerk im Zweiten Weltkrieg fast vollständig vernichtet wurde, konstruierte seine Kompositionen ähnlich wie Feininger. Sein Formenvokabular bewegt sich zwischen Intuition und Ratio, wodurch der Eindruck einer Bewegung, eines Schwebens, einer Transzendenz erweckt wird. Im Zusammenklang mit der irisierenden und transparenten Farbgebung erlangen die Gesamtkompositionen einen märchenhaft-irrealen Charakter.

Pathos
Eine verwandte Geisteshaltung findet man bei den Werken der Künstler, die aus dem deutschen Expressionismus stammen. Das Bildmotiv ist hier Anlaß einer Gestaltung, die anhand von Farbformen Stimmungen und Vorstellungen des Künstlers visualisiert. Dabei kann der Gegenstandsbezug soweit reduziert werden, daß letztlich nur ein elementares Zeichen, eine äußerst verdichtete Erinnerungsformel an die Wirklichkeit außerhalb des Bildes denken läßt. Diese Chiffren einer Befindlichkeit zeugen von dem Glauben der Künstler, mit Hilfe ihrer Gemälde innere Wirklichkeiten, die aber meist an Landschaftsdarstellungen und Menschenbildnisse gebunden werden, darstellen zu können. In der Synthese von träumerischer Assoziation und ästhetisch-dynamischer Konstruktion wird das Gemälde zum Spiegel eines seelischen Erlebnisses. Die Künstler gestalteten ausschließlich mit Farbe und Form einen Kosmos, der kaum rational erfahrbar ist. Im Bereich der mit abstrahierenden Mitteln arbeitenden, gegenständlichen Künstlern nehmen die Expressiven eine Sonderstellung ein, da in ihren Werken immer wieder die Pathosformeln, die von Expressionisten wie Kirchner und Pechstein entwickelt wurden, aufleuchten. Wobei ihre Werke wesentlich formelhafter und reduzierter, auch ornamentaler sind als die Werke der ersten Generation der Expressionisten.

Im Frühwerk von Johannes Molzahn wird diese formelhaft expressive Zeichensprache deutlich. Der Künstler vereinigt in seinen Bildern stenographische Kurzformen und abbildhafte Elemente. Die schablonenhaften Zeichen werden rhythmisiert, variiert und einem geometrischen System zugeordnet, das jeden räumlichen Bezug verneint. Die Gegenüberstellung von Symbolen und Maschinenteilen dient dazu, die Kluft zwischen Geist und Materie, die in der modernen Wirklichkeit herrscht, darzustellen. Vergleichbar sind damit Werke des Künstlers Fritz Schaefler, der sich ab 1919 intensiv mit Farbexperimenten und -theorien der Maler des Blauen Reiters, insbesondere August Mackes und Paul Klees, und mit dem Orphismus Robert Delaunays beschäftigte. Schaefler gehörte zu einer Reihe von Künstlern, die mit den Stilen und künstlerischen Strömungen ihrer Gegenwart experimentierten, diese kombinierten und sie gemäß ihrem eigenen Temperament anwandten.

Das Antlitz
So weit entfernt die Pole von Ordnung und Chaos sind, so gegensätzlich scheinen Konstruktivismus und Dada in ihren theoretischen Prinzipien zu sein. Wo die russischen Konstruktivsten mit Hilfe einer konstruierten, visuell-ästhetischen Realität, die nicht nur die Malerei, sondern auch die Plastik und Architektur einschloß, eine neue, veränderte gesellschaftliche Situation herbeiführen wollten, versuchte Dada, die bürgerliche Kultur zu demaskieren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Während die einen eine "neue Wirklichkeit" konstruieren wollten, die objektiven Gesetzmäßigkeiten folgte, wollten die anderen durch Provokation und Skandal die bestehende Wirklichkeit aufbrechen. Dem Konstruktivismus mit seiner Utopie einer neuen Zeit, einer von dem Menschen gestalteten, besseren Zukunft, stand der destruktive Nihilismus der Dadaisten gegenüber. Obwohl die Werke der Konstruktivisten und Dadaisten im ersten Augenschein äußerst gegensätzlich wirken, ergänzen sie sich in einigen Punkten, was den Künstlern trotz aller, auch ideologischen Gegensätze bewußt war; man denke an den Internationalen Kongreß der Konstruktivisten und Dadaisten in Weimar 1923. Man denke auch an das Gesamtwerk von Kurt Schwitters, in dem sich sowohl konstruktive, als auch dadaistische Gestaltungsweisen finden lassen, aber auch an Hans Arp, der bei den tumultartigen Aufführungen im Cabaret Voltaire in Zürich elementare geometrische Kompositionen präsentierte, die der geistigen Haltung Mondrians entsprachen. Ebenso findet man im Werk von Sophie Taeuber-Arp und auch im Werk von Hannah Höch konstruktivistische und dadaistische Ansätze vereint. Im Umkreis von New York Dada leiteten Bilder von Marcel Duchamp wie die Schokoladen Reibe und die absurden Konstruktionszeichnungen von Francis Picabia eine "Kunst der Maschine" ein, die in den Bereich des russischen Konstruktivismus weisen, den Vladimir Tatlin und Alexander Rodtschenko entwickelt hatten.

Francis Picabia war bereits 1909 mit dem Bild Caoutchouc zu einer eigenen Form der Abstraktion vorgestoßen. Er verzichtete augenscheinlich auf jeden Wirklichkeitsbezug, wobei – wie ein Vergleich mit dem gleichzeitig entstandenen Stilleben mit Krug und Paprika zeigt – dieses Bild als Einzelwerk zu werten ist. Francis Picabia, dessen stilistischer Eklektizismus heute besondere Aufmerksamkeit genießt, spielte in seinem Schaffen mit den verschiedensten Möglichkeiten der Bilderproduktion. Um 1920 beschäftigten ihn im wesentlichen zwei Themenschwerpunkte: der Mensch und das Maschinelle. Seine "Menschenbilder", meist Collagen, kombinierte er aus geometrischen und vegetabilen Elementen, wobei in die Gesamtkomposition gelegentlich auch Wirklichkeitszitate eingefügt wurden. In dem Bild Der neue Mensch von 1924-28 ironisiert Picabia die Utopie eines "neuen Menschen" die in avantgardistischen Gesellschaftstheorien und den damit verbundenen Künstlerkreisen wie beispielsweise den Konstruktivisten gepflegt wurde. Dies zeigt sich in der Komposition, da Picabia aus abstrakten und geometrischen Formenkürzeln ein imaginäres Porträt konstruierte.

Im Gegensatz zu Francis Picabia arbeitete die Künstlerin Anastasia Achtyrko, die um 1920 in den Pariser Dadaisten-Kreisen verkehrte weniger mit formel- oder zeichenhaften Elementen, sondern mit geometrischen Flächen und mit klaren Begrenzungen. Ihre scherenschnitthaften Porträts von Tristan Tzara und Anna Achmatowa collagierte sie mit farbigen Papieren, wobei sie die einzelnen konstruktiven Formelemente spielerisch einsetzte und auf eine annähernde Ähnlichkeit zum Porträtierten achtete.

Im Umfeld der Rheinischen Progressiven entwickelten Künstler wie Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, Margarete Kubicka und Stanislaw Kubicki eine Form des Menschenbildes, die im Vergleich zu jenen von Dada und Konstruktivismus einen eigenen Weg darstellt.

Die Erlebnisse des Ersten Weltkrieges, die Erfahrungen der gescheiterten November-Revolution von 1918 und die Hoffnungen, die an die revolutionären Vorgänge in Rußland geknüpft wurden, waren für viele Künstler ein Anlaß, ihr künstlerisches Schaffen unter anderem auch in den Dienst einer sozialen und politischen Agitation zu stellen. Durch dieses Engagement versuchten u. a. die genannten Künstler aktiv – aber mit ihren eigenen Mittel, den Mitteln der Kunst – in das Zeitgeschehen einzugreifen. Dieser Anspruch verband diese Gruppe sowohl mit den Aktivisten des Arbeitsrates für Kunst (Berlin), als auch mit einigen Künstlern, die im Bauhaus tätig waren, als auch mit politisch argumentierenden Konstruktivisten wie Wassili Ermilow oder Alexander Rodtschenko.

Franz Wilhelm Seiwert und Heinrich Hoerle bildeten den Kristallisationspunkt der Gruppe der Rheinischen Progressiven. Sie hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg kennengelernt, als sie unter anderem für kommunistische Organisationen und linksgerichtete Zeitschriften wie Die Aktion, Der Strom oder Der Ventilator Aufsätze und Graphiken produzierten.

In den Werken Seiwerts und Hoerles verbinden sich streng geometrisierende, konstruktive Elemente mit figurativen Zeichen. Seiwert charakterisierte 1934 die von beiden Künstlern entwickelten Gestaltungsformen eines "figurativen Konstruktivismus" folgendermaßen: "Ich versuche mit dieser Bildform eine von allem Sentimentalen und Zufälligen entkleidete Wirklichkeit darzustellen, ihre Funktion, ihre Gesetzlichkeit, ihre Beziehungen und Spannungen innerhalb des Bildrahmens und seiner Gesetzmäßigkeit sichtbar werden zu lassen." Im Gegensatz zu den pathetischen Formausbrüchen der Expressionisten gestalteten Seiwert und Hoerle ihre Gemälde sachlicher, sie entwickelten allgemeinverständliche formelhafte Embleme und Zeichen, die einerseits eine herrschaftsfreie Kollektivität, aber auch eine kollektive Anonymität symbolisieren konnten und andererseits eine unmittelbare Rezeption ermöglichen sollten.

Neben den klassischen Motiven aus dem Bereich der modernen Industrie- und Arbeitswelt wie Fabrik, Schornstein, Treibrad und -riemen, Schiff und Lokomotive wurde die menschliche Figur als Zentrum der (Arbeits)Welt behandelt. In den Gemälden wird das Symbolhafte und der asketische Verzicht auf Individualisierung deutlich. Der menschliche Körper wird auf seine geometrischen Grundformen und Umrisse reduziert. Der Kopf wird ohne individuelle Gesichtszüge, manchmal nur als ovale Fläche dargestellt. Die Reduktion der menschlichen Figur auf ein Flächenmuster sollte nicht nur den Individualitätsbegriff des Bürgertums kritisieren, sondern auch die Entfremdung des Menschen innerhalb der Massengesellschaft formelhaft aufzeigen, denn "die Umbildung der Form ist genauso wichtig wie die Umbildung des Inhalts" (Seiwert, 1929). Ähnliches findet sich auch in anderen künstlerischen Bereichen, man denke beispielsweise an Fritz Langs Film Metropolis von 1926/27.

Margarete Kubicka und Stanislaw Kubicki, die ebenfalls im Kreis der RheinischenProgressiven verkehrten, verbanden mit ihren Darstellungen kaum politische, verallgemeinbare Inhalte. Trotzdem wird auch in ihren Werken, in denen sie ausgehend von einer expressiven Bildsprache, die die dynamische Gliederung des Futurismus mit einer kubistischen Flächenzerlegung zu kristallinen Formen verbanden, eine ähnliche Ablehnung der bürgerlichen Welt, ihrer Institutionen und Strukturen, Traditionen und Werte sichtbar.

Albert Gleizes, der 1912 zusammen mit dem Künstler Jean Metzinger das Buch Du Cubisme, das erste kunsttheoretische Werk über den Kubismus, das auch später in überarbeiteter Form in der Reihe der Neuen Bauhausbücher erschien, veröffentlicht hatte, entwickelte in den Jahren nach 1912 einen eigenen abstrakt-geometrischen Kompositionsstil. Innerhalb der Ausstellunsgemeinschaft Section d´Or (Der Goldene Schnitt) deren Name schon Programm war, vertrat er eine Position, die versuchte die Verwendung idealer Maße und reiner Farben an idealistische Gehalte zu binden. Besonders ab 1928 nutzte der Künstler die modernsten Gestaltungsmittel, um tradierte Themen und Motive einer religiösen Heilsgeschichte zu aktualisieren. In dieser Kombination von christlicher Ikonographie und ungegenständlichem Formenvokabular, folgte Gleizes einem spezifisch französischen Idealismus, der um 1896 von Künstlern wie Maurice Denis und Sâr Péladan in theoretischen Schriften, die die Darstellung des Religiösen mit modernsten Mitteln forderten, angelegt war.

Rudolf Belling dessen Ruf als Pionier der abstrakten Skulptur im wesentlichen auf die Plastik Dreiklang, 1918/19 gründet, die – parellel zu Kandinskys malerischen Improvisationen – als eine der Inkunabeln der nichtfigurativen Skulptur gilt, beschäftigte sich eingehend mit dem Raumproblem in der Skulptur. Belling bezog als einer der ersten Bildhauer den Hohlraum als Gestaltungselement in seine Formfindungen mit ein: "Darum verarbeite ich die Luft ebenso wie festes Material und erreiche, daß der Durchbruch, früher "tote Form" genannt, denselben Formwert darstellt wie seine Eingrenzung, das bearbeitete Material" schrieb er 1920 an den Kunsthändler Alfred Flechtheim. 1919/20 hatte Belling mit der Ausgestaltung des Scala-Tanz-Casinos in Berlin als einer der ersten Künstler der Avantgarde einen Innenraum vollständig als plastisches Kunstwerk behandelt. Ähnliches leisteten Schwitters in seinem Merzbau und Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp und Theo van Doesburg 1926/27 in der Ausgestaltung des Cafés Aubette in Straßburg.

Den Luftraum als Wirkungselement einer Skulptur findet man auch in der Porträtbüste Bildnis des Kunsthändlers Alfred Flechtheim von 1927, in der der Künstler das Gesicht des Dargestellten auf seine wesentlichen Züge reduzierte. Eine Formenreduktion und -vereinfachung ganz anderer Art findet sich in der Skulptur 23 von 1923, die neben Werken Archipenkos, Lipschitz´ und Gabos zu den dichtesten Formulierungen einer neuen plastischen Sprache, die sich auf das Menschenbildnis bezieht, gehört. Die Fülle der formalen Neuerungen in dieser Skulptur faßt J. A. Schmoll gen. Eisenwerth 1967 zusammen: "Weit vorauseilend sind vor allem Bellings raumplastischen Verwirklichungen und seine Experimente mit ganz neuen Materialien. Lange vor Henry Moore schuf er die raumartige plastische Struktur, lange vor Julio Gonzales und Gargallo luftige Metallgebilde aus durchbrochenem Blech und Gestänge, lange vor Calder nahm er den Draht als Ausdrucksträger, und etwa gleichzeitig mit Brancusi begeisterte er sich für die glatte polierte Messingform, die spätere Generationen von Metallbildnern wiederaufnehmen sollten ..." Darüber hinaus visualisiert der roboterähnliche Kopf, darin dem Mechanisierten Kopf, 1928 von Arnold Auerbach und der berühmten Plastik von Raoul Hausmann Der Geist unserer Zeit vergleichbar, ein plastisches Gegenbild zum modernen Menschen, der sich in der urbanen und industrialisierten Welt allmählich den Maschinen angleicht.

Fernand Léger besetzte diese Verschmelzung von Mensch und Maschine positiv. In seinen optimistischen Gemälden kombinierte er Menschen mit Maschinen und versuchte das zukunftsweisende einer technisierten Welt darzustellen. Andere Künstler wie Robert Michel, Walter Dexel oder Johannes Molzahn thematisierten die Errungenschaften der modernen Technik in ihren Bildern, wobei sie als adäquates Mittel der Darstellung die konstruktiv-abstrakte Formensprache wählten.

Im Werk von Robert Michel ist seine Begeisterung für die Luftfahrt und das Interesse für jegliche Art von Maschinen und Technik Ausgangspunkt für seine Formfindungen. Das maschinelle Interesse verbindet ihn zwar mit Duchamp, doch führt sie bei ihm zu völlig anderen bildnerischen Transformationen. Bereits seine frühen Zeichnungen sind von Linienkonstruktionen, die sich diagonal über den Bildraum erstrecken beherrscht. Auf den ersten Blick erinnern sie, alleine schon durch die exakt mit Lineal, Winkel und Zirkel gezogen Linien, eher an Ingenieurzeichnung als an freie künstlerische Werke. Angeregt durch Kurt Schwitters begann Michel Anfang der 20er Jahre mit der Technik der Collage zu arbeiten. In die als Totalcollagen bezeichneten Bilder baute er konkrete Materialien ein, die dem Gesamten einen irrealen Wirklichkeitsgehalt verleihen. Michels Kompositionen, die hauptsächlich von großen rotierenden Zahnräder, die über eine komplizierte Mechanik miteinander verbunden sind, beherrscht werden, stehen nur bruchstückhaft und vereinzelt in Beziehung zur sichtbare Wirklichkeit. In erster Linie flächig, geben sie keinen dreidimensionalen Bezugsrahmen vor und lassen in der Formelhaftigkeit der zeichenhaften Elementen an die expressive Zeichensprache von Paul Klee denken.

Die Reinheit der Form
Als Amédée Ozenfant und Charles-Édouard Jeanneret (Le Corbusier) 1918 in ihrem puristischen Manifest Après le cubisme proklamierten: "Was wir wollen sind Werke, die statisch sind, allgemeingültig, Ausdruck des Unveränderlichen", stellte dies in erster Linie eine Kritik an dem, in ihren Augen, zu variantenreich gewordenen synthetischen Kubismus dar. Sie wollten diesen wieder zu seinen Ursprüngen zurückführen und strebten eine "funktionale" Malerei an, die auf geometrischen Ordnungen und rationalen Normen beruhen sollte. In gewisser Weise waren diese Vorstellungen von Klarheit und strenger Harmonie nicht weit entfernt von den Ideen der Neoplastizisten um Piet Mondrian, doch wo diese sich vehement gegen jede Andeutung an eine Gegenständlichkeit und gegen jede Erinnerung an eine Erscheinung der sichtbaren Wirklichkeit wandten, diente den Puristen der traditionelle Bildgegenstand weiterhin als Ausgangspunkt für eine an "reinen" Formen und Farben orientierte Bildgestaltung.

Ausgehend von diesen Elementen einer statischen, reduziert-gegenständlichen Formsprache entwickelten eine Reihe von Künstlern die Grundlagen der Puristen weiter, bis sie, wie beispielsweise Jean Gorin, die Gegenständlichkeit überwanden, um mit einer bildnerischen Gestaltung die nur noch aus den konkreten Elementen Farbe und Form besteht, wieder bei den Prinzipien des Neoplastizismus anzuknüpfen.

In den Werken von Le Corbusier und Willi Baumeister, deren Formsprache im wesentlichen von den funktionalen, abstrakten Formen der Architektur bestimmt ist, wird der Bildgegenstand, der wie die Flasche oder das Glas als industriell hergestelltes Massenprodukt als Träger optimaler ästhetischer Werte verstanden wurde, zu linearen Gefügen reduziert und stilisiert. Bei Marcelle Cahn werden die puristischen Gestaltungsgrundlagen noch weiter reduziert und führen zu einem ungegenständlichen Lineargefüge geometrischer Formen. Das Werk Komposition VII, 1925 von Jean Gorin zeigt im wesentlichen eine an den Forderungen der Puristen orientierte formale Bildkomposition. Der stereotype Bildgegenstand wird ähnlich der horizontal-vertikal aufgeteilte Bildebenen zerlegt und in Grund- und Aufriß dargestellt. Im Vergleich zu dem Werk Stilleben aus dem gleichen Jahr treten hier die vegetabilen Formen zugunsten einer strengeren Geometrisierung in den Hintergrund.

Von einem ganz anderen gestalterischen Ausgangspunkt kam Sophie Taeuber-Arp zu ähnlichen bildnerischen Ergebnissen wie die den Puristen nahestehenden Künstlern. Der Ursprung von Sophie Taeuber-Arps künstlerischer Tätigkeit findet sich nicht in der Malerei, sondern in der angewandten Kunst. Ausgehend von den ornamental-geometrisierenden Strukturen der Textilgestaltung fand sie 1916, etwa zeitgleich mit Mondrian und van Doesburg, jedoch ohne von deren revolutionären Erfindungen zu wissen, zu ungegenständlichen, rein geometrischen Flächenordnungen. Zu Beginn der 20er Jahre werden die mosaikartigen Strukturen von zeichenhaften Symbolen, die von der menschlichen Gestalt abgeleitet sind, abgelöst. Ab dieser Zeit liegen ihren Bildmotiven schematische Kompositionen zugrunde, die mit figürlichen Segmenten, die von der rechteckigen Form ausgehend, als "rhythmisches" Element mit dem "melodischen" Element der Farbe in eine harmonische Verbindung tritt.

Eine vergleichbare Reduzierung der Bildmotive auf flächige geometrische Elemente in Verbindung mit einem weitgehenden Verzicht auf räumliche Wirkung wird in den Werken von Thilo Maatsch und Lou Loeber deutlich. Hier wird das statische, formale Repertoire bei dekorativer Farbigkeit auf geometrische Grundformen wie Rechteck, Kreis, Raute reduziert.

veröffentlicht in: Die Neue Wirklichkeit. Abstraktion als Weltentwurf, Ausst. Kat. Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 1994

© 1994 Jan Winkelmann

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